E. M. Cioran wäre am 8. April 100 geworden

Misanthropie als Beruf

E. M. Cioran, der am 8. April 100 Jahre alt geworden wäre, gilt bei seinen Anhängern als melancholischer Grübler über die Abgründe der Existenz. Tatsächlich war er ein versierter Marketingexperte in eigener Sache.

Wer auf einer Abendgesellschaft mit lässig-defätistischen Bonmots Sympathien gewinnen möchte, wird bei ihm immer fündig: »Meine Vision der Zukunft ist so genau, dass ich, falls ich Kinder hätte, sie sofort erwürgen würde.« – »Alles, was lebt, lärmt. Welches Argument für das Mineralische!« – »Das Recht, alle, die uns lästig werden, auszumerzen, sollte in der Verfassung eines idealen Staates an erster Stelle stehen.« – »Vom Menschen geht ein besonderer Dunst aus: Unter allen Tieren riecht nur er nach Leiche.« – »Man möchte zuweilen ein Kannibale sein, nicht um den oder jenen aufzufressen, sondern um ihn auszukotzen.«
Das 1973 erschienene Bändchen, aus dem diese Aphorismen stammen, ist E. M. Ciorans bekanntestes Buch. Es heißt »Vom Nachteil, geboren zu sein« – im französischen Original noch etwas eleganter »De l’inconvénient d’être né« – und hat ein unscheinbares, aber langes Leben als Longseller bei Suhrkamp hinter sich. Vor allem während der schwierigen Orientierungsphase zwischen dem Auszug bei den Eltern und dem Beginn des Studiums haben wohl die meisten Akademiker, die später in irgendeinem Postmoderne-Cluster geparkt werden, um das dreihundertste Buch über Gilles Deleuzes minoritäres Denken zu schreiben, mit pochendem Herzen Cioran gelesen. Welchem anderen Philosophen wäre es gelungen, mit der Regelmäßigkeit eines routinierten Krimiautors Werke mit so verlockend reißerischen Titeln wie »Lehre vom Zerfall«, »Die verfehlte Schöpfung«, »Gevierteilt« oder »Der zersplitterte Fluch« in die Welt zu setzen? Und wer sonst hätte, wie es von Cioran berichtet wird, die Einladung zu einem philosophischen Colloquium in den Vereinigten Staaten mit dem Satz zurückgewiesen: »Aber ich bin doch nur ein Witzbold«? Das innerste Geheimnis von Ciorans Büchern ist weder sein vermeintlich schonungsloser Pessimismus noch die zeitdiagnostische Schärfe, in deren Namen Susan Sontag seine Schriften für die Moderne beansprucht hat, sondern die Mischung aus Verbalradikalismus und Schlitzohrigkeit, die in solchen Anekdoten zum Ausdruck kommt.
Erstmals bemerkbar macht sich die eigentümliche Komik in den Schriften aus den fünfziger Jahren, nach seinem Umzug nach Paris und dem Sprachwechsel vom Rumänischen ins Französische. Ciorans auf Rumänisch geschriebenes Frühwerk, von dem weite Teile ebenfalls in der Bibliothek Suhrkamp erschienen sind, ist durchweg im großspurig-existentiellen Duktus eines pubertierenden Nietzscheaners gehalten, der sein unverstandenes Vorbild um jeden Preis überbieten will. Das sprachliche Misslingen reflektiert in diesen Jugendtexten auch ein politisches: Cioran war damals Anhänger der faschistischen Eisernen Garde in Rumänien, verehrte Hitler und begrüßte den in Deutschland heraufziehenden Nationalsozialismus mit Sätzen wie: »Was ist für die Humanität verloren, wenn die Leben einiger weniger geistig und moralisch schwacher Menschen genommen werden?« Sich ohne sachlichen Grund als Angehöriger einer geistigen Elite zu empfinden, die sogenannte Massendemokratie zu verachten, über angebliche Zusammenhänge zwischen Intellekt und »Vererbung« zu schwadronieren und einander in menschenverachtenden Sentenzen zu überbieten, gehörte aber nicht einfach nur zum guten Ton in den Boheme-Zirkeln des damaligen Bukarest, wo Cioran auch Eugène Ionesco und den späteren Religionsphilosophen Mircea Eliade kennenlernte. Vielmehr war es das innerste Bedürfnis des intellektuellen Lumpenproletariats der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre, die offensichtliche Kluft zwischen dem eigenen politischen Machtanspruch und der realen ökonomischen Ohnmacht durch philosophische Allmachts- und Ausmerzungsphantasien aus der Welt zu halluzinieren.
