Vorabdruck aus: »Abenteuer DDR. Kubanerinnen und Kubaner in der DDR«

Wie ein paar Mücken in der Milch

Wer vor 30 Jahren auf direktem Weg von der kubanischen Provinz an eine Drehbank im »Volkseigenen Betrieb (VEB) Industriewerke Karl-Marx-Stadt« verfrachtet wurde, hatte es nicht leicht. Doch der Alltag in der DDR war nicht nur von Gängelung, Überwachung, Plansollerfüllung und Rassismus gekennzeichnet. Vom Leben kubanischer Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter im sozialistischen Bruderland

Niederschmalkalden am 2. August 2009. Sprengmeister Uwe Jakob wartet noch einen Moment, bis der Zug die Brücke überquert und sich weit genug entfernt hat. Dann geht es los: »Drei, zwei, eins – jetzt!« – um 11:05 Uhr drückt er die Knöpfe der Zündung, wenige Sekunden später bricht das Gebäude mit einem ohrenbetäubenden Lärm in sich zusammen. Mehrere massive rötliche Mauern verschwinden hinter einer Staubwolke. 270 Kilogramm Industriesprengstoff beenden an diesem Sommertag ein Stück Dorfgeschichte. Die Anfang der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts im heutigen Ortsteil der Thüringer Gemeinde Wernshausen erbaute Kammgarnspinnerei wird dem Erdboden gleich gemacht, obwohl sie unter Denkmalschutz steht. Auch Proteste konnten die Sprengung nicht verhindern, dabei verbinden viele Menschen aus der Region ihr Leben mit diesem Gebäude. Tausend Personen arbeiteten zu den besten Zeiten an den Maschinen der Fabrik, in den Fünfzigern und Sechzigern galt das Werk sogar als Vorzeige­objekt der DDR-Industrie. Doch nach der Wende ging es bergab, die Garnproduktion konnte der internationalen Konkurrenz nicht standhalten. 2003 wurde die Spinnerei endgültig dicht gemacht.
Mercedes Portillo Carreras schaut einen Moment nachdenklich, als sie von der Zerstörung der Fabrik hört. Nun wird sie wohl nie mehr an diesen Ort zurückkommen können, in dieses Werk, das auch in ihrem Leben eine so wichtige Rolle gespielt hat. Auch sie verlor nach der so­genannten Wende im Jahr 1989 ihre Arbeit in dem Dorf zwischen Eisenach und Suhl. Allerdings lange bevor die deutschen Beschäftigten die Kündigung erhielten. »Als die Berliner Mauer fiel, mussten wir von einem Tag auf den anderen aufhören zu arbeiten«, erinnert sich die 42jährige Kubanerin. »Man erklärte uns nur, dass nun niemand mehr unseren Lohn zahle.«
Als Vertragsarbeiterin kam die dunkelhäutige Frau 1986 in die Gemeinde. Über drei Jahre war sie in der Kammgarnspinnerei beschäftigt, und wie ihre Kolleginnen und Kollegen aus Vietnam lebte sie in einem Wohnheim auf dem Werks­gelände. Zunächst mit drei bis vier Personen in einem Zimmer, nach Geschlechtern getrennt. »Später habe ich dann ein Einzelzimmer bekommen.« In den ersten Tagen nach der Grenzöffnung durfte sie das Gelände nicht verlassen. »Sie hatten Angst, dass uns etwas passiert.« Dann verweist Mercedes Carreras auf marodierende Neonazis: »Die waren gefährlich, weil sie Schwarze auf der Straße angriffen.«
Doch nach einer Woche hielt es die Kubanerin nicht mehr aus, sie zog einfach los. Zusammen mit einer Freundin und deren Freund reiste sie umher, lernte das Land kennen. »Wir waren auch im kapitalistischen Teil Deutschlands«, wirft sie ein und lacht. Die Grenze zum Westen lag gleich um die Ecke. »Zwei Monate lang sind wir unterwegs gewesen, ohne Geld und ohne Arbeit.« Doch dann war es vorbei mit den Entdeckungsreisen. Die kubanische Regierung holte die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter zurück. Innerhalb von wenigen Monaten erhielten praktisch alle ihre Kündigung: Nur 60 von etwa 8 300 Kubanerinnen und Kubanern konnten bleiben. Auch viele Vietnamesen, Mosambikaner sowie Menschen anderer Nationalitäten wurden gekündigt und von heute auf morgen nach Hause geschickt.
