Über die deutsche Linke und die arabischen Aufstände

Gaddafi muss weg!

Gaddafis Sturz ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Gesellschaft in Libyen anhand von sozialen Interessen zivil und demokratisch formieren kann. Doch vielen Linken scheinen die Menschen dort egal zu sein.

In der deutschen Linken spielen die libyschen Aufständischen fast keine Rolle. Auch die Linkspartei reagierte mit den zu erwartenden Reflexen auf die Eskalation in Libyen. Bereits am 25. Februar formulierte die Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz, die in der Vergangenheit schon mal eine Zusammenarbeit mit der Hizbollah befürwortet hatte, die Sichtweise ihrer Partei: Zwar sei Gaddafi ein Diktator und die Angriffe auf die Zivilbevölkerung seien zu verurteilen, allerdings stelle sich die »Linke« vehement gegen jede Form der äußeren Einmischung: »Eine militärische Intervention würde die Opposition schwächen, die Bevölkerung hinter dem Regime einen und viele Menschenleben kosten.«
Für die tatsächlich immer mehr Toten des Krieges ist allerdings nach wie vor vor allem Gaddafi verantwortlich: Misrata ist immer noch unter schwerem Beschuss durch seine Truppen. Nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen wurden vom libyschen Militär auch Streubomben eingesetzt, die vor allem die Zivilbevölkerung trafen. Erst als die Einnahme der Stadt und damit ein Massaker drohte, kam es zu einer Reaktion: Der amerikanische Präsident genehmigte den Einsatz von unbemannten Drohnen, um die Belagerung von Misrata zu beenden. Infolgedessen haben sich die Truppen Gaddafis vorläufig zurückgezogen. Die Angriffe auf die Stadt gingen jedoch unvermindert weiter.
Durch die Einrichtung der Flugverbotszone schien es zunächst, als ob unter britischer und französischer Führung und mit US-amerikanischer Hilfe die Truppen Gaddafis entscheidend geschwächt werden konnten und der Sturz der Diktatur nur noch eine Frage der Zeit sei. Nach der Übernahme der Operation durch die Nato stellt sich die Situation allerdings anders dar. Die Hoffnung vieler Libyer ist enttäuscht worden. In Misrata und Bengasi fragen sich die Menschen angesichts der jüngsten Entwicklung: Wo bleibt die Nato? Warum erfolgt kaum Unterstützung von der Luft aus? Wann kommen Bodentruppen?

Dass die Aufständischen in Libyen keineswegs gegen eine westliche Einmischung sind, sondern diese im Gegenteil herbeiwünschen, spielt für Christine Buchholz von der »Linken« keine Rolle. Die Menschen in den arabischen Ländern erscheinen in ihrer oben zitierten Presseerklärung nicht als handelnde Subjekte, die für ihre Interessen eintreten, sondern als homogene Masse, die sich automatisch gegen jede äußere Einflussnahme wehrt. Buchholz kann nur in Schwarz-Weiß-Kategorien denken. Der autochthonen Lebensweise in den arabischen Gesellschaften wird ein imperialistischer »Westen« gegenübergestellt, der per se schlecht sei. Die Komplexität der modernen Gesellschaften hat in diesem manichäischen Weltbild keinen Platz.
Die hier exemplarisch zum Ausdruck kommenden antiimperialistische Ideologie ist angesichts der Realität unhaltbar. Der Antiimperialismus ist heutzutage nichts anderes als die Projektion dogmatischer Linker, die abgedichtet gegen jegliche Erfahrung an ihrer Ideologie festhalten. Gerhard Hanloser ( Jungle World 16/2011) wies bereits darauf hin, dass sich die stalinistische Junge Welt die vermeintlich antiwestliche Gefühlslage der arabischen Straße zurechtlügen muss, um die libysche Diktatur als authentischen Ausdruck der dortigen Zustände zu rationalisieren. Wenn es nur der Autor Werner Pirker wäre, könnte eine derartige Position als obsolete Skurrilität abgetan werden. In der Linkspartei sind derartige Stimmen allerdings nicht minoritär.
Christine Buchholz etwa wird nicht ausgelacht oder hochkant aus dem geschäftsführenden Parteivorstand geworfen, im Gegenteil: Ihre Sicht wurde durch nahezu alle Stellungnahmen ihrer Parteikollegen bestätigt. So veröffentlichte der Bundesvorstand am 20. März eine Resolution mit demselben Tenor und die Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch und Klaus Ernst riefen zu einer Demonstration am Brandenburger Tor auf – unter dem Motto: »In Libyen droht Krieg.« Scheinbar drohte also erst durch die Einrichtung der Flugverbotszone Krieg. Der Einsatz des libyschen Militärs gegen die eigene Bevölkerung ist demzufolge offenbar kein Krieg. Bereits zwei Tage zuvor hatte Jan van Aken für die »Linke« in der Bundestagsdebatte Stellung genommen. Er lobte Außenminister Guido Westerwelle für die Enthaltung Deutschlands bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat, um dann der SPD »Kriegstreiberei« vorzuwerfen. Außerdem verwies er darauf, dass das UN-Mandat auch als Erlaubnis für einen begrenzten Einsatz von Bodentruppen interpretiert werden könne. Während seiner Rede zollten die anderen Abgeordneten der Linkspartei rege Beifall. Nur äußerst zögerlich rang sich auch Stefan Liebich zu einem Applaus durch.

