Wie die palästinensische Gesellschaft über die Ereignisse in Ägypten und Tunesien diskutiert 

Intifada is coming home

Auch in der palästinensischen Gesellschaft wird über die Konsequenzen der Umbrüche in Nordafrika und im Maghreb diskutiert. Die palästinensische Führung ist verunsichert, denn in der Westbank und im Gaza-Streifen werden Forderungen nach einem politischen Wandel laut. Auch die Gruppe »Gaza Youth Breaks Out« hat sich wieder zu Wort gemeldet.

»Gott weiß, wer nach Ägypten und Tunesien dran ist«, scherzte der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas kürzlich in Ramallah und sagte dem Publikum: »Lacht nicht, es könnte mich treffen.« Auf der Facebook-Seite von Salam Fayyad, dem Ministerpräsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde in der Westbank, war vorvergangene Woche überraschend zu lesen: »Wir anerkennen und betonen die Bedeutung der jungen Generation für das politische Leben und die aktive Teilhabe am Entscheidungsprozess sowie die Bedeutung der Jugend für den Kampf unseres Volkes. Darum: Welche Forderungen der Jugendlichen soll die kommende Regierung in ihr Programm aufnehmen?« Hunderte Jugendliche schrieben innerhalb weniger Stunden Kommentare, in denen sie auf eine Verbesserung der Versorgung, der Bildungs- und Jobmöglichkeiten hinwiesen. Sie forderten die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit und die Überwindung der Rivalität zwischen der Fatah im Westjordanland und der Hamas im Gaza-Streifen.

Die plötzlichen Fähigkeiten und Kenntnisse der palästinensischen Regierung, was den Umgang mit dem Internet angeht, und das ebenso plötzliche Interesse an der Meinung der Jugendlichen erklären sich mit den Geschehnissen in Ägypten. 70 Prozent der palästinensischen Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre. Die über Satellitenfernsehen in die Wohnzimmer getragenen Revolten, der völlig unerwartete Sturz des als stabil geltenden Regimes von Mubarak und die Sympathien der Jugendlichen für den Schlachtruf »Das Volk will das System stürzen« verunsichern offenbar auch die palästinensische Führung. Hunderte Demonstranten waren im Februar bei auf Facebook beworbenen Demonstrationen, die aus Solidarität mit dem ägyptischen Aufstand stattfanden, von Sicherheitskräften drangsaliert und auseinandergetrieben worden, da die Palästinenserführung offensichtlich fürchtete, die Kontrolle über den Protest zu verlieren. Und tatsächlich schwang bei den Demonstrationen immer auch die Kritik an den Verhältnissen im eigenen Land mit, an der Korruption, der Arbeitslosigkeit und – erst recht nach der Veröffentlichung der ernüchternden »Palestine Papers« – am politischen Versagen in den Verhandlungen mit Israel.
Auch im Gaza-Streifen unterdrückten Hamas-Angehörige Solidaritätskundgebungen, verhafteten einige Jugendliche und verprügelten und schikanierten anwesende Journalisten. Um eine gegen das Hamas-Regime gerichtete Dynamik der Jubelfeiern nach dem Rücktritt Mubaraks zu verhindern, rief die Hamas schließlich selbst zu diesen auf und organisierte Dutzende öffentliche Feiern. Die Fatah übernahm diese Strategie und rief nach dem jüngsten US-Veto gegen eine Verurteilung der israelischen Siedlungspolitik zu einem »Tag des Zorns« auf. Während die »Tage des Zorns« in den anderen arabischen Ländern aber zu Massendemonstrationen der Opposition führten, setzte sich in der Westbank Abbas höchstpersönlich an die Spitze einer Demonstration.

