Yamileth Chavarría im Gespräch über Gewalt gegen Frauen und staatlichen Machismo in Nicaragua

»Ich bin dann die Hexe«

Man nennt sie auch die »Nachrichtenhexe«. Jeden Morgen weckt die Radiomoderatorin Yamileth Chavarríá die Bewohner von Bocana de Paiwas im ländlichen Nicaragua mit wenig erfreulichen Nachrichen über Frauen, die geschlagen und misshandelt, missbraucht und vergewaltigt wurden. Sie nennt die Namen der Täter und beendet das Schweigen über die Gewalt gegen Frauen, die in Nicaragua selten verfolgt wird. Dabei erlebt statistisch gesehen jede dritte Frau in dem mittelamerikanischen Land Gewalt, in vielen Fällen verübt vom eigenen Vater oder Ehemann. Allein 2010 wurden 89 Nicaraguanerinnen ermordet – weil sie Frauen waren. Die Jungle World sprach mit Chavarríá über den gewaltbereiten Machismo in Staat und Familie und die Notwendigkeit von Feminismus mitten im Dschungel.

Ihr Radio »Palabra de la mujer«, auf Deutsch »Stimme der Frau«, sendet sieben Tage die Woche zwölf Stunden am Tag feministische Inhalte. Wie ist es dazu gekommen?
Unser Sender ist sowohl besonderen Umständen als auch einer politischen Notwendigkeit geschuldet. Als nach dem Hurrikan Mitch 1998 viele Telefonleitungen zerstört waren und die Gegend um Bocana de Paiwas praktisch von der Außenwelt abgeschnitten war, suchten wir in unserem Frauenzentrum nach einer Möglichkeit, mit den Frauen auf dem Land zu kommunizieren. Die Bauernhöfe liegen weit verstreut, und allen Frauen mitzuteilen, dass es bei uns zum Beispiel eine gynäkologische Untersuchung gibt, war schon vorher kaum möglich. Aber auch private Botschaften können im Radio besser vermittelt werden, etwa wer wen einmal kontaktieren soll. Die Reichweite des Senders beträgt ungefähr 80 Kilometer, in diesem Umkreis leben rund 40 000 Menschen. Das Radio wurde zu einem Telefonersatz, allerdings zu einem, bei dem alle mithören können.
Darum geht es ja in Ihrer Sendung .
Ganz genau! Jeden Morgen verstelle ich meine Stimme. Ich bin dann eine alte Frau von fast 100 Jahren, die eine Kristallkugel befragt, eine Hexe eben. In meiner Kugel sehe ich, welcher Mann einer Frau Gewalt angetan hat, wer das Fa­milien­einkommen versäuft oder ähnliches. Ich krächze die Namen der Täter heraus und gebe den Frauen eine Stimme. Um die Gewalt zu bekämpfen, muss man zunächst das Schweigen brechen.
Wer erzählt Ihnen von den Geschehnissen?
In den allermeisten Fällen bekomme ich Briefe. Eine Nachbarin hat Schreie gehört oder eine Freundin wird Zeugin. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass Betroffene selbst im Sender vorbeigekommen sind. Einige wollen ihrer Wut und Verletzung selbst vor dem Mikrofon Luft machen. Natürlich prüfen wir immer, ob die Vorwürfe auch der Wahrheit entsprechen, und holen gegebenenfalls eine zweite Meinung ein.
Haben Ihre Denunziationen Konsequenzen?
Ich denke schon, dass sich die Männer hier in der Gegend mehr zusammenreißen, seit es die Nachrichtenhexe gibt. Keinem Mann gefällt es, in einer Radiosendung bloßgestellt zu werden. Das Bewusstsein dafür, dass Gewalt gegen Frauen ein Unrecht ist, ist gestiegen. Unsere Sendung setzt aber auch die Institutionen unter Druck, insbesondere die Polizei, die in der Regel Vorwürfen nicht nachgeht. Nur zwischen ein und fünf Prozent der Gewalttaten gegen Frauen kommen in Nicaragua überhaupt vor Gericht.
Der Staat ist also weniger ein Partner als ein Feind im Kampf für die Frauenrechte?
Im vergangenen Jahr sind wir in der Nationalversammlung mit unserem Antrag gescheitert, Frauenmord als Tatbestand zu ächten. Denn »feminicidio« ist etwas anderes als ein gewöhnlicher Mord. Frauen werden nur getötet, weil sie Frauen sind. Am selben Tag wurde eine Gesetzesnovelle über die Verbesserung des Tierschutzes mit großer Mehrheit angenommen. Das vermittelt ungefähr ein Bild davon, welche Wichtigkeit man Frauenrechten in Nicaragua einräumt. Noch dazu ist hier ein Präsident an der Macht, der mit großer Wahrscheinlichkeit in der Vergangenheit selbst zum Täter wurde.
