Das gefährliche Leben von Journalisten in der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez

Kein Land für Journalisten

In Mexiko leben Journalisten gefährlich. Viele, die über den Krieg zwischen den Drogenkartellen, die Korruption oder die hohe Anzahl an Morden im Zusammenhang mit dem Drogenkrieg berichteten, wurden in den vergangenen Jahren entführt, gefoltert und ermordet. Auch Lokalpolitiker, die Journalisten unter Druck setzen, und Redaktionen, die mit Werbeaufträgen versorgt werden, wenn sie im staatlichen Interesse berichten, sind in Mexiko keine Seltenheit. Wer sich nicht fügt, kann vom Staat kaum Schutz erwarten.

Der Tote liegt mitten auf der Straße. Eine Holztür und ein weißes Tuch liegen auf der Leiche des Mannes, der am helllichten Tag auf offener Straße niedergeschossen wurde. »Ein Wagen bog in die Straße ein, Schüsse fielen, ein Motor heulte auf, und dann lag der Mann, ein Nachbar, auf dem Pflaster. Er ist Handwerker, wollte eine Tür zum Lackierer bringen, sagte die Nachbarin da vorn, die mit dem Kind auf dem Arm«, erzählt Erica Martínez ihrem Kollegen Ray Mundo Ruíz. Die beiden sind ein Team. Sie ist die Polizeireporterin, er der Fotograf. Beide arbeiten für die Redaktion der Tageszeitung Norte.
Ruíz hält fest, was es in der Calle Costa Calida zu sehen gibt. In der kleinen Stichstraße in Ciudad Juárez verhindert das gelbe Absperrband der Polizei, dass die Reporter von Norte und anderer Redaktionen sich der Leiche allzu sehr nähern. Doch das ist ohnehin kaum nötig. »Das klassische Bild in so einer Situation ist das Foto vom Leichenwagen neben einem der Polizei, oder einem Militär-Pickup«, sagt der Fotograf. Diese Bilder prägen die Straßen der mexikanischen Stadt an der Grenze zu den USA. Erst vor einer guten Stunde hat Ruíz so ein Bild gemacht. Da wurde das letzte von sechs Opfern eines Massakers im Süden der weitläufigen Grenzstadt ins Leichenhaus transportiert. Das ist Alltag in Ciudad Juárez, für die Reporter der Regionalzeitung gehört das zur Normalität.
Martínez und Ruíz werden oft bei ihrer Arbeit gefilmt, von der Polizei und den Ermittlungsbehörden. »Sie wollen feststellen, welche Journalisten am Tatort waren, heißt es, aber es kommt auch vor, dass Angehörige der Opfer mit der Kamera unterwegs sind, weil sie unter den Schaulustigen die Täter vermuten«, sagt Martínez.
Seit knapp drei Jahren arbeitet die junge Frau als Polizeireporterin im Team mit Ray. »Wie ein Ehepaar sind wir unterwegs, wir achten aufeinander und halten uns den Rücken frei«, erzählt Ruíz lachend. Mexikos Reporter leben gefährlich.
Nicht nur hier, im Norden des Landes, an der Grenze zu den USA, wo das Militär und die Polizei einander bekämpfen und wo der Krieg zwischen den Drogenkartellen tobt, sondern auch im ärmeren Süden des Landes. Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 14 Berichterstatter ermordet, berichtete die in Genf ansässige Nichtregierungsorganisation Press Emblem Campaign (PEC) Ende Dezember. Mexiko ist diesen Zahlen zufolge derzeit neben Pakistan das gefährlichste Land für Journalisten.
Zwischen Ciudad Juárez im Norden und Tapachula im äußersten Süden der Vereinigten Staaten von Mexiko herrsche eine »Kultur der Angst«, die der Zensur gleichkomme, meint der Präsident der Interamerikanischen Pressevereinigung, Alejandro Aguirre. Er forderte Mexikos Präsident Felipe Calderón wiederholt auf, mehr für den Schutz der Journalisten zu tun. Er solle dafür sorgen, dass Morde an Journalisten wie Armando »El Choco« Rodríguez auch aufgeklärt werden. Der Journalist der auflagenstärksten Tageszeitung von Ciudad Juárez war einer von zwölf Berichterstattern, die im Jahr 2008 ermordet wurden. Am Redaktionsgebäude von El Diario hängt ein Transparent mit einem Appell gegen die herrschende Straflosigkeit für Gewaltverbrechen. »Straflosigkeit ist zu einem prägenden Phänomen in Mexiko geworden, und die Morde an Journalisten sind da keine Ausnahme«, sagt Guadalupe Salcido, die Nachrichtenchefin von Norte. Sie ist froh, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bisher verschont blieben. »Zwar haben wir mit Rosi Pérez eine Kollegin, die bedroht wurde und heute woanders lebt, aber niemand ist brutal exekutiert worden wie Armando«, sagt die erfahrene Reporterin.
Rodríguez wurde an einer Ampel von einem Killerkommando abgepasst und vor den Augen seiner Tochter niedergeschossen. Niemand weiß genau warum, aber es ist wahrscheinlich, dass seine Recherchen über Korruption, Drogenschmuggel und die stark gestiegene Mordrate in Mexikos gefährlichster Stadt mit seiner Ermordung zu tun haben.

