Eine Reportage über die jüngsten Proteste auf dem Tahrir-Platz

Schüsse auf dem Tahrir-Platz

Der Sturz von Hosni Mubarak war nur der Beginn der ägyptischen Revolution. Jetzt wenden sich die Revolutionäre auf dem Tahrir-Platz gegen das Militär. Eine Reportage über die jüngsten Proteste.

Nun stehen die Zelte wieder. Es sind wenige, aber sie stehen: grüne und weiße Planen, über Eisenstangen und Stöcke gespannt. Im spärlichen Schatten einiger Sträucher dösen den Tag über diejenigen, die die Nacht durch auf dem Platz gewacht haben, Gruppen von Männern und Frauen hocken auf dem staubigen Boden in der Morgensonne, drängen sich um die ausgebrannten Wracks zweier Busse, entlang der Barrika­den aus Stacheldraht und Schrottautos, die die Zufahrtsstraßen zum Platz versperren. Der Tahrir-Platz im Zentrum Kairos, Symbol und Zentrum der ägyptischen Revolution, ist erneut besetzt.
Das ist eine Niederlage der ersten Revolution – und vielleicht der Beginn der zweiten. Sie kommt nicht überraschend. Seit Wochen hatte die Spannung zugenommen zwischen der Militärregierung, die nach dem Rücktritt Mubaraks die Macht übernommen hat, und der heterogenen, jungen Bewegung, die diese Revolution getragen hat. Als das Militär die Macht übernahm, jubelten ihm die Protestierenden noch zu. Die wenigen Demonstranten, die in den ersten Wochen vom Militär festgenommen wurden, schwärmten davon, wie respektvoll sie behandelt worden seien – voller Zuversicht, dass die Armee den Forderungen der Revolutionäre nachkommen würde. Im Gegensatz zur Polizei und der verhassten Sicherheitspolizei, die unter Mubarak willkürlich folterte, tötete und Menschen verschwinden ließ, konnte die Armee auf ihr gutes Image zählen. »Armee und Volk – Hand in Hand« – das war einer der Slogans der Revolution.

Zwei Monate nach der Revolution ist der Slogan Geschichte. Am 1. April haben die Jugendorganisationen wieder zur einer großen Demonstration aufgerufen: für die Erfüllung der Forderungen der Revolution – und zum ersten Mal gegen das Militär. Gründe gab es genug: die brutale Räumung der noch verbliebenen Zeltstadt auf dem Tahrir-Platz am 9. März, bei der mehr als 200 Menschen festgenommen, gefoltert und zum Teil von Militärgerichten zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurden. Ein neues Gesetz gegen thugs, Schläger oder Halunken, das mit einer langen Liste von möglichen Verbrechen den seit 30 Jahren geltenden Ausnahmezustand weiter verschärft und willkürliche Verhaftungen und Verurteilungen erleichtert. Ein zweites Gesetz, zwei Wochen später beschlossen, das jede Art von Streiks und Protesten verbietet, sofern sie das reibungslose Funk­tionieren von Wirtschaft und öffentlichen Institutionen behindern. Wenige Stunden nach seiner Verabschiedung wurde es schon angewandt, um die Kairoer Universität zu räumen, wo Studierende für die Absetzung der Professoren des alten Regimes kämpften.
Mehr noch als gegen die Proteste der politisierten Jugendlichen richtet sich dieses Gesetz gegen Streiks, die im allgemeinen Klima von Aufbegehren und Organisierung enorm zugenommen haben – ein Gewerkschafter schätzt, dass es seit der Revolution mehr Streiks gab als im ganzen Jahrzehnt zuvor. Zahlreiche unabhängige Gewerkschaften entstehen. Das Militär, der größte Wirtschaftsakteur Ägyptens, dem etwa 25 Prozent des Landes gehören, trifft die Reihe von Streiks hart. Umso härter geht es gegen sie vor. Die Medien, deutlich freier als vor der Revolution, berichten darüber nicht: Die Streiks sind, ebenso wie Kritik am Militär, die letzten großen Tabus nach der Revolution.