Als Parteipolitiker kommt Liebich nicht ohne Phrasen aus. Deshalb schreibt er in seinem Beitrag (15/2011), dass die Linke als Partei auf der Seite der Schwachen und Unterdrückten stehe. Um der Ächtung durch die eigenen Genossen zu entgehen, scheinen Banalitäten ein notwendiges Zugeständnis. Doch Liebich dürfte es zugleich um eine Stellungnahme gegen die hermetische Parteilinie zum Libyen-Krieg gehen. Denn implizit kritisiert er seinen Parteikollegen van Aken, wenn er darauf verweist, dass die Befürwortung der Flugverbotszone nicht einfach als »Kriegstreiberei« abgetan werden könne. Geradezu salomonisch führt Liebich aus, dass das Nachdenken über Libyen in der Linkspartei zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen geführt habe und neben dem hegemonialen antiimperialistischen Dogma mittlerweile andere Stimmen zu vernehmen seien, die eine ernsthafte Auseinandersetzung über die Außenpolitik der Partei forderten.
Zweifellos ist dies ein Fortschritt, nichtsdestotrotz ist auch Liebichs Position zu kritisieren. Zwar merkt er an, dass der Veränderungsdruck in den arabischen Gesellschaften enorm und die bisherige EU-Politik gescheitert sei, allerdings fällt er auf eine rein formalistische Interpretation des Völkerrechts zurück. Die Uno dürfe in einem Bürgerkrieg nicht Partei ergreifen und der Beschluss des Sicherheitsrates lasse den Einsatz von Bodentruppen nicht zu. Dass sein Genosse van Aken gerade dies anders sieht, zeigt aber, dass die UN-Beschlüsse je nach politischer Maxime verschiedene Interpretationen zulassen – im Sinne der responsibility to protect könnten sie auch eine stärkere Intervention legitimieren.
Ob in Libyen ohne militärische Intervention ein Völkermord drohen und Gaddafi seine Ankündigung wahr machen würde, alle seine Gegner zu töten, ist nicht zu beantworten. Doch was heißt das? Soll deshalb besser keine Intervention stattfinden? Soll man hoffen, dass es zu keinem Massenmord kommt, und, falls doch, nachträglich über verpasste Möglichkeiten sinnieren? Oder soll man bereits bei einem drohenden Massenmord eingreifen? Dies ist nicht leicht zu beurteilen. Die Auswirkungen eines militärischen Einsatzes sind oft nicht einzuschätzen und die nicht beabsichtigten Konsequenzen vielfältig. Liebich hat deshalb Recht, wenn er vor vorschnellen Entscheidungen warnt. Zugleich ist jedoch der Umstand, dass man in Ruanda nicht eingegriffen hat, kein Argument gegen eine Intervention in Libyen, obwohl es häufig – auch von Hanloser – angeführt wird. Dass nicht alle Diktaturen gestürzt werden, heißt nicht, dass es nicht gute Gründe geben kann, im Einzelfall für einen regime change einzutreten.
Selbstverständlich hängt dies von den Interessen der