Doch auch wenn das Ende in Niederschmalkalden etwas abrupt kam, lässt die lebensfrohe Frau heute an einer Sache keinen Zweifel aufkommen: »Dank meiner Zeit in Deutschland bin ich so, wie ich bin. Dort verbrachte ich die schönsten Jahre meines Lebens.« Und dann ist sie nicht mehr zu stoppen. Mit Begeisterung ­redet sie etwa von der ersten Fahrt zum FKK-Strand, von den gefüllten Regalen der Supermärkte, vom Karneval und von den Feiern auf dem Fabrikgelände, damals, als die Kubanerinnen mit ihrer Tanzgruppe auftraten, in Kleidern in den Farben der kubanischen Nationalfahne: blau, weiß und rot. »Die Deutschen wollten immer so tanzen wie wir, aber ihr Körper ist einfach nicht dafür gemacht«, erinnert sich Mercedes Carreras und kichert, als sei das alles gerade erst passiert. »Was haben wir uns darüber amüsiert, wie sie sich bewegen.«
18 Jahre alt war die Kubanerin, als sie von Havanna nach Thüringen kam, und natürlich interessierte sie sich für die deutschen Männer wie diese für sie. Alles hätte so einfach sein können: 20 kubanische Frauen erobern Niederschmalkalden. »Aber ich war die einzige Jungfrau«, ­betont sie. Was weiter nicht schlimm gewesen wäre, hätte ihr strenger Vater nicht die mit ausreisende Gruppenleiterin vor der Abfahrt angewiesen: »Ich bin sowieso nicht einverstanden damit, dass meine Tochter nach Deutschland geht, nun müssen Sie mir garantieren, dass Mercedita nichts passiert.« Also bemühten sich schließlich alle Kubanerinnen, ihre Jungfrau vor der Sünde zu schützen. »Sie ließen mich kaum alleine atmen.« Und so verlief ihre erste Romanze tatsächlich ganz ohne Sex. Wenn sie bei ihrem Freund übernachtete, schliefen die beiden in verschiedenen Betten: »Nach vier Monaten wollte Reinhard dann nicht mehr warten, und wir haben uns getrennt.« Dabei war doch gerade per Brief die schriftliche Erlaubnis der Mutter aus Übersee gekommen, »aber bitte nur mit Kondomen!«
Doch ganz so einfach war es ohnehin nicht mit dem freizügigen Leben. Schließlich durften die Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter keine Deutschen mit ins Wohnheim bringen und mussten vor 24 Uhr zu Hause sein. »Nun gut«, räumt Mercedes Carreras ein und grinst. »Mit der Zeit hatten wir engere Beziehungen zum Aufsichtspersonal, und so konnten wir uns dann immer am nächsten Tag in die Anwesenheitsliste eintragen, wenn wir später kamen.« Vorsicht war natürlich trotzdem angebracht, denn wer schwanger wurde, musste sofort zurück nach Kuba. Auch kubanische Männer, die eine deutsche Frau schwängerten, setzte die kubanische Botschaft unmittelbar in die nächste Maschine nach Havanna. Vorausgesetzt, die Diplomaten erfuhren davon. Faktisch führte das dazu, dass viele Frauen heimlich abtreiben ließen oder die Geburt eines Kindes verheimlichten. »Eine meiner Freundinnen hat einmal legal und einmal heimlich die Schwangerschaft unterbrochen«, berichtet Mercedes Carreras.
