Über Wut und Sprache

Die Bauchredner des Affekts

Wo der kollektiven Wut zum Ausdruck verholfen werden soll, kündigen sich meist eher Pogrome als Revolutionen an. Denn Sprache will die blinde Aktion verhindern, zu der die Wut die Menschen drängt.

Alle Lust will Ewigkeit, und alle Sprache Versöhnung. Eine Naturgeschichte der menschlichen Sprache dürfte sie nicht als eine »Kulturtechnik« neben anderen untersuchen, sondern müsste von der Ahnung ihren Ausgang nehmen, dass diese ihren Ursprung in einem sehr späten, stets prekären Friedensschluss hat. Wie der Kampf, den der Stärkere gewinnt, im Streit, bei dem das bessere Argument entscheidet, zugleich stillgestellt und fortgeführt wird, so ist alle Sprache sublimierter Affekt. Man redet miteinander, wo man in freiwilligem Einverständnis darauf verzichtet hat, sich totzuschlagen. Deshalb wirkt die »Dialogbereitschaft« der Menschen und Nationen umso gefährlicher, je ostentativer sie beschworen wird. Wo die Möglichkeit der Versöhnung nicht absichtslos aus der Sprache selbst erwächst, sondern ihr angedichtet werden muss wie eine mysteriöse Zauberkraft, hat sie in Wahrheit längst kapituliert, und an ihre Stelle droht erneut die Gewalt zu treten, deren Nachklang sie schon immer durchdrungen hat. Im Grunde ist Sprache im politischen Leben stets nur in glücklichen Augenblicken mehr gewesen als ein Alibi, mit dem die Menschen sich um die Bedrohung der Regression auf den blinden Naturzwang betrügen: Darin liegt das offene Geheimnis jeder Diplomatie. Doch wie die Diplomatie, die ihren Ursprung im Bewusstsein um die Brutalität und Destruktivität aller unmittelbaren Aktion hat, im Laufe ihrer Entwicklung zu einer eigenen Wirklichkeit geworden ist, der jeder, der sich Gehör verschaffen will, Zugeständnisse machen muss, so ist auch aus dem Alibicharakter der Sprache eine eigenständige Kraft entwachsen, ohne die der Prozess der Zivilisation nicht zu denken wäre. Sprechen heißt immer, sich auf ein Allgemeines beziehen, das eigenen Gesetzen folgt, mit denen es dem Sprechenden widerspricht. Wo Sprache ganz in der Willkür dessen aufgehen soll, der sich ihrer bedient, verliert sie ihren emphatischen Sprachcharakter und verkommt zur Propaganda. Eben dadurch aber wird sie zum schlecht Allgemeinen, das nur noch feststellt und befiehlt, statt zu vermitteln. Ganz und gar der hybriden Subjektivität unterworfen, wendet sie sich gegen die Subjekte und verschmilzt bis in ihre innerste Form mit der objektiven Gewalt.
Der lebendige Impuls aller Sprache ist das Bewusstsein um die Möglichkeit gelungener Vermittlung. Sprechen heißt, sich an ein Allgemeines zu entäußern, um jener Subjektivität zum Ausdruck zu verhelfen, die entgegen dem sentimentalen Alltagsbewusstsein nichts Innerliches ist, sondern nur gewonnen werden kann, indem das Subjekt sich als empi­risches vergisst. In den glücklichen Momenten der Sprache erkennt das Subjekt die Form der eigenen Subjektivität als Zwang, der überschritten werden muss, um das ihr innewohnende Versprechen endlich wahr zu machen. Darum erfährt, wer in der Sprache zu sich kommt, die eigenen Affekte paradoxerweise als etwas Äußerliches, Zufälliges und Partikulares, als leere Hülsen, die vom Sprechenden abfallen wie nicht mehr geglaubte Überzeugungen. Die Traurigkeit oder Angst, die Freude oder das Begehren, die notwendig am Ursprung allen Sprechens stehen – was sollte im Sprechen zum Ausdruck kommen, wenn nicht sinnliche Impulse –, verlieren, je vollkommener sie Sprache werden, ihre Unentrinnbarkeit. Der blinde Affekt wird in der Sprache ebenso transzendiert wie der leere Begriff, der zu ihm passt wie der Topf zum Deckel. Das heißt nicht, dass der Sprache jede Affektivität fremd wäre. Im Gegenteil, gerade wo der Sprechende sich ihr intentionslos überlässt, erschüttert ihn eine Erfahrung, welche die bornierten Affekte, die ihn in der empirischen Wirklichkeit umtreiben, ihrer Ohnmacht und Unzulänglichkeit überführt. Nicht zufällig ist es die Disziplin der Ästhetik, die für diese Erfahrung die anschaulichsten Begriffe gefunden hat: Der von Platon beschriebene Enthusiasmus der Künstler, der Liebenden und Verzückten, die Ekstasis der Mystiker, aber auch die Katharsis der antiken Affektlehre zielen gleichermaßen auf den nur für Augenblicke gelingenden Einstand von Wollust und Selbstbesinnung, in dem aufscheint, was möglich wäre, wenn die Sprache nicht nur Sprache, sondern lebendige Kraft wäre.
