Die US-amerikanische Atompolitik. Teil 6 einer Serie über die internationalen Atomdebatten

Reactors we can believe in

Weiterhin hält US-Präsident Barack Obama die Atomkraft für eine »saubere Energiequelle«. Doch die Anti-AKW-Bewegung wird stärker. Teil 6 einer Serie über die internationalen Debatten zum Thema Atompolitik.

Nicht nur Tsunamis und Erdbeben können die Stromversorgung eines Atomkraftwerks unterbrechen. Am 16. April zerstörte ein Tornado die Leitungen zu den beiden Reaktoren der Surry Power Station in Virginia. Doch die Notstromaggregate sprangen an und sicherten die Kühlung, sodass die Aufsichtsbehörde Nuclear Regulatory Commission (NRC) den Vorfall nur als »ungewöhnliches Ereignis« einstufte.
Vorfälle diese Art werden in den USA nun aufmerksamer registriert. Nach der Katastrophe in Fukushima nahm die Unterstützung für die Atomenergie einer Gallup-Umfrage zufolge kurzzeitig ab, zum letzten Mal war die Atomkraft Anfang der achtziger Jahre so unbeliebt. Doch ist der Zuspruch wieder gewachsen und liegt nun beim Durchschnittswert der Umfragen in den vergangenen zehn Jahren. Knapp die Hälfte der Bevölkerung befürwortet den Bau neuer Reaktoren, 58 Prozent meinen, dass die Atomkraftwerke in den USA sicher seien.
Auf dem neuesten Stand der Technik sind die Kraftwerke nicht, alle 104 Reaktoren in den USA wurden vor dem Jahr 1974 errichtet. In einer Rede zur Energiepolitik Ende März versprach Präsident Barack Obama eine »Überprüfung der Atompolitik«. Doch ist weder ein Ausstieg noch eine Abschaltung besonders gefährlicher Reak­toren geplant, vielmehr zählt Obama die Atomkraft »wie Wind und Sonne« zu den »sauberen Energiequellen«.
In Three Mile Island nahe Harrisburg war im Jahr 1979 nicht einmal ein katastrophales Naturereignis die Ursache des Unfalls. Schlamperei bei der Wartung und Bedienungsfehler hätten fast zu einer vollständigen Kernschmelze geführt, gerade noch blieb es bei einem »ernsten Unfall« der Stufe 5 auf der »Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse«. Zufällig war kurz zuvor der Film »The China Syndrome« in den Kinos angelaufen, der ein ähnliches Szenario schildert.
Der Unfall auf Three Mile Island war eine Zäsur in der Geschichte der amerikanischen Atompolitik, seither sind keine neuen Reaktoren ans Netz gegangen. In den achtziger Jahren wurden die Planung und der Bau zahlreicher Atomkraftwerke unterbrochen. Zwar gab es nur wenig Druck, Reaktoren stillzulegen, aber auch wenig politisches Interesse, die Errichtung neuer Atomkraftwerke zu fördern. Der Grund für die Zurückhaltung war weniger der Zweifel an der Atomkraft. Vielmehr ist es nicht gelungen, überhaupt eine staatliche Energiepolitik zu entwickeln. Seit über zehn Jahren verhindern etwa die Republikaner und der Industrie nahestehende Demokraten alle Bemühungen, die Menge der Kohlendioxidemis­sionen zu senken.
Seitdem Präsident George W. Bush im Jahr 2005 die Reduzierung der Ölimporte im Interesse der »nationalen Sicherheit« ankündigte, propagieren die Ölkonzerne die Erschließung einheimischer Quellen – auch im Golf von Mexiko, wo sich vor einem Jahr eine Explosion auf der BP-Ölbohrplattform »Deepwater Horizon« ereignete – und kämpfen gegen Umweltschutzmaßnahmen. Die Kohleindustrie hingegen präsentiert sich umweltbewusst, mit neuen Technologien soll angeblich »saubere Kohle« einen Beitrag zur Senkung des Kohlendioxidausstoßes leisten. Bis diese Technologien zu verwenden sind, laufen allerdings die alten Kraftwerke weiter.

