Hamed Abdel-Samad erklärt im Gespräch aus Kairo, warum man keine Angst vor einem demokratischen Ägypten haben soll

»Ägypten ist nicht Gaza«

Von Ivo Bozic

Der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad (39) ist in Ägypten aufgewachsen und war Mitglied der Muslimbruderschaft. Seit 1995 lebt er in Deutsch­land. Bekannt wurde er mit den Büchern »Mein Abschied vom Himmel: Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland« und »Der Untergang der islamischen Welt: Eine Prognose«. Bei der Fernsehserie »Entweder Broder« begleitete er Henryk Broder durch die Niederungen des deutschen Alltags. Derzeit befindet er sich in Kairo und beteiligt sich rege an den Demonstrationen. Das Interview wurde am Montag per Telefon geführt.

Wie geht es Ihnen?
Ich bin begeistert von den jungen Ägyptern, die auf die Straße gehen und nach Freiheit rufen. Ich bin auch begeistert, dass sie keine islamistischen Parolen bei den Demonstrationen zulassen. Ich bin aber auch traurig, dass das Land langsam im Chaos versinkt, weil Präsident Mubarak an seinem Stuhl klebt und nicht begreifen will, dass er und sein Regime den Zenit überschritten haben.
Wie ist die aktuelle Lage?
Ich bin jeden Tag auf den Demonstrationen rund um den zentralen Tahrir-Platz. Die Polizei, die sich plötzlich scheinbar in Luft aufgelöst hatte, hat auf einmal gezielt die Gefängnisse geöffnet und Schwerverbrecher auf die Straße gelassen und Banden grünes Licht gegeben, die Bevölkerung zu terrorisieren und ihre Häuser zu plündern, damit die Menschen Angst bekommen und zu Hause bleiben. Das hat aber nur teilweise geklappt. Die jungen Ägypter organisieren sich neu, sie schützen selber Einrichtungen, regeln den Verkehr selbst und kehren sogar die Straße. Das lässt mich auf eine neue Zivilgesellschaft hoffen.
Wie haben Sie sich auf die Demonstrationen vorbereitet?
Wie jeder andere auch: Eine Flasche Essig, eine Flasche Coca Cola und eine Zwiebel. Das hilft ein wenig gegen das Tränengas. Wir haben diese Tipps von den tunesischen Demonstranten via Facebook bekommen. Ich war eine Stunde lang eingekesselt zwischen zwei Polizeieinheiten, die uns hagelweise mit Gummigeschossen und Tränengas beschossen. Gott sei Dank habe ich nur einen kleinen Schlag auf die Hand bekommen, mein Finger ist gebrochen, aber das ist nichts, verglichen mit dem, was anderen Menschen zugestoßen ist. Es hat ja viele Todesfälle gegeben.
Welche Rolle spielt das Vorbild Tunesien?
Die Aufstände in Ägypten wurden schon vor den Unruhen in Tunesien angekündigt. Am 25. Januar, dem »Tag der Polizei«, wollten die Menschen gegen die Ermordung eines Jugendlichen in einer Polizeistation in Alexandria im vorigen Jahr demonstrieren. Aber natürlich haben die Proteste durch Tunesien Schwung erhalten, die dortigen Ereignisse haben den Menschen Hoffnungen gemacht, dass sie mehr erwarten können als nur eine Reform der Sicherheitskräfte. Und so gingen sie auf die Straße, um das Regime zu stürzen.
Ihr Vater ist ein konservativer Imam auf dem Lande. Was hält er von den Ereignissen?
Wie alle Eltern raten mir mein Vater und meine Mutter natürlich, mich von den Demonstrationen fernzuhalten. Aber das ganze Land ist in Aufbruchstimmung. Gestern sah ich zum ersten Mal auf Demonstrationen Gelehrte der islamischen Universität al-Azhar, die sehr konservativ und im Unterschied zu der Muslimbruderschaft eigentlich nicht unbedingt politisch sind. Die al-Azhar ist eine staatliche Einrichtung und hat bisher immer die Regierung unterstützt. Es gibt auch viele Künstler und Schriftsteller, die man bisher dem Regime zugerechnet hätte, die jetzt auf der Seite der Bevölkerung demonstrieren. Die Mischung auf den Demonstrationen ist das Wichtigste, es gibt Reiche und Arme, Gebildete und Ungebildete, Junge und Alte. Eine ältere Dame hat gerufen: »Habt keine Angst, Jungs, es gibt nicht genug Gefängnisse in Ägypten für all diese Massen!«
Die Muslimbruderschaft hält sich bisher zurück. Sie kennen die Organisation von innen. Wie schätzen Sie deren Strategie ein?