»Das klingt unmenschlich, aber stellen Sie sich vor, was in den Wohnheimen los gewesen wäre, wenn wir das nicht so geregelt hätten«, entgegnet die ehemalige Funktionärin Maria de Pilar. Als Mitarbeiterin des Sekretariats für wirtschaftliche Zusammenarbeit in der kubanischen Botschaft in Ostberlin koordinierte sie die Entsendung von Arbeiterinnen und Arbeitern in die DDR. Die Behörden der DDR machten Druck und die Kubaner akzeptierten die Vorgabe ihrer Kollegen. »Schwanger zu sein, war einfach nicht mit dem Ziel der Entsendung vereinbar: arbeiten und lernen«, erklärt die heutige Rentnerin, deren Tonfall noch immer die politische Funktionärin in ihr erkennen lässt. Zu viel Annäherung war aber ohnehin nicht gewollt. Es ging nicht um langfristige Integration, die Verträge der Arbeiterinnen und Arbeiter waren ja auf vier Jahre begrenzt. Das hatte Konsequenzen, wie Maria de Pilar einräumt: »In der DDR blieben viele Kinder ohne Väter zurück.«
Bereits Mitte der siebziger Jahre gingen kubanische Arbeiterinnen und Arbeiter nach Ostdeutschland, um sich dort ausbilden zu lassen. Die DDR-Regierung hatte damals mehrere Industrieanlagen an das sozialistische Bruderland verkauft, unter anderem ein großes Zementwerk in Cienfuegos, das 1980 von Fidel Castro und Erich Honecker gemeinsam eingeweiht wurde und noch heute in Betrieb ist. Also brauchte man in Kuba Experten, die fähig waren, die exportierten Maschinen zu bedienen. Und so einigten sich die DDR und Kuba auf ein »Regierungsabkommen über die Qualifizierung bei gleichzeitiger Beschäftigung«, eine Vereinbarung, die bis 1989 geheimgehalten wurde. Vor allem junge und ledige Menschen zwischen 18 und 35 Jahren sollten kommen. »Es ging um einen Austausch, der beiden Seiten nutzen sollte«, beschreibt Maria de Pilar das Ziel. »Der DDR fehlten Arbeitskräfte, Kuba brauchte Fachkräfte in verschiedenen Technologien.« Zunächst reisten also beruflich vorgebildete Menschen in den Osten Deutschlands.
Doch schon bald stand die Verwertung der Arbeitskraft im Vordergrund. Später galt es, ähnlich wie im kapitalistischen Westen, Tätigkeiten zu übernehmen, die Deutsche nicht mehr zu verrichten bereit waren. Nur 20 Prozent der Angeheuerten waren Frauen, und viele arbeiteten in der Schwerindustrie, was die entsprechenden gesundheitlichen Folgen nach sich zog. Man habe damals zahlreiche junge Kubanerinnen und Kubaner aus Regionen gesucht, in denen es keine Arbeit gab, sagt Maria de Pilar. »Die waren natürlich weniger gebildet als Leute aus Havanna oder Matanzas.«
Wie viele Kubanerinnen und Kubaner insgesamt als Vertragsarbeiter in die DDR reisten, vermag sie nicht zu sagen. Von Anbeginn des Projekts im Jahr 1977 bis 1981 seien es ca. 10 000 gewesen. Für die Zeit zwischen 1980 und 1984 bringt der Politikwissenschaftler Nikolaus Werz die Zahl von etwa 6 000 pro Jahr ins Spiel, von 9 500 bis 12 500 jährlich sprechen Historiker für die Jahre 1985 bis 1987. Im Dezember 1989 waren 8 300 kubanische Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter im Land. Sie stellten damals nach den Vietnamesen (59 000) und den Mosambikanern (15 100) die drittgrößte Gruppe der angeheuerten Arbeitskräfte. Um sie zu koordinieren, sei es sehr wichtig gewesen, im Gastgeberland die nötigen Voraussetzungen zu schaffen und bereits vom Heimatland aus Leitungspersonal mit auf die Reise zu schicken, bekräftigt Maria de Pilar. Denn »die Erfahrung zeigte, dass du nicht 200 Kubaner entsenden kannst, ohne eine entsprechende Struktur zu haben«.