Die Lobbyisten der Atomindustrie präsentieren die Atomkraft als »saubere Energiequelle«, die kein Kohlendioxid ausstoße, und verbündeten sich mit demokratischen Politikern, die eine Wende in der Klimapolitik fordern, im Machtkampf mit den Ölkonzernen. Diese Bemühungen waren erfolgreich. Die unter Präsident George W. Bush begonnene Planung der ersten Reaktorneubauten seit den siebziger Jahren wurde nach dem Amtsantritt Obamas, der bereits zuvor mit einer »Renaissance der Atomkraft« sympathisiert hatte, beschleunigt. Die Aufsichtsbehörde NRC arbeitet seither an der Genehmigung zahlreicher Bauvorhaben. Anfang des Jahres versprach Obama eine Förderung der Nuklearforschung und staatliche Bürgschaften in Höhe von 36 Milliarden Dollar für den Bau von 20 neuen Reaktoren.
Bislang scheint die Katastrophe in Fukushima diese Pläne nicht zu beeinflussen, in seiner Rede Ende März kritisierte Obama nur die Ölindustrie. Obwohl ein Konsens mit der republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus über die Energiepolitik als ausgeschlossen gilt, scheint sich Obama nicht von seinen Verbündeten in der Atom­industrie distanzieren zu wollen.

Allerdings rebellieren einige demokratische Kongressmitglieder gegen die Atompolitik des Präsidenten, allen voran Ed Markey, der ranghöchste Abgeordnete im Energieausschuss des Repräsentantenhauses. Er fordert ein Moratorium bei den Genehmigungsverfahren und Bauvorhaben bis zum Abschluss einer Untersuchung der Katas­tro­phe in Fukushima, überdies sollen neue Sicherheitsmaßnahmen vorgeschrieben werden. Die von Markey eingereichte Gesetzesvorlage gilt jedoch als chancenlos.
Die außerparlamentarische Anti-AKW-Bewegung konnte in den frühen achtziger Jahren vor allem in Kalifornien eine Reihe von Erfolgen erkämpfen. Sie verlor jedoch seit den neunziger Jahren an Einfluss, weil der Klimawandel als das drängendere ökologische Problem betrachtet wurde. In den vergangenen Jahren bildeten sich neue Gruppen, die seit dem Reaktorunfall in Fukushima mehr Zulauf haben.
Mitte April reichte eine Koalition von 45 Nichtregierungsorganisationen eine Petition bei der NRC ein, die ein Moratorium bei allen anstehenden Entscheidungen bis zum Abschluss einer umfassenden Untersuchung fordert. Viele Klagen gegen neue Projekte sowie bestehende Atoman­lagen werden vorbereitet, das juristische Vorgehen war in den USA bislang die erfolgreichste Strategie. Es werden aber auch allgemeinere Forderungen erhoben, der 1978 gegründete Nuclear Information and Resource Service propagiert den Ausstieg aus der Atomenergie und die sofortige Still­legung von 23 besonders unsicheren Reaktoren sowie aller Atomkraftwerke in Erdbebengebieten.

Eine andere Strategie vieler NGO zielt darauf, den Betrieb von Reaktoren unrentabel zu machen. So fordert die Union of Concerned Scientists (UCS) die Rücknahme aller staatlichen Subventionen für die Atomindustrie und die vollständige Privatisierung der Kosten, die ein Reaktorunfall verursacht. Ohne die staatlichen Subventionen wäre die Atomindustrie einer im vorigen Jahr veröffentlichten Studie der UCS zufolge nicht profitabel. Es wäre schwierig, wenn nicht unmöglich, eine private Versicherung gegen Reaktorunfälle abzuschließen. Derzeit gibt es nur einen gemeinsamen Fonds der Atomindustrie, in den zehn Milliarden Dollar eingezahlt wurden, diese Summe würde nur den Bruchteil der Kosten einer Reaktorkatastrophe abdecken.
Es wird jedoch auch auf der Straße protestiert, hauptsächlich von lokalen Widerstandsbewegungen, die wieder stärker geworden sind oder sich neu gebildet haben. Demonstriert wird vor allem gegen besonders marode Reaktoren, etwa Ende März in Vermont, wo die NGO Beyond Nuclear versucht, die Stilllegung eines Reaktors zu erzwingen, der vom gleichen Typ ist wie die Atomkraftwerke in Fukushima und in dem es in den vergangenen Jahren zu mehreren kleinen Unfällen gekommen ist. Proteste gibt es auch in New York gegen die 50 Kilometer von der Stadt entfernte Atomanlage Indian Point, die als unsicher gilt. Die Gefährdung Tokios scheint vor allem in den Großstädten im Nordosten der USA die Protestbewegung gestärkt zu haben. Doch auch in anderen Regionen sind für die kommenden Wochen Dutzende lokale Proteste geplant.