Bereits am 1. April kam rund eine halbe Million Menschen auf den Tahrir-Platz. Die Organisatoren waren selbst überrascht – und riefen für den Freitag darauf zur nächsten großen Demons­tration auf. Dieses Mal rufen auch die Muslimbrüder auf, die unter der Herrschaft Mubaraks die größte organisierte Oppositionsgruppe waren, doch seit seinem Rücktritt gespalten sind. Die Jugendorganisationen, Gruppen und kleinen Parteien, von denen in den vergangenen Wochen so viele entstanden sind, kooperieren: Drei Tage vor der großen Demonstration treffen sich jeweils drei Delegierte von mehr als 100 Organisationen, um gemeinsam zu den Protesten aufzurufen und sie zu koordinieren.
Und nun kommen noch viel mehr Demonstranten als die Woche zuvor. Um die Mittagszeit ist auf dem weitläufigen Platz bereits kein Durchkommen mehr. An den Eingängen durchsuchen freiwillige Ordner die Demonstranten nach gefährlichen Gegenständen. Als um die Mittagszeit der Muezzin über die Lautsprecher zum Gebet ruft, beugen sich Tausende zu Boden. Zwischen den Betenden stehen Menschen, die sie mit ihren Handys filmen. Kaum ist der Gebetsruf verstummt, brausen an allen Ecken des Platzes die Sprechchöre auf, Musik und Reden dröhnen aus verschiedenen Lautsprechern.
Hoch oben kreisen Militärhubschrauber über dem Platz. Unter den Demonstranten sind ein paar wenige uniformierte Soldaten. Ein sehr junger von ihnen wird von den Protestierenden unter Jubel über den Platz getragen, er erklärt laut, warum er hier ist und sich den Protestierenden angeschlossen hat. Schweiß steht ihm auf der Stirn, nicht nur von der Hitze: Er weiß, worauf er sich eingelassen hat. Wenige Tage vor der Demonstration ist im Internet die Videoansprache eines Offiziers aufgetaucht, der die Soldaten dazu aufruft, sich den Protesten anzuschließen. Das Militär dementierte umgehend, dass es sich um einen Armeeangehörigen handelte – und kündigte an, jeden Soldaten, der sich in Uniform auf dem Platz zeigt, umgehend vor ein Militärgericht zu stellen. Dennoch sind rund 40 Soldaten und Offiziere gekommen, in einem eigenen Zelt geben sie Interviews und lassen sich feiern. Vermutlich ist in diesem Moment nicht allen klar, welchen Preis sie für ihre Aufrichtigkeit bezahlen werden.
Die Sonne sinkt, auf einer Bühne vor dem riesigen Verwaltungsblock im Süden des Platzes beginnt Ramy Essam zu spielen. Der Sänger, der während der Besetzung des Tahrir-Platzes mit seinen Revolutionssongs bekannt geworden ist, war am 9. März unter jenen, die verhaftet und brutal gefoltert wurden. Er hatte diese Erfahrung in einem Video bekannt gemacht – und dazu beigetragen, dass die Rebellen kurz darauf zum ersten Mal nicht mehr mit dem, sondern gegen das Militär demonstrierten. Auf der Demonstration am 1. April spielte er dann überraschend einen schon etwas älteren Song, der über die arabischen Armeen spottet. Im ersten Moment wagte niemand im Publikum zu lachen oder zu klatschen – und doch macht der Song die Tage darauf die Runde, ein Konzert Essams wurde vom Militär zuerst verboten, dann unter Auflagen doch erlaubt. Jetzt, eine Woche später, rufen die Protestierenden vom ersten Lied an nach diesem Lied, klatschen und rufen den Refrain. Die Sonne geht hinter dem Gebäude der Arabischen Liga unter. Auf dem Platz sammeln Jugendliche den Müll in Plastiktüten, bereiten den Boden für die Zelte vor. Sie haben angekündigt, die Nacht zu bleiben – den Platz wieder zu besetzen.