Als am 25. Dezember 1977 zwei Flugzeuge aus Havanna in Berlin landeten und die ersten beiden Großguppen von insgesamt 1 000 Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern nach Deutschland brachten, saß auch Josefina Noa in einer der Maschinen. Die 18jährige aus der im Südosten Kubas gelegenen Stadt Holguín hatte gerade ihren Schulabschluss hinter sich gebracht. »Sie suchten Leute, die nichts zu tun hatten, und ich wusste noch nicht, was ich in Zukunft machen wollte«, erinnert sich die dunkelhaarige kleine Frau. »Als wir Kuba verließen, wussten wir sehr wenig von dem, was wir hätten wissen müssen.« Von jener angeblich notwendigen guten Vorbereitung bekam sie nichts zu spüren. Im Gegenteil: »Wir erhielten nur einen zweimonatigen Sprachkurs, der dazu dienen sollte, dass wir uns in der Fabrik verständigen können. Wir lernten Wörter, die mit Messungen, Werkzeugen, Sicherheits- und Schutzmaßnahmen, Qualitätskontrollen und allem anderen zu tun hatten, das mit der Arbeit zusammenhing.« Auch Maria de Pilar räumt ein, dass die Vorbereitungen bei weitem nicht zufriedenstellend gewesen seien. Dennoch ging es los, vom Flughafen Berlin-Schönefeld direkt nach Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz), samt Gruppenleiter, Übersetzer und politischem Repräsentanten. »Wir waren die Testgruppe, gewissermaßen ein Experiment, um zu sehen, ob das alles überhaupt funktioniert«, erinnert sich Josefina Noa.
Noch wusste die junge Kubanerin nicht, was sie erwartete. In der sächsischen Stadt angekommen, wurden die 500 Frauen und Männer ihrer Gruppe auf verschiedene Fabriken verteilt. Josefina Noa verschlug es in die traditionsreichen Industriewerke, einen inzwischen privatisierten metallverarbeitenden Betrieb, der als »Wanderer-Werke« bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts existierte. Von Alltagswaren bis zu Rüstungs­gütern hatte das Werk schon so ziemlich alles hergestellt: Fahrräder, Motorräder, Autos, Flugzeuge, Rechen- und Schreibmaschinen. Im sozialistischen Deutschland konzentrierten sich die VEB Industriewerke Karl-Marx-Stadt zunächst auf die Produktion von Flugzeugmotoren, später baute man hydraulische Anlagen. Schweres Gerät also, mit dem die recht zierliche 18jährige es zu tun bekam. »In Kuba arbeiteten damals noch keine Frauen an Fräsmaschinen und Drehbänken.« Vom ersten Tag an stand Josefina Noa an den Apparaten, acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Mit fünf Kubanern und einer Kubanerin arbeitete sie in einer Brigade mit 30 Deutschen. Gab es mal Probleme, konnte sie immer den Chef der Gruppe fragen. Sie erinnert sich: »Es war eine verdammt anstrengende Arbeit, und wir mussten unser Plansoll ebenso erfüllen wie die Deutschen.« Und so sind es ­zunächst drei Worte, die ihr zu dieser Zeit in Deutschland einfallen: »Arbeit, Fabrik, Kälte.«
Auch Mercedes Carreras stand an einer großen Maschine. Doch ihre Augen leuchten geradezu, wenn sie von den Kämpfen mit dem Garn berichtet. »Zuerst arbeitete ich an einer sehr schlechten Maschine, da verhedderte sich ständig der Faden«, erinnert sie sich. Nach eineinhalb Jahren schaffte die Betriebsleitung dann eine andere an, und für die junge Frau begann eine neue Zeit: »Das war vielleicht ein Fortschritt. Das Garn blieb nie mehr hängen, und man musste nur noch auf Knöpfe drücken, die Spinnmaschine war so groß wie ein Haus.« Noch heute kann sie kaum ihren Stolz verbergen, wenn sie von ihren Leistungen berichtet. »Ich war die einzige Kubanerin, die an diesem großen Apparat stand, und habe sogar die Silberne Spindel für herausragende Arbeiten bekommen.« Regelmäßig habe sie ihr Plansoll übererfüllt. Dank der extra bezahlten Überstunden verdiente sie in Niederschmalkalden nicht schlecht – »500 bis 600 Mark Lohn plus Überstunden machte über 1 000 Mark im Monat«, sagt sie. Da die ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter keine langjährige Betriebszugehörigkeit vorweisen konnten, erhielten sie oft automatisch einen niedrigeren Lohn als ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen. Dennoch verdiente Mercedes Carre­ras genug Geld, um in der ostdeutschen Provinz gut zu leben. Zumal die Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter für den Aufenthalt im Wohnheim nichts bezahlen mussten.