Jede Sprache wird falsch, sobald sie laut wird. In ihren schönsten Augenblicken kann sie flüstern oder sogar verstummen, aber niemals schreien. Im Schrei dementiert sie sich selbst. Daraus erklärt sich die seit der Antike andauernde Rivalität zwischen Rhetorik und Poetik. Als Lehre vom artikulierten Sprechen ist die Rhetorik eine freundliche Wahlverwandte der Poesie. Sie vermag das gestische Moment der Sprache auf den Begriff zu bringen, das in ihrer Fixierung zum Buchstaben vergessen zu werden droht und in dem doch der sinnliche Impuls, der alle Sprache durchklingt und trägt, allein aufbewahrt bleibt. Zugleich aber war die Rhetorik, gerade weil sie sich weniger mit der Sprache als mit dem Sprechen beschäftigt, immer auch eine heimliche Komplizin des schlimmsten Gegners aller Poesie, der Kommuni­kation. Gerade im gestischen Aspekt der Sprache, der sie zur Poesie überhaupt erst berufen macht, liegt nämlich die Gefahr der falschen Mimesis, der Anbiederung ans Allgemeine, die das der Sprache innewohnende Versprechen gelungener Vermittlung verrät, indem sie aus ihr eine Vermittlungstechnik macht. In diesem Sinn ist Kommunikation die Warenform der Sprache und Rhetorik ihre zuverlässige Gebrauchsanleitung. Je weniger Rhetorik die Lehre vom lebendigen Sprechen ist und stattdessen zur Technik der Publikumsmanipulation herunterkommt, desto mehr verfällt sie dem blinden Affekt, dessen Transzendierung im lebendigen Ausdruck ihr genuiner Gegenstand wäre. Mit der schon in den antiken Rhetoriklehren angelegten Verschmelzung von Rhetorik und Politik wird dieser Ausverkauf der Poesie an die Kommunikation besiegelt. Die Wiederentdeckung der Rhetorik, die heute als angeblich große Neuerung der Postmoderne gegen ­Ästhetik und Poetik ausgespielt wird, sanktioniert lediglich die universale Regression von Sprache auf Propaganda, deren Wundmale sich nicht nur an der auf Signalworte herabgesunkenen Alltagssprache, sondern an fast jedem schriftlichen oder mündlichen Sprechakt ablesen lassen.
An kaum einem Phänomen lässt sich diese negative Aufhebung des Widerspruchs zwischen Rhetorik und Poetik so drastisch erkennen wie an der Rehabilitation von Wut als politischer und sprachlicher Kategorie. Man fordere die Menschen auf, zu sagen, worüber sie wütend sind, und jeder Kleinbürger mutiert zum Expressionisten auf Befehl. Alle sprachlosen Ressentiments, unverdauten Frustrationen und mühsam hinter der ohnehin ramponierten Fassade des Alltagsselbst zurückgehaltenen Größenphantasien brechen dann in ungeahnter Vitalität hervor. Dass Sprachverbrechen wie die Rede von den »Wutbürgern« oder diverse »Tage der Wut« und des »Zorns« von Stuttgart bis Flensburg an der Tagesordnung sind, heißt nicht, dass die Menschen nun endlich Mut zur Freiheit gefunden hätten und sich Inhumanität und Gewalt nicht länger bieten lassen wollen, sondern dass sie offen und schamlos ihre Bereitschaft bekunden, jederzeit gegen prospektive Feinde loszuschlagen, sobald die Kriegserklärung erfolgt. Es erzählt etwas vom traurigen Misslingen jahrhundertelanger Zivi­lisierungsbemühungen und davon, dass Sprache dem längst altbackenen Sprachidealismus des Bürgertums zum Trotz noch immer aus nichts anderem als aus Wörtern besteht. Die Möglichkeit von Schönheit und Lust, Selbstbesinnung und Versöhnung, die in ihr liegt, ist von den Menschen nie wirklich zu ihrer eigenen Sache gemacht worden, sie wird noch immer als Hindernis wahrgenommen, das alles Eigentliche verdecke, von den wirklichen Gefühlen und Bedürfnissen ablenke und im Grunde nichts als eine gesellschaftlich geduldete Form der Heuchelei sei. Deshalb ist es so einfach und wird sogar immer einfacher, all jene zu verhöhnen, denen Sprache mehr als ein probates Mittel ist, um ihre Nebenmenschen zu manipulieren, sie für sich einzunehmen oder ihnen zu drohen: Heimlich weiß jeder, dass man im Ernstfall auf sie ebenso leicht verzichten kann wie auf die antiquierten Gesten der Höflichkeit und all den zeremoniellen Schnickschnack des täglichen Miteinanders, der einem schon immer irgendwie zeitraubend und lästig erschien.