Insofern ist gerade der vielgepriesene Pessimismus von Ciorans Denken, der die Menschen hämisch noch einmal auf den Gattungsstatus zurückpfeift, aus dem sich zu befreien ihre geschichtliche Berufung wäre, ein Nachklang der Begeisterung für den Faschismus, die bei Cioran so wenig wie bei irgendjemandem sonst eine bloße Modeerscheinung war. Wenn er noch 40 Jahre später in einem Band, der sich wie eine Zitatsammlung für ein misanthropisches Poesiealbum liest, erneut den Satz niederschreibt, das Recht, alle uns Lästigen »auszumerzen«, müsse »in der Verfassung eines idealen Staates an erster Stelle stehen«, gesteht er ein, dass es jener Skepsis, auf die er sich beruft, nicht darum geht, die Partikularität alles Subjektiven zu begreifen, um die Subjekte zu ihrem Recht kommen zu lassen, sondern im Gegenteil darum, die subjektive Willkür zum allgemeinen Gesetz zu erheben.
Doch obwohl in der Inhumanität, die in Ciorans Aphorismen immer wieder durchschlägt, die pubertäre Anmaßung des Frühwerks fortlebt, hat sich deren Stellenwert verändert. Der Übergang zum Französischen, der mit der fast ausschließlichen Hinwendung zum Aphorismus und einer starken sprachlichen Verdichtung einhergeht, trägt dazu bei, dass der Menschenhass selbst zu einer Art Witz über die eigene Unzulänglichkeit wird. Seine miesepetrigen Auslassungen werden in den späten Texten immer stärker zu Selbstkommentaren: »Lesen heißt, einen anderen sich für uns plagen lassen. Die subtilste Form der Ausbeutung.« – »Ein Buch zu veröffentlichen, bringt dieselben Komplikationen mit sich wie eine Hochzeit oder eine Beerdigung.« – »Länger als eine Viertelstunde kann man nicht an der Verzweiflung eines anderen teilnehmen, ohne die Geduld zu verlieren.«
Ähnlich wie Thomas Bernhard hat es Cioran in seinen späten Büchern geschafft, in ein und demselben Atemzug über die schlechte Welt, das schlechte Wetter und die schlechte Verdauung zu schimpfen, und auf diese Weise dem verbreiteten Lebensgefühl zum Ausdruck verholfen, dass das gesellschaftliche Elend längst den gesamten Alltag vom morgendlichen Arztbesuch bis zum abendlichen Entspannungsbad grundiert. Deshalb kennt, wer Ciorans Bücher aufmerksam gelesen hat, seine Idiosynkrasien und Vorlieben, Spleens und schlechten Angewohnheiten genauso gut wie die eigenen: die chronische Schlaflosigkeit, auf die er immer wieder genervt zu sprechen kommt (»Die ganze Nacht hindurch Himalajas hochgehoben – und das nennt sich Schlaf«), seine Liebe zur Musik (»Mit Ausnahme der Musik ist alles Betrug«), seine notorische Faulheit und Lethargie (»Alles kann man sich vorstellen, alles voraussagen, nur nicht, wie tief man selbst versacken kann«). Auf diese Weise verwandelt er sich, je vertrauter man mit seinem Werk ist, immer mehr in einen guten alten Bekannten, der einen häufig amüsiert, aber selten überrascht. Und dennoch kann man ihn nur so lesen, nicht als den abgründigen Zweifler an der menschlichen Existenz, als der er bei seinen Bewunderern gilt. Nimmt man ihn allzu ernst, werden seine Weisheiten schal, seine Tics penetrant und seine Meinungen gefährlich. Als professioneller Misanthrop aber, der seine persönlichen Abneigungen mangels praktischerer Talente zum Brotberuf gemacht hat und dessen Textbausteine sich hervorragend zur Abfederung dandyesker Lebensmüdigkeit eignen, hat er uns noch immer viel zu bieten.