Doch de facto blieb ihr zunächst nicht einmal die Hälfte ihres Einkommens. »60 Prozent des Gehalts wurden direkt nach Kuba geschickt«, berichtet Mercedes Carreras. Nach ihrer Rückkehr konnte sie das Geld dort in kubanischen Pesos von einem Bankkonto abheben. So konnte sich der kubanische Staat Devisen sichern, und zugleich hatten die Heimkehrer fürs Erste ausgesorgt. Als Josefina Noa in die DDR kam, waren diese vorübergehenden Lohnkürzungen noch nicht vorgesehen. Die Kubanerin erinnert sich daran, wie sie damals davon erfuhr. »Die kubanischen Behörden fanden wohl, dass wir zu viel verdienen, es war ja auch mehr als zuhause.« Viele seien ausgegangen, hätten mit den Deutschen getrunken, und wohl deshalb habe die Botschaft beschlossen, einen Teil des Lohns lieber nach Kuba zu schicken. Die vietnamesischen Kollegen mussten dagegen nur auf 15 Prozent, die Algerier auf 40 Prozent ihres Gehalts verzichten. Außerdem habe man Kleidung und Essen kaufen müssen, und in Kuba konnte man mit dem Geld einfach weniger anfangen, da das Warenangebot gering war, kritisiert Josefina Noa. »Einige von uns waren darüber nicht sehr glücklich, sie wollten das Geld ja in Deutsch­land ausgeben.« Die Konsequenz kann man sich denken: »Manche haben dann einfach weniger effektiv gearbeitet.«
Josefina Noa selbst konnte mit der Regelung gut leben. Sie ist eine bescheidene Frau, sie trinkt nicht und geht auch nicht gerne auf Feste. Und die Wochenenden brauchte sie, um sich zu erholen. Außerhalb des Betriebsgeländes begann für sie ohnehin eine andere Welt, die ihr noch fremder war. Die harte Arbeit raubte ihr die Energie und die Zeit, um richtig Deutsch zu lernen. Folglich war es für sie schwierig, in Karl-Marx-Stadt in Kontakt mit Einheimischen zu kommen. »Viel Freizeit verbrachten wir einfach im Wohnheim, da waren wir unter uns.« Klar, wer eine deutsche Freundin oder einen deutschen Freund hatte, lernte die Sprache viel besser und schloss natürlich auch einfacher Bekanntschaften. »Aber das waren wenige.« Sie habe mit Deutschen vor allem während der Arbeit zu tun gehabt. Außerdem hätte das Aufsichtspersonal ein Auge auf sie geworfen: »Wir mussten sie immer informieren, sie hatten immer die Kontrolle über uns.«
Zweifellos wollten die kubanische Botschaft und die deutschen Behörden den Überblick nicht verlieren. »Für die DDR galten die fremden Arbeiter als Sicherheitsrisiko«, schreiben die Wissenschaftler Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck und zitieren aus einer Richtlinie für die Unterbringung »ausländischer Werktätiger« vom 8. Februar 1982: »Die Gemeinschaftsunterkünfte sind so abzugrenzen, dass Ordnung und Sicherheit gewährleistet sind. Der Betrieb hat die durchgehende Einlasskontrolle zu sichern.« Natürlich sei es notwendig gewesen, immer einen Blick auf die Arbeiterinnen und Arbeiter zu haben, bestätigt auch die ehemalige Botschaftsangehörige Maria de Pilar. »Es gab Probleme mit der Disziplin. Manche nahmen an den Schulungen nicht teil, andere lernten die Sprache nicht, und immer wieder kam es zu Zwischenfällen in den Gaststätten.«
Auch Josefina Noa erinnert sich an Erzählungen vor allem ihrer männlichen Kollegen, von Problemen in der Kneipe und Streitigkeiten auf der Straße. Wer bei solchen Auseinandersetzungen die Schuld hatte, ob eine rassistische Aggression oder Neid auf die ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter der Hintergrund war, spielte meist keine Rolle. Wer Ärger machte, wurde in die karibische Heimat zurückgeschickt. Und das waren nicht wenige, räumt auch Maria de Pilar ein. Das entsprechende stereotype Bild zeichneten die DDR-Behörden vor. Der Politikwissenschaftler Werz verweist beispielsweise auf als »streng vertraulich« eingestuftes Informationsmaterial über »national bedingte Besonderheiten im Verhalten kubanischer Werktätiger«. Demnach sei allgemein bekannt, dass »Südländer wesentlich temperamentvoller sind als Bewohner nördlicherer Gebiete«. Diese an sich keinesfalls negative Eigenschaft könne bei einem Ausbleiben von Argumenten zu handgreiflichen Auseinandersetzungen führen, zitiert Werz.
