Rosa von Praunheim im Gespräch über seinen neuen Film »Die Jungs vom Bahnhof Zoo«

»Das Milieu macht süchtig«

Rosa von Praunheim schildert in seinem Dokumentarfilm »Die Jungs vom Bahnhof Zoo« den Alltag und die Lebensgeschichten junger Stricher in Berlin.

In Ihrem Dokumentarfilm geht es um die Westberliner Stricherszene. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Ich habe einen Freund, der bei der Hilfsorganisation für Stricher, »SUB/WAY«, die mittlerweile in »Hilfe für Jungs« umbenannt wurde, gearbeitet hat. Das war auch mein erster Kontakt mit Leuten, die Aufklärungsarbeit in diesem Bereich leisten. Über den Verein habe ich die Jungs aus dem Film kennen gelernt. Die Streetworker haben die Vertrauensbasis zwischen uns und denen hergestellt. Das war eine große Hilfe.
Der Film heißt »Die Jungs vom Bahnhof Zoo«. Und am Zoo beginnt er auch. Mit Klaus.
Klaus ist 40 Jahre alt und arbeitet heute nicht mehr als Stricher. Er erzählt davon, wie es früher am Bahnhof Zoo war. Mir ging es darum, auch die Geschichte der Westberliner Stricherszene zu erzählen. Deshalb fängt der Film 1965 mit dem Polizeireport an, und dann wird es zur Zeit der Wende wieder interessant. Es gibt heute immer noch Jungs, die am Zoo rumhängen und eine klassische Heroinkarriere haben, aber seitdem sich der Status des Bahnhofs verändert hat und es mehr Kontrollen gibt, sind es sehr viel weniger als noch vor zehn, 15 Jahren. An der Ecke Fuggerstraße/Eisenacher Straße im Bezirk Schöneberg stehen heute die Jungs, die nicht in die beiden Stricherkneipen kommen, die wir im Film porträtieren.
Am Anfang des Films fragen Sie Klaus: »War das eine witzige Zeit?« Und Klaus erzählt von einem großen Abenteuerland.
Klaus hat Humor. Andere sind im Gegensatz zu ihm krank oder zum Sozialfall geworden. Manche haben alles ganz gut überstanden, weil sie ältere Männer mögen, sie müssen sich nicht so verbiegen. Andere sind völlig am Ende.
»Stricher« und »Freier« sind Schimpfwörter, auch unter Schwulen. War es Ihnen wichtig, Vorurteile abzubauen?
Beabsichtigen kann man mit einem Dokumentarfilm wenig, aber mir ging es darum, den Jungs die Würde zurückzugeben. Stricher stehen auf der untersten Stufe. Man vergisst oft, dass das Menschen mit schweren Schicksalen sind. Besonders im Bereich der Armutsprostitution werden viele unmenschlich behandelt. Die Organisation »Hilfe für Jungs« ist deshalb ungeheuer wichtig. Sie bietet Hilfe, Schutz, Aufklärung und vor allem auch medizinische Versorgung. Viele Stricher sind jung, ungebildet und süchtig. Die wissen nicht, was sie sich da antun.
Es geht Ihnen im Film um die Straßenprostitution.
Der größte Teil der Szene ist im Internet. Dort gibt es derzeit 700, 800 sogenannte Escorts, meistens Deutsche, Türken und Araber, die auch älter als die Jungs im Film sind. Wer lesen und schreiben kann, organisiert sich im Internet.
Die anderen gehen auf die Straße oder in die Kneipen. Dort sind 70 Prozent Ausländer, und davon wiederum die meisten Osteuropäer. Das entwickelt sich ähnlich wie in der heterosexuellen Prostitution.
Der Transenstrich in der Bülowstraße kommt nur kurz vor.
Leider. Wir haben viel mehr gedreht, als im Film vorkommt. Auf der DVD wird es ausführliches Bonusmaterial geben. Wir haben lange mit den Transen aus Bulgarien gesprochen und auch die Pädosexuellenszene genau beobachtet. Aber das wäre für den Film zu viel und zu verwirrend gewesen.
Nazif, Ionel und Romica sind Roma.
Nazif ist bosnischer Rom und kam als Kriegsflüchtling nach Deutschland. Er ist aus Deutschland ausgewiesen worden, und lange Zeit wusste niemand, wo er ist. Dann tauchte er in Wien wieder auf, dort lebt er jetzt, ist im Methadonprogramm und hat auch einen anerkannten Aufenthaltsstatus. Auf Nazif konzentriert sich der Schwulenhass und der Zigeunerhass. Genau wie die anderen Roma im Film, die allerdings aus Rumänien kommen, hatte er nie eine Chance auf einen Job, keine Chance auf Schulbildung, und wenn überhaupt, dann nur in diesen ganz grausamen Kinderheimen, in denen die alle auch waren. Tagelöhnerarbeiten sind für die drei im Film seit Kindertagen ganz normal. Misshandlungen auch. Die fangen an mit Musikspielen, Betteln und Klauen. Auf den Strich gehen kommt schnell dazu. Die organisieren sich, die kommen in Gruppen hierher. Im Vergleich zu den anderen Gruppierungen, die man in der Stricherszene findet, sind die Roma keine Einzelkämpfer.