Das sind brisante Themen, »daran kann man sich in Mexiko die Finger verbrennen«, sagt Antonio Rebollado. Er hat zum Beispiel aufgedeckt, dass das lokale Gasversorgungsunternehmen von Ciudad Juárez das Doppelte des Weltmarktpreises kassiert – und das sei ein langfristig angelegter Vertrag, der von der lokalen Regierung abgesegnet wurde. Interessenpolitik par excellence, die eine lange Tradition in Mexiko hat. »Doch das Aufdecken derartiger Geschäfte zwischen politischer und ökonomischer Macht ist riskant, weil die Überbringer schlechter Nachrichten sehr unbeliebt sind«, sagt Rebollado lächelnd.
Auch das ist ein Grund, weshalb der Artikel nicht unter seinem eigenen Namen, sondern unter dem Redaktionskürzel erschien. »Um ihn zu schützen«, erklärt Salcido, die ihre Hand so gut es geht über ihre Redakteure hält. Spannungen mit der Pressestelle des Bürgermeisters oder den Medienverantwortlichen der Regionalregierung sind auf der Tagesordnung. »Die Medien werden gern als Instrument der Regierenden betrachtet, und Blätter oder Sender, die nicht spuren, werden nicht gerade mit Anzeigen überschüttet«, erzählt Salcido mit einem bitteren Lächeln.
Das läuft im relativ wohlhabenden Bundesstaat Chihuahua, in dem Ciudad Juárez liegt, nicht anders als in den deutlich ärmeren Bundesstaaten des Südens von Mexiko. Dort, in Chiapas, Guerrero oder Oaxaca, ist die Medienvielfalt längst nicht so ausgeprägt wie im Norden des Landes. So gibt es allein in Ciudad Juárez sechs Tageszeitungen, im gesamten Bundesstaat Chihuahua sind es rund sechzig.
Da kann Oaxaca, einer der ärmsten Bundesstaaten Mexikos, nicht mithalten. Doch die Strukturen seien die gleichen, sagt Pedro Matías Arrazola. Er ist Journalist, hat für die Regionalzeitung Noticias de Oaxaca geschrieben und arbeitet auch für das landesweit erscheinende regierungskritische Magazin Proceso. Folglich kennt er die Medienrealität en Detail. »Es gibt immer wieder staatliche Funktionäre, die genervt sind von der Kritik und von der Aufdeckung von Skandalen und Fehlern. Der Staat und seine Instanzen üben Gewalt aus, sie sind Teil des Problems«, erklärt der Journalist.
Im Oktober 2008 wurde Matías vor der eigenen Wohnung in Oaxaca de Juárez, so der Name der Hauptstadt des Bundesstaats, von zwei Männern entführt. Rund zehn Stunden hielten sie ihn fest, drohten ihm mit Vergewaltigung und Ermordung und schossen in die Luft, bevor sie den Reporter nur mit einer Unterhose bekleidet in einem Dorf einige Kilometer von der Stadt entfernt aus dem Auto warfen. Wer für die Entführung verantwortlich war, weiß Matías bis heute nicht. Sie hat aber vermutlich mit seiner Berichterstattung zu tun, denn Matías schrieb und schreibt über die politische Gewalt, über Morde, Verschwundene und willkürliche Verhaftungen. Nachdem er weitere Drohungen erhalten hatte, bekam er ein Stipendium der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte und kam im Juni 2009 nach Hamburg. Seit Juni 2010 arbeitet er wieder in Oaxaca.
Das Magazin Proceso, das in Mexikos Hauptstadt verlegt wird, funktioniert anders als die großen Verlagshäuser. »Ein Geheimnis des Erfolges ist, dass Proceso nicht auf staatliche Anzeigen angewiesen ist, weil es andere Kunden hat«, sagt Matías. Der Druck der Regierung sei so durchaus zu ertragen, doch Probleme gebe es auch, wie bei anderen alternativen und unabhängigen Medien. Dabei sind die Redakteure, die für die großen Redaktionen in der Hauptstadt arbeiten, deutlich weniger gefährdet als diejenigen, die in der Provinz arbeiten. Das erklärt auch, weshalb es immer wieder lokale Journalisten sind, die ermordet werden.