Auch in den Betrieben waren nicht alle Kubanerinnen und Kubaner so zufrieden wie Mercedes Carreras. So legten nach Angaben des Historikers Damiam Mac Con Uladh 1987 in einem Leipziger Betrieb 54 kubanische Kollegen die Arbeit nieder, weil sie mit ihren ersten Lohntüten unzufrieden waren. In der Folge wurden zwei von ihnen abgeschoben. »Die kubanischen Werktätigen sind das Leben eines Industriearbeiters nicht gewöhnt«, zitiert der Londoner Wissenschaftler aus einem Bericht der Deutschen Volkspolizei aus dem Jahr 1979. Weiter heißt es in dem Schreiben: »Daraus erwachsen Probleme in Bezug auf Arbeitsdisziplin, Lernhaltung und Verhalten in der Freizeit. Das äußert sich u.a. in Unpünktlichkeit, Verlassen des Arbeitsplatzes während der Arbeitszeit, Nichteinhaltung des Rauchverbots in den Betrieben und Unaufmerksamkeit im Unterricht.« Dabei hätten die DDR-Bürger vor allem in den Arbeitskollektiven »mit vorbildlichen, militärisch disziplinierten kubanischen Werktätigen gerechnet«.
Dieser deutschen Wunschvorstellung eines Helden der Arbeit aus Übersee konnte auch Eduardo López nicht entsprechen. Am Anfang habe er alle Mühe gehabt, dem Takt in der Fahrzeugproduktion hinterherzukommen, erzählt der 55jährige Kubaner. »Da kam Auto für Auto, und wenn ich einmal nicht aufgepasst habe, war der Wagen schon wieder weg«, erinnert er sich an seine Zeit im VEB Automobilwerk Eisenach. »Beeil dich, vorne, hinten, los!« hatten ihm seine deutschen Kollegen immer zugerufen. Mit der Zeit lernte er, wie man im Rhythmus des Bandes die Windschutzscheiben einbaute, die Bohrmaschine ansetzte, den Tank schweißte oder die Bremsen und die Kupplung befestigte. »Wir produzierten Wartburgs für die ganze Welt.« Aber eines wird er nicht vergessen: »Die Deutschen haben schon ihre eigene Art zu arbeiten, die Vietnamesen und wir dagegen hatten eine andere.« Dennoch blickt der Kubaner zufrieden auf seine Zeit im Automobilwerk Eisenach zurück. Schließlich habe er dort gelernt, wie man schnell gute Qualität produziere.