Die Muslimbruderschaft wurde in den vergangenen Jahren in Ägypten geschwächt. 2005 war sie sehr stark und konnte viele Sitze im Parlament erobern. Aber die Bevölkerung hat gemerkt, dass sie nur Slogans bietet, aber keine Konzepte. Die Muslimbruderschaft hat selber zugegeben, mit diesen Demonstrationen nichts zu tun zu haben. Sie haben es nicht geschafft, die Menschen zu mobilisieren, es war die Facebook-Jugend, die es geschafft hat. Die Muslimbrüder laufen mit, aber die Massen wollen ihre islamistischen Parolen nicht hören. Hier geht es um eine Demokratie, um eine neue Zivilgesellschaft und das Ende des Mubarak-Regimes. Die Leute wollen nicht vom Regen in die Traufe kommen.
Wenn jetzt die Muslimbruderschaft Mohammed al-Baradei als Vermittler vorschlägt, sollte uns das hinsichtlich der Rolle al-Baradeis beunruhigen oder hinsichtlich der Muslimbrüder beruhigen?
Das Zweite. Al-Baradei hat zwar seine Anhängerschaft, aber er ist nicht die Integrationsfigur, die er einmal war. Er hat diese Karte verspielt, weil er am 25. Januar, als die Demonstrationen hier losgegangen sind, die Menschen im Stich gelassen hat. Statt auf der Straße zu sein, war er irgendwo im Ausland, um sich einen Ehrendoktortitel abzuholen. Das hat man ihm nachgetragen, er gilt als Luxus-Oppositioneller. Vor der Muslimbruderschaft muss man in einem demokratischen Ägypten keine Angst haben. Ägypten ist nicht Gaza, nicht Afghanistan und auch nicht der Iran. Hier entsteht eine neue Zivilgesellschaft.
Aber glauben Sie ernsthaft, wenn es zu freien Wahlen käme, könnte man eine Koalitionsregierung ohne die Muslimbrüder bilden?
Die Muslimbruderschaft hat eine Zustimmung von vielleicht 15 Prozent. Sie haben nur ein Motto: »Islam ist die Lösung«, doch damit kommt man nicht mehr weiter, das reicht den Menschen nicht. Sie wollen wirtschaftliche Konzepte und fähige Politiker, das alles kann die Muslimbruderschaft nicht bieten. Die sind auch intern sehr zerstritten. Außerdem haben wir jetzt neue Organisationen, die die Hoffnung dieser Facebook-Generation sind. Die Mehrheit der Ägypter ist jünger als 30 Jahre.
Inwiefern sehen Sie Ihre Thesen vom »Untergang der islamischen Welt« bestätigt?
Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Aber vor dem Umbruch kommt ein Bruch in der islamisch-arabischen Welt. Die Basis der Politik und der Wirtschaft, die gesellschaftliche Basis, hat sich schon lange überlebt. Jetzt wächst eine neue Generation heran, die anders leben will. Ich hoffe sehr, der Dominoeffekt wird nicht bei Ägypten haltmachen. Möglicherweise geht es im Jemen weiter, ich glaube auch in Syrien, weil die Diktatur dort extrem wackelig ist und gnadenlos in ihrer Unterdrückung der Bevölkerung, und auch dort wächst eine Generation heran. Ägypten wird eine noch größere Signalwirkung haben als Tunesien.
Sie sprechen von der »Facebook-Generation«, aber wie viele Ägypter haben überhaupt Zugang zum Internet?
Nur 21 Prozent, aber 21 Prozent sind nicht wenig. Denn es sind aktive Leute. Man hat gedacht, die spielen nur, aber das stimmte nicht. Die ganzen Proteste wurden via Facebook organisiert.
In Israel macht man sich Sorgen, was die Zeit nach Mubarak bringen mag, offenbar hat die israelische Regierung sogar westliche Partner aufgefordert, Mubarak zu unterstützen. Können Sie dafür Verständnis aufbringen?
Nein. Israel muss begreifen, dass man keine Angst vor einem demokratischen Ägypten haben muss. Wer Frieden in der Region will, muss auf der Seite der ägyptischen Bevölkerung stehen. Gegen sein Volk kann Mubarak keinen Frieden mehr durchsetzen. Ein Frieden könnte mit demokratischen Kräften noch stärker gefestigt werden, wenn er besser vermittelt wird. Mubaraks Trick war: Er war immer freundlich zu den Amerikanern und den Israelis, aber nach innen hat er, etwa in den Schulbüchern, Hass gegen Israel geschürt, um Sündenböcke für die Misere im Nahen Osten zu suchen. Eine demokratische Regierung wird das nicht nötig haben, sondern sich mit den Problemen des eigenen Landes beschäftigen. Ich appelliere an alle westlichen Staaten, auch an die Israelis: Unterstützt die ägyptische Bevölkerung und habt keine Angst! Die Ägypter haben Demokratie verdient und können sie auch verteidigen.