Sie sind in das Dorf von Ionel in Rumänien gefahren, der aus einer homophoben Gesellschaft kommt. Aber fast alle jüngeren Männer aus diesem Dorf arbeiten in Deutschland als Stricher. Wie halten sie das geheim?
Jeder weiß es, aber offiziell wird nicht darüber gesprochen. Das ist erst mal nicht anders als bei uns und in den meisten anderen Ländern. Über Sexualität darf nicht geredet werden. Aber hier ist es schon besonders: Es gibt viel Zuhälterei. Die Jungs werden einer nach dem anderen nachgeholt und müssen bestimmt auch viel Geld abgeben. Aber die genauen Strukturen bekommt man nicht raus, darüber wird geschwiegen. Die Stricher reden untereinander, aber nicht in ihrem Dorf, sondern in Berlin.
Ionel sagt im Film, solange er beim Sex aktiv ist, sei er nicht schwul. Ein anderer sagt: »Anschaffen ist anschaffen, das hat mit Sexualität nichts zu tun.«
Das hat Tradition: Solange man aktiv ist, ist man nicht schwul. Der Passive hat den Status einer Frau, und die darf bekanntlich verachtet werden. Es gibt aber deutliche Unterschiede: Das Image, das sie nach außen auf jeden Fall aufrechterhalten, ist, dass sie heterosexuell sind. Der Besitzer einer Stricherbar hat erzählt, dass sie öfter einschreiten müssen, wenn die rumänischen Stricher Schwule beleidigen oder beschimpfen. Einige von denen sind natürlich schwul, würden das aber nicht zugeben. Bei anderen, die länger in Deutschland sind, hat sich da aber auch was verändert, mit einer schwulen Szene wollen die aber auf keinen Fall identifiziert werden. Andere sind wirklich heterosexuell.
Wie realistisch sind die Aussteigerträume, die fast alle Stricher im Film formulieren?
Sie versuchen es immer wieder mit normalen Jobs, das geht aber nie lange gut. Auch weil sie mit denen nicht so viel Geld verdienen. Und dann muss man die rumänischen Träume von Bürgerlichkeit von denen der Deutschen unterscheiden: Die kommen aus Armutsdörfern, sind ganz anderen Konflikten ausgesetzt, kämpfen tatsächlich ums Überleben, fechten harte innere Konflikte aus. Der Druck von außen hat sich bei allen auf den Druck nach innen übertragen. Die meisten schaffen es nicht.
Sie haben auch einige Freier porträtiert. Wie schwer war es, diese Männer vor die Kamera zu bekommen?
Sehr schwierig, aber die drei, die sich bereiterklärt haben, redeten dafür umso offener, ein großes Glück.
Peter Kern ist ein tragischer Fall mit enorm viel Selbstreflexion. Er sagt: Ich bin einsam und fett, ich bin alleine, ich muss mir Liebe kaufen, Sex interessiert mich sowieso nicht mehr.
Der tut einem enorm leid. Aber man muss da schon zwischen den Zeilen lesen. Wir können nur filmen, was gesagt wird, die Wahrheit liegt aber oft dazwischen.
Das Rettersyndrom gibt es aber unter Freiern offensichtlich öfter?
Das klappt aber natürlich nicht. Von beiden Seiten nicht. Manche Freier versuchen, die Jungs zu domestizieren, versprechen ihnen einiges, und nach vier Wochen sind sie enttäuscht, weil die Jungs natürlich trotzdem sind, wie sie sind: Die nehmen Drogen, sind unzuverlässig, und dann bricht das wieder auseinander. Umgekehrt wollen die Freier Abwechslung haben. Die verlieben sich ein bisschen, aber nach einer Zeit verlieren sie die Lust und lassen die Stricher dann fallen. Das Milieu macht süchtig, auf beiden Seiten.
Die Kneipenbesitzer, die Sie vorstellen, erfüllen ja auch eine Sozialarbeiterfunktion.
Das wird unterschiedlich beurteilt. Die haben auch eine Machtposition und entscheiden darüber, welche Jungs reinkommen. In der Szene werden sie dafür kritisiert, dass sie ihre Macht missbrauchen würden. Das ist alles viel differenzierter, als der Film es darstellen kann. Man muss wirklich die ganze Zeit zwischen den Zeilen lesen.
Ihr Film feiert im Rahmen der Berlinale Premiere und wird anschließend in 14 deutschen Städten gezeigt. Gibt es etwas, das Sie sich von dem Film erhoffen?
Wir versuchen, in den verschiedenen Städten die Aids- und die Stricherhilfen miteinzubeziehen. Ich werde auch mitreisen. Aber ein Dokumentarfilm hat heute geringe Chancen, daher muss man seine Hoffnungen immer klein halten und sich über jeden freuen, der da hinkommt, mit einem reden möchte. Ich bin einfach froh, wenn ich so einen Film realisieren kann.
Der Film startet bundesweit am 24. Februar.
Premiere ist am 23. Februar in Berlin im Kino International.