Um zwei Uhr beginnt die Ausgangssperre. Kurz vor zwei Uhr ist die Anspannung kaum auszuhalten. Wird das Militär angreifen, wenn nach zwei Uhr noch Leute auf dem Platz zusammenstehen? Der Platz liegt im gelben Licht der Laternen, rund 5 000 Menschen sind noch da, stehen in Gruppen, schauen hierhin, dorthin, diskutieren. Wieder spielt Ramy Essam, dieses Mal auf einer Bühne aus Kisten, die Boxen röhren, die jungen Menschen, die sich vor der Bühne versammelt haben, tanzen sich die Anspannung aus dem Leib. »Wahid, ithnain, al-gaysh al-arabiy fain – eins, zwei, wo sind die arabischen Armeen«, singt Essam, die Menge singt laut mit, und dann, auf einen Schlag, ist es zwei Uhr und die Musik aus. Nichts geschieht. Warten. Kein Militär ist zu sehen. Sie greifen nicht ein! Der Platz bleibt besetzt! Musik setzt wieder ein, die Menschen tanzen auf der Straße.
Doch sie freuen sich zu früh. Um drei Uhr ist das Militär auf einmal doch da, die Verteidigung des Platzes ist noch nicht organisiert. Von allen Seiten kommen Soldaten und kesseln die Protestierenden ein – und sie eröffnen das Feuer. Sie schießen zunächst noch in die Luft, dann in die Menge, die Schüsse hallen von den Häuserwänden wieder, das Rattern der Gewehrsalven ist in der ganzen Innenstadt zu hören. Das Militär, das sich nie in der Geschichte mit Waffen gegen die eigene Bevölkerung gerichtet hatte, das sich während der Revolution geweigert hatte, auf die Bevölkerung zu schießen, schießt nun auf die Protestierenden. »Wie Tiere haben die uns zusammengetrieben, auf uns geschossen!« sagt Rana. Die Menschen rennen, rennen um ihr Leben, in die eine Richtung, die frei geblieben ist, Richtung Nil. »Ich dachte, meine Lungen müssten platzen. Ich habe meine Gruppe verloren, ich war am Nil unterwegs, mit zwei jungen Männern, die ich nicht kannte.« – »Zwei Stunden bin ich nur gerannt«, sagt Musta­fa. »Um mein Leben. Mein Gott, die haben scharf auf uns geschossen!«
Das Militär habe, so erzählen es Augenzeugen noch unter Schock, das Zelt gestürmt, in dem sich die Soldaten befanden, die sich dem Protest angeschlossen hatten, sie hätten drei von ihnen erschossen, mehrere totgeprügelt. Und die Gewalt beschränkt sich nicht auf den Platz. Die ganze Nacht ziehen Soldaten durch die Straßen, schießen auf Häuser, aus denen gefilmt wird, mindestens ein Mensch, so berichten Zeugen, sei ­dabei erschossen worden. Am nächsten Tag berichten Medien von zwei Toten, manche auch von sieben.

Nach dieser Nacht ist nichts mehr wie zuvor. Aber zumindest eines ist klar: Wer der wirkliche Gegner ist und gegen wen die Bewegung für mehr Demokratie, für ein wirklich neues Ägypten kämpft. »Wir haben die erste Revolution gewonnen – gegen eine Marionettenregierung«, schreibt ein Aktivist auf Facebook. »Jetzt folgt die zweite Revolu­tion. Und dieses Mal geht es gegen die wirklichen Herrscher dieses Landes, das Militär.« Am Nachmittag hält Mubarak, der abgesetzte Präsident, eine verwirrende Fernsehansprache, in der er alle Vorwürfe von sich weist und erklärt, er wolle seine Amtszeit bis zu den nächsten Wahlen fortsetzen. Unklarheit: Was soll das heißen? War das nur ein verrückter Einfall von ihm? Oder ist diese Ansprache, genau in diesem Moment, abgesprochen und geplant?
Am Abend gegen sechs Uhr sind sie alle wieder da. »Wenn wir jetzt aufgeben«, sagt Nusa, »haben wir alles verloren, wofür wir gekämpft haben. Und nur ein neues Regime, genauso schlimm wie zuvor.« Rund 3 000 sind gekommen, entschlossen, den Platz diese Nacht zu verteidigen, koste es, was es wolle. An den Zufahrtsstraßen werden Barrikaden errichtet, manche aus Brettern und Stacheldraht, andere aus umgestürzten Lastern und Autos. In dieser Nacht gibt es keine Musik, sondern Anspannung, Unruhe, Diskussionen über die richtige Strategie. In den umliegenden Straßen sind Gruppen unterwegs, um vor dem herannahenden Militär zu warnen. Die Menschen auf dem Platz sind jung, auch einige Muslimbrüder sind dabei, viele, vor allem junge Frauen. Zehn Minuten vor zwei herrscht Stille. Dann ist es zwei. Zehn nach zwei. Nichts geschieht. Auch nicht um drei, um vier. Um fünf Uhr, als die Ausgangssperre wieder endet, verkünden Twittermeldungen voller Jubel: »Geschafft! Kein Angriff des Militärs! Der Platz bleibt besetzt!«
Auch die Nacht darauf bleibt es ruhig. Das Militär bleibt in seinen Stützpunkten rund um den Platz, doch es rührt sich nicht. Die zweite Revolution beginnt ihren dritten Tag. Der Entschluss ist gefasst: Der Platz bleibt in den Händen der Protestierenden, bis das Militär den Forderungen der Revolution nachkommt und seine eigene Macht beschränkt. Für Freitag ist die nächste große Demonstration geplant. Gerüchte gehen um, dass sich Teile des Militärs anschließen wollen – genau das, was die Militärführung um jeden Preis verhindern will. Die zweite Revolution ist noch nicht gewonnen. Aber sie hat begonnen.