Ein Beispiel ist der 33jährige Evaristo Pacheco Solís, der am 12. März in Chilpancingo, der Hauptstadt des Bundessstaats Guerrero, tot aufgefunden wurde. Er war der vierte mexikanische Reporter, der im vergangenen Jahr ermordet wurde. Mehr für die Pressefreiheit zu tun, haben auch die UN-Menschenrechtsbeobachter von der Regierung gefordert. Zuletzt am 11. November, nachdem die Redaktion des El Sur de Guerrero von bewaffneten Männern angegriffen worden war.
Längst ist Mexiko für Journalisten gefährlich geworden. Das bestätigten auch die Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen und der Organisation Amerikanischer Staaten, Frank La Rue und Catarina Botero, die im August bei einem Besuch feststellten, Mexiko sei auf dem amerikanischen Kontinent das gefährlichste Land für Journalisten.
Das sei kein Zufall, meint Matías wie die Kollegen im hohen Norden des Landes. Internationale Aufmerksamkeit sei für Pedro Matías, der im Dezember den Johann-Philipp-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit verliehen bekam, deshalb sehr wichtig: »Je mehr Berichterstattung über die Arbeitsbedingungen der Kollegen in Mexiko, desto mehr Sicherheit.«
Dabei werden alternative Formate immer wichtiger. Matías arbeitet auch für ein unabhängiges kommunales Radio in Oaxaca. »Sin Muros« heißt der Sender, der Nachrichten für die Leute auf dem Land macht und Nachrichten von unten liefert. »Wir arbeiten professionell, checken unsere Informationen und können beispielsweise belegen, dass der ehemalige Medienkoordinator der Regierung eine eigene Zeitung besitzt, die regelmäßig aus dem Staatssäckel beachtliche Summen erhielt«, sagt Geovany Vásquez Segrero.
Der Anwalt ist Quereinsteiger im Mediensektor. Erst durch einen Klienten ist er zum Radio gekommen, und gemeinsam mit Ismael Rivera, einem professionellen Kollegen, und einer Hand voll engagierter Freunde, darunter Matías, hat er den unabhängigen Sender ins Netz gestellt. Dessen Nachrichten werden mittlerweile von acht kommunalen Radios wie »Radio Totopo« oder »Radio Calenda« heruntergeladen, übersetzt und ausgestrahlt.
Vor allem im Süden Mexikos sind kommunale Radios eine erfolgreiche Alternative zu den staatlichen Medien. Geovany Vásquez unterstützt solche Projekte. Als Anwalt, um Sendelizenzen für die Gemeinden zu erstreiten, und als Journalist, um Informationen in die oftmals abgelegenen Dörfer und Gemeinden Oaxacas zu bringen.
Ein Modell, das auch in anderen Bundesstaaten gut läuft. »Die alternativen Radios funktionieren wie Internetforen und Mailinglists«, sagt die Medienexpertin Sara Lovera, ehemalige Journalistin von La Jornada. Die umtriebige Frau lehrt als Dozentin an der Universität und arbeitet als Medienforscherin und Mitbetreiberin eines Internetradios. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie riskant der Job eines Reporters in den ländlichen Regionen ist. »Wer sich gegen die Kaziken stellt … «, sagt die in Mexiko-Stadt lebende Journalistin und schweigt dann vielsagend.

Schutz von staatlichen Stellen haben die Journalisten kaum zu erwarten, wie die niedrige Aufklärungsquote bei Journalistenmorden nur zu deutlich belegt. Straflosigkeit ist eher die Regel als die Ausnahme, und es gilt schon als Erfolg, wenn dann doch mal eine Verhaftung im Zusammenhang mit einem Journalistenmord zu melden ist. Zuletzt geschah dies Mitte September 2010, und es war der Präsident höchstpersönlich, der mitteilte, dass ein des Mordes an Armando Rodríguez Verdächtiger verhaftet worden sei. Ein kleiner Erfolg, zwei Jahre nach dem Mord an dem Reporter. Vollkommen ungeklärt ist hingegen die Ermordung von Luís Carlos Santiago. Der junge Fotograf vom El Diario wurde auf einem Parkplatz in Ciudad Juárez erschossen, Motiv und Täter sind bis heute unklar. Immerhin scheint die Regierung in Mexiko-Stadt die alltägliche an Journalisten verübte Gewalt nicht mehr widerspruchslos hinnehmen zu wollen. Präsident Felipe Calderón kündigte an, dass er sich dafür einsetzen werde, dass Angriffe auf Journalisten fortan von den Bundes- und nicht mehr von den regionalen Behörden verfolgt werden sollten. Zudem solle ein »Bundesprogramm« für besonders gefährdete Journalisten aufgelegt werden. Das seien positive Signale, die allerdings nicht gleich etwas an der Situation der Berichterstatter ändern dürften, mahnt Guadalupe Salcido. »Der Respekt für die Arbeit der Reporter ist längst verloren. Sowohl die Kartelle als auch die Regierung sehen die Medien doch oft nur als Erfüllungsgehilfen an. Das zu ändern, ist eine echte Herausforderung«, sagt die Redaktionsleiterin. Gerade hat sie die Dienstpläne für die kommende Woche geschrieben. Erica Martínez und Ray Mundo Ruíz sind wieder zusammen in einem Team.