Über die deutsche Liebe zum Gau

Deutschland sucht den Super-Gau

Die deutschen Gegner der Atomkraft liefern genug Anlass zur Kritik. Doch ihren derzeitigen Kritikern fällt nichts anderes ein, als sich auf einen naiven Rationalismus zu berufen.

Japan qualmt, Deutschland strahlt: Noch bevor die ersten verlässlichen Informationen über die »Apokalypse« in Fukushima vorlagen, ließ Renate Künast, grüne Bürgermeisterkandidatin in Berlin, verlauten, die japanische Katastrophe zeige, dass nicht wir über die Natur, sondern »die Natur über uns« herrsche. Innerhalb kürzester Zeit waren Jodtabletten und Geigerzähler ausverkauft, Umweltaktivisten riefen in jedes verfügbare Mikro­fon: »Davor haben wir schon immer gewarnt!«
Dass in Tokio bis heute keine Massenpanik ausgebrochen ist, sondern die Bürger weiterhin täglich zur Arbeit fahren, erscheint dem deutschen Alltagsverstand als Symptom japanischer Obrigkeitshörigkeit, und von Anne Will bis Greenpeace herrscht Konsens darüber, dass die blinde Fortschrittsbegeisterung der Japaner Mitschuld an dem Unglück trage. Wenn man auch sonst nichts weiß, eines weiß man mit Sicherheit: Japan steht »am Abgrund«, das Land ist »außer Kontrolle«, das »Unvorstellbare« ist Wirklichkeit geworden.

Nun dürfte die Euphorie, mit der hierzulande der weltweite Ausnahmezustand beschworen wird, niemanden überraschen, der etwa Gudrun Pausewangs Verstrahlungsbestseller »Die Wolke« kennt. Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl war das Buch jahrelang Pflichtlektüre an deutschen Schulen, nun ist es erneut ausverkauft (Jungle World 12/11). Es enthält zahlreiche unbeabsichtigte Hinweise auf die Gründe für die deutsche Liebe zum Gau. Zieht sich doch das Motiv des kahlen Schädels, den die Hauptfigur am Ende ihren ungläubigen Verwandten trotzig als Beweis des eigenen Opferstatus präsentiert, durch das gesamte Buch, in dessen Vorwort explizite Vergleiche zwischen der nuklearen Katastrophe und dem Holocaust gezogen werden. Während die Elterngeneration noch allerlei rhetorische Verrenkungen in Kauf nehmen musste, um sich als »Opfer« der Nazis zu inszenieren, fällt dies den vom Nuk­leartod bedrohten Öko-Kindern bei Pausewang leicht. Auf die Vernichtung der deutschen Juden muss nicht einmal mehr angespielt werden, die perfide Gleichsetzung steckt bereits in der scheinbar realistischen Darstellung selbst.
Genug Material gäbe es also, an dem sich Kritiker der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung abarbeiten könnten. Doch die wenigen, die sich der Aufgabe annehmen, haben mit den Umweltaktivisten leider gemein, sich als alleinige Hüter der Vernunft zu verstehen – einer Vernunft, die entgegen dem Selbstverständnis derer, die sie predigen, vom kleinbürgerlichen Vertrauen in »Expertenwissen« sowie von der festen Überzeugung getragen ist, was die Vorstellungskraft übersteige, das könne auch nicht geschehen. Dass die Gegner der Anti-Atomkraft-Bewegung bevorzugt in der Welt oder im Internet bei der »Achse des Guten« publizieren, sollte noch kein Argument gegen sie sein. Gegenüber einer »kapitalismuskritischen« Klientel, die jeden, der für die bürgerliche Presse schreibt, sofort verdächtigt, vom Feind bezahlt zu werden, befinden sich Dirk Max­einer und Michael Miersch, Henryk M. Broder und Vera Lengsfeld, die dort gegen Umweltfreunde und Atomkraftgegner polemisieren, sogar in der besseren Gesellschaft. Schade nur, dass sie mit ihrer Beschwörung der technischen »Beherrschbarkeit« der Atomenergie, ihrem völlig grundlosen Vertrauen in die »Experten« der Betreiberfirma Tepco und in ihrer rationalistischen Verspottung irrationaler Ängste gegenüber dem Leiden derer, die die Folgen jener Technik zu tragen haben, nicht weniger kaltschnäuzig sind als die Ökos, die sie kritisieren.