Von 1983 bis 1987 lebte Eduardo López in der Thüringer Industriestadt, und trotz des etwas anstrengenden Einstiegs wird er wehmütig, wenn er heute von dieser Zeit erzählt. Tränen treten ihm bisweilen in die Augen, und immer wieder betont er: »Ich bin zwar in Kuba geboren und aufgewachsen, aber Deutschland ist einfach meine zweite Heimat.« Dann erzählt er von seinen Begegnungen mit alten Deutschen, die gegen den Faschismus gekämpft hatten, vom beeindruckenden Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald. Plötzlich hält er inne. Da war noch so etwas ganz Seltsames, etwas Unangenehmes, das er bis heute nicht verstanden hat. Mit gedämpfter Stimme spricht er dann davon, wie immer wieder Kollegen, die ihn im Betrieb herzlich grüßten, auf der Straße so taten, als würden sie ihn nicht kennen. »Ich sagte immer freundlich ›Guten Tag‹, aber sie schauten mich nicht einmal an.« Ob er eine Erklärung dafür habe? »Nein, die einen waren eben so und andere nicht.«
Rassismus? Nein, direkte Angriffe habe sie nie erlebt, sagt Josefina Noa. In der Fabrik sei sie immer sehr gut mit den Kolleginnen und Kollegen ausgekommen. Aber die Blicke auf der Straße waren auch ihr nicht entgangen, vor allem, wenn dunkelhäutige Kubaner mit dabei gewesen seien. »Manche äußerten sich abfällig, wenn wir draußen waren.« Sie habe die Leute nicht verstanden, aber die Gesten seien unangenehm gewesen. »Wir kamen ja mit 500 Leuten, und daran waren die Menschen in Karl-Marx-Stadt nicht gewöhnt«, versucht sie sich diese seltsamen Momente zu erklären. Mercedes Carreras muss kichern, wenn sie daran denkt, wie ihre Freunde in Niederschmalkalden das Fremde wahrgenommen haben. »Sie haben mich immer ›Schokolade‹ genannt und meine Haut angefasst.« Als erniedrigend habe sie das aber nie empfunden, eher als lustig, erinnert sich die dunkelhäutige Kubanerin und muss noch einmal lachen: »Wir haben uns gefühlt wie ein paar Mücken in der Milch.« Wie Josefina Noa und Eduardo López hatte sie zwar von körperlichen Aggressionen gehört, etwa von Schlägereien mit Deutschen in Discotheken, aber sie selbst wurde zum Glück nie zum Opfer solcher Angriffe.
Doch weder die Gefahr rassistischer Übergriffe, die Bedingungen der Arbeit und die Disziplin noch die Kontrolle, die im Wohnheim ausgeübt wurde, können die Drei heute von ihrem Urteil abbringen: Ihr Aufenthalt in Deutschland war für die Kubanerinnen und den Kubaner eine sehr wichtige und lehrreiche Zeit, die sie nicht missen wollen. »Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Ausländer nackten und versteckten Rassismen in der DDR ausgesetzt waren«, resümiert auch der Historiker Damian Mac Con Uladh, »ihr subjektiver Alltag war jedoch nicht nur durch diese Tatsache geprägt.« Trotz Heimordnung, Heimwächtern, betrieblichen Kontrollen und Überwachung durch die Deutsche Volkspolizei und die Staatssicherheit seien sie in der Lage gewesen, »dem verregelten Alltag« zu entkommen. Davon zeugen Eduardo López’ Kneipen­abende mit kubanischem Rum und deutschem Bier ebenso wie die durchtanzten Nächte von Mercedes Carreras.
Die jungen Männer und Frauen aus Kuba genossen Freiräume, die sie angesichts der wirtschaftlichen Knappheit in ihrer Heimat nicht kannten. Wie auch viele Migrantinnen und Migranten heute kamen sie aus einem Land der sogenannten Dritten Welt in einen verhältnismäßig reichen Staat. Noch heute ist Mercedes Carreras glücklich über all die Waren, die sie aus der DDR mit nach Hause brachte: die Küchen- und Wohnzimmereinrichtung, den Kühlschrank, die Waschmaschine und nicht zuletzt »die MZ«, das Motorrad. »Ja, der Wohlstand war sehr ungewöhnlich für uns«, ergänzt Josefina Noa. »Da wir zuvor in kein anderes Land gereist waren, konnten wir das nicht generell einschätzen. Aber wenn die Deutschen mal wieder unzufrieden waren, verglichen wir ihre Situation immer mit der in Kuba und mussten sagen: Es ging ihnen verdammt gut.«

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Wolf-Dieter Vogel/Verona Wunderlich (Hrsg.): Abenteuer DDR. Kubanerinnen und Kubaner in der DDR. Dietz-Verlag, Berlin 2011. 184 Seiten, 17,40 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.