Sie sprechen von dem Sandinisten Daniel Ortega, der 1998 von seiner damals 30jährigen Stieftochter Zoilamérica Narváez bezichtigt wurde, sie seit 1978 mehrfach sexuell missbraucht und vergewaltigt zu haben.
Ortega hat es geschafft, seine Immunität als Parlamentarier so lange zu behalten, bis der Tatbestand verjährt war. Das lässt vermuten, dass er einiges zu verbergen hat. Heute ist er Präsident.
Der Präsident scheint nicht der einzige Problemfall zu sein, wenn Sie mit diesem Thema eine ganze Radiosendung bestreiten können.
Nicaragua ist wirklich ein Phänomen. Denn die Gewalt gegen Frauen nimmt nicht ab, sondern zu. Ich vergleiche sie immer mit einer Epidemie, die sich ausbreitet und zu Toten führt. Eigentlich müsste der Staat den Ausnahmezustand ausrufen. Aber in Nicaragua fehlt dafür schlicht der Wille. Es geht ja nicht nur um Ortegas Biographie, sondern darum, wie er seine politischen Prioritäten setzt. So hat er Aminta Granera, der Vorsitzenden der Nationalpolizei, die wichtige Arbeit für die Aufklärung und Verfolgung von Frauenmorden geleistet hat, prompt die Mittel gekürzt. Ortega initiierte 2006 zudem die Novelle des Abtreibungsgesetzes, das heute zu den restriktivsten der Welt gehört.
Feminismus und Sandinismus haben heute also keine Überschneidungspunkte mehr?
Nein, zumindest dann nicht, wenn man sich ernsthaft als Feministin bezeichnen will. Als die Sandinisten an die Macht gekommen sind, wollten sie das Frauenzentrum schließen und das Radio abschaffen. Dabei hat meine Mutter in den achtziger Jahren in der Revolution für Frauenrechte gekämpft und wurde dafür von den Contras ermordet. Der Sandinismus von heute ist eine Farce, eine Oligarchie, die mit allen Mitteln an der Macht bleiben will. Mehr nicht.
Aber ohne den Staat erreichen Sie auch nichts.
Das stimmt sicher. Aber wir halten uns an lokale Akteure, insbesondere an Vertreter aus dem Erziehungs- und Gesundheitsministerium. Mit ihnen arbeiten wir gut zusammen, beispielsweise in der gesundheitlichen Aufklärung. Aber wir übernehmen keine Aufgaben, die unserer Meinung nach der Staat übernehmen müsste. Hier gibt es zum Beispiel keine Unterkunft für Frauen, denen Gewalt widerfahren ist.
Wie sieht der Alltag in Nicaragua aus? Wie artikuliert sich hier die Gewalt gegen Frauen?
Der Machismo ist hier Alltagskultur und wird doch täglich neu gelernt. Er ist stets gewaltbereit. Ein Beispiel für seine Verbreitung ist die popu­läre Musik, die man hier praktisch permanent hört, die »música ranchera«. Ihr Rhythmus ist sehr eingängig, aber ihre Texte haben es in sich. Da singen Männer stolz davon, wie sie ihre Frau »züchtigen«, weil sie eine »Stute ist, die keine Zügel mag«. In einem anderen Lied heißt es im Re­frain: »Bestrafe mich!« Gesungen von einer Frau! Da kommt es dann schon einmal vor, dass der Moderator im Radio lautstark einstimmt mit den Worten: »Gib’s ihr, schlag sie!« So geht das.
In Ihrer Sendung läuft also keine Musik?
Doch natürlich, aber wir machen die Hörerinnen und Hörer auf den Inhalt der Lieder aufmerksam. Sie sollen wenigstens genau hinhören, was da gespielt wird.
Mit Ihrer Radiosendung machen Sie sich täglich neue Feinde. Haben Sie manchmal Angst?
Mein Vater hat immer gesagt: Besser für eine gerechte Sache sein Leben lassen, als einsam am Herd zu krepieren. Das klingt erst mal brutal. Aber eigentlich ist es ganz einfach: Wenn man gesellschaftlich etwas bewirken will, kann man sich Angst nicht leisten.