Der unbeirrbare Glaube an das Urteil der »Experten« zieht sich durch fast alle Blogbeiträge, die auf der »Achse des Guten« zum Thema veröffentlicht werden. Wobei allerdings als »Experten«, genau wie im Lager der Atomkraftgegner, immer nur die gelten, die bestätigen, was man sowieso schon zu wissen glaubt. Nach dieser Maßgabe mutiert bei Vera Lengsfeld selbst der physikalisch grundgebildete TV-Kasper Rangar Yogeshwar zum »Fachmann«, nur weil er bei Anne Will erklärt hat, »dass die Situation in Japan keineswegs mit der Tschernobyl-Katastrophe zu vergleichen« sei.
Christoph Spielberger verhöhnt in einem Gastbeitrag das apokalyptische Geraune des Japan-Korrespondenten der ARD, Robert Hetkämper, nur um die Vertreter von Tepco, die Hetkämper für »korrupt, dumm und unfähig« halte, sogar gegenüber den »amerikanischen Experten« als die verlässlicheren »Fachmänner« auszugeben, ganz einfach, weil sie »vor Ort« seien. Maxeiner und Miersch geben in derselben relativistischen Manier, die sie sonst bei ihren Gegnern denunzieren, zu bedenken, »dass Gaddafi gerade mehr Libyer abschlachtet, als Japaner im allerschlimmsten Fall an Strahlenkrankheit sterben«. Auf die Frage, was an der Forderung nach dem Ausstieg aus der Nutzung der Atomkraft inhaltlich falsch sei, finden sie keine andere Antwort als die, dass die Atomkraftgegner allesamt so unsympathische Gestalten sind.
Wo die »Achse des Guten« den untergründigen Motiven der deutschen Nuklearparanoia einmal wirklich nahe kommt, wird der Gedanke sogleich abgebrochen. Broder spricht zwar den Verdacht aus, dass die Parole »Atomausstieg sofort!« den Slogan »Nie wieder Auschwitz!« als deutsche Selbstreinigungsstrategie ersetzt habe, geht den tatsächlichen Ähnlichkeiten – etwa der Parallelisierung zwischen Auschwitz und Hiroshima, die die Chronologie der Ereignisse verdeckt – aber nicht weiter nach. Die historischen Zusammenhänge, die in Japan zwischen der Erfahrung von Hiroshima als Konsequenz der Kollaboration mit dem Nationalsozialismus, der zivilen Nutzung der Atomenergie und der relativen Schwäche der dortigen Anti-Atomkraft-Bewegung bestehen könnten, geraten erst gar nicht in den Blick. Stattdessen begnügt sich etwa Gideon Böss in seinem vielversprechend betitelten Beitrag »Bundesrepublik Pausewang« damit, sich über das Gerücht lustig zu machen, »dass rund um Tschernobyl nur noch dreiköpfige Kinder zur Welt kommen«, und der Meinung, dass Atomkraft »schlimm« sei, nicht näher bestimmte »Fakten« entgegenzuhalten, deren einzige Qualität darin besteht, dass sie von »nüchternen Experten« statt von »Laien« verbreitet würden.

Dass die Nutzung der Atomkraft ein Paradebeispiel für die These der Kritischen Theorie vom Umschlag der Naturbeherrschung in zweite Natur abgeben könnte, wird von einem Milieu, in dem man auf den ersten Blick weiß, wer »Experte« und wer »Laie« ist, großzügig übergangen. Wie die umweltbewegten Atom-Apokalyptiker sich danach sehnen, dass die Menschheit im Angesicht der Katastrophe ihre Bestimmung darin erkennt, sich von der Natur »beherrschen« zu lassen, so ist die Natur den Atom-Apologeten nichts als ein unproblematischer Rohstoff rationalistischer Zurichtung. Ob ihrem selbstbewussten Fortschritts­optimismus nicht ein ähnliches Maß an Realitätsverleugnung zugrunde liegen könnte wie der »Aus Trauer wird Power«-Propaganda ihrer Gegner, fragen sie sich nicht.
Mit dem Optimismus aber ist es schwieriger bestellt, als sie glauben: Auf den sinnvollen Gang der Geschichte, an dessen Ende die große Reinigung stehe, vertrauen schließlich auch eingeschworene »Fortschrittspessimisten«. Nur dass es irgendwann unwiderruflich vorbei sein könnte mit dem Projekt der menschlichen Zivilisation, ohne dass irgendein Sinn dabei herausgesprungen wäre, das will niemand auch nur erwägen.