Die Sprache verbindet die Menschen, indem sie sie voneinander trennt. Das hat sie mit dem Geld gemein, und der Hass auf die Zirkulationssphäre kommt so richtig erst im Hass auf die Sprache zu sich selbst. Sie zum Grund des Seins zu hypostasieren oder sie als nutzlosen Zierat zu verachten, dessen man sich zu ent­ledigen habe, sobald es zur Sache geht, läuft auf das gleiche hinaus und verdankt sich demselben Ressentiment. Die eigentlichkeitsbesessene Sprachemphase Heideggers ist in seinen späten Texten vom Gelalle des zum bürgerlichkeitsfeindlichen Kasperletheater gewordenen Dada­ismus kaum noch zu unterscheiden: Sprachmetaphysik und Sprachzerfall konvergieren. Auch die heutigen »Wutbürger« haben gegen den durch die Ökobewegung, den Vulgärfeminismus und diverse Bürgerbewegungen renovierten Jargon der Eigentlichkeit nichts einzuwenden. Im Gegenteil, Wut ist selber ein Stichwort aus dessen Vokabular. Dass die Wut der Geknechteten und Zukurzgekommenen im Namen von Freiheit und Revolution entfesselt werden müsse, dass es nötig sei, sich zur eigenen Wut zu bekennen, um erfolgreiche linke Politik zu machen, dass zur Kreativität immer auch ein bisschen Wut gehöre und Wut eine positive Energie sei, ist Teil des Phrasenrepertoires aller autoritätssüchtigen Kämpfer gegen die Autorität. Und wie schon früher existenzphilosophische Trak­tate meist wie schlechte Werbetexte und Werbetexte wie unverdaute Existenzphilosophie klangen, so sind die Authentischen und Emotionalen, die heute als Bauchredner des kollektiven Affekts ihre Wut gegen die schlechte Welt in Stellung bringen, versierte Marketingexperten in eigener Sache.
Was die Fachleute in Sachen Existenz und die Fachleute in Sachen Marketing verbindet, ist ihre Großspurigkeit, ihre Neigung zur Aufgespreiztheit und zum affektiven Extrem. Entweder sie sind verbissen wütend oder verbissen fröhlich, entweder sie umarmen die ganze Welt oder schlagen ihr ins Gesicht. Dass mittlerweile der gesamte Alltag von ihrem grellen Licht beleuchtet, mit ihren schrillen Farben illustriert und vom Lärm ihrer Quirligkeit durchdrungen ist, zeugt vom universalen Scheitern der Sprache als Agens gelungener Vermittlung. Wer immer an ihr Versprechen erinnert, erregt Ärger. Wer sie zu gut beherrscht, gilt als arrogant, wer sich zu sehr von ihr begeistern lässt, als naiv. Und jeder sprachliche Ausdruck, der nicht einfach den eigenen stumpfen Affekt verdoppelt, ist verdächtig, während die Fähigkeit zur beflissenen sprachlichen Manipulation als Zeichen von Eloquenz gelobt wird. Die Wut aber, die die Zeitgenossen zum affektiven Kulturgut adeln, ist nichts als die nach innen gestaute, stumm und böse gewordene Trauer über den Tod, den man längst gestorben ist.