Die Kommentare auf dem Facebook-Profil Fay­yads verweisen zudem auf ein zentrales Merkmal der aktuellen palästinensischen Debatten. Die unideologischen, realpolitischen Forderungen nach Good Governance, Arbeit und Sicherheit korrespondieren mit einer seit einiger Zeit zu beobachtenden Abkehr vieler Jugendlicher von den etablierten Parteien. Umfragen belegen ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber politischen Organisationen, insbesondere gegenüber der Hamas und der Fatah. Jüngste Umfragen haben ergeben, dass die große Mehrheit Parlaments- und Präsidentschaftswahlen befürwortet, wobei die meisten Befragten angaben, dass sie nicht aufgrund von Parteizugehörigkeit, sondern aufgrund persönlicher Präferenzen ihre Stimme abgeben würden. Nur neun Prozent sprachen der Hamas ihr Vertrauen aus, 37 Prozent der Fatah.
Derweil rufen auch die jungen Internetaktivisten von »Gaza Youth Breaks Out« zu Demonstrationen auf. Bereits vor den Umstürzen in Tunesien und Ägypten hatte die Gruppe für Aufsehen gesorgt, als sie mit ihrem provokativen ersten Manifest unter anderem die Hamas, Israel, die Fatah und die UN attackierte. Nachdem dieses erste Manifest von palästinensischen Organisationen und internationalen Kreisen der »Palästina-Solidarität« als verräterisch, kontraproduktiv und indirekt pro-zionistisch massiv kritisiert worden war (Jungle World 03/2011), legte die Gruppe in ihrem neuesten Aufruf den Gestus der Verweigerung ab und bediente sich der »Sprache des Widerstands«. Unter dem arabischen Titel »Beendet die Spaltung« – bezeichnenderweise nur auf einer für das Ausland konzipierten Seite mit dem Untertitel »Ein Volk gegen den Zionismus« – geht es in vertrautem Duktus zunächst gegen den »zionistischen Feind«, um das palästinensische Volk sowie erstmals auch um die »heiligen Stätten«. Dabei fällt jedoch auf, dass in den Forderungen fast ausschließlich innenpolitische Probleme aufgegriffen werden. So wird ein Ende der Rivalität zwischen der Fatah und der Hamas verlangt sowie ein Ende der »Spaltung«, die die Verfasserinnen und Verfasser für die wirtschaftliche Notlage der Bevölkerung und die anhaltende israelische Besatzung verantwortlich machen. Außer der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit fordern die in Gaza lebenden anonymen Aktivistinnen und Aktivisten sogar erstmals offen den Rücktritt der Hamas-Führung im Gaza-Streifen und der Regierung Fayyads in der Westbank. Mit Demonstrationen unter dem Motto »Das Volk will das Ende der Spaltung« wollen sie Mitte März Druck auf die palästinensische Führung ausüben, die in ihren Augen versagt hat. Die Regierung in der Westbank habe trotz vieler Zugeständnisse gegenüber Israel nichts erreicht als eine Sicherheitskooperation, ihr übermäßiges Entgegenkommen habe nur noch mehr Siedlungen zur Folge gehabt. Ausschließlich gegen Israel gerichtet sind hingegen die Protestaktionen der internationalen „Palästinasolidarität“, die vor israelischen Botschaften stattfinden sollen. Ihr Konzept der „refugee revolution“ ermöglicht es ihnen zwar, den Aktivisten in Palästina ihre Solidarität zu versichern, aber gleichzeitig reproduzieren sie für die internationale Öffentlichkeit das tradierte Täter-Opfer-Schema.

Während das politische Establishment unter Abbas und Fayyad in der Westbank nun bereits das Kabinett umgebildet hat und die Jugendlichen, zumindest rhetorisch, zu integrieren versucht, tut sich die Hamas schwer mit ähnlichen Schritten. Auf Angebote der Fatah zu Gesprächen ging sie nicht ein und verhaftete am Tag von Fayyads Facebook-Offensive stattdessen männliche Damenfriseure, um über sie ein Berufsverbot zu verhängen. Zuletzt hatte die Hamas viele Bewohner des Gaza-Streifens gegen sich aufgebracht, als sie inmitten der angespannten Versorgungslage zum Schutz ihrer »Tunnelwirtschaft« ein Importverbot für israelische Lebensmittel und Drogerieprodukte erlassen und ihr Streit mit der Fatah die Lieferung von dringend benötigten Medikamenten verhindert hatte. Die relative Zufriedenheit in der Westbank über die verbesserte Sicherheitslage und die Beliebtheit des pragma­tischen Wirtschaftspolitikers Salam Fayyad haben zur Folge, dass nur 25 Prozent der Bevölkerung »ägyptische Zustände« dort für möglich halten. Im Gaza-Streifen verhindert die Unterdrückung jeg­licher Opposition durch das Regime den öffentlichen Protest. Dennoch kann man mit Spannung den 15. März erwarten, an dem die Aktivisten ihre Forderung nach einer Auswechslung der palästinensischen Führung auf die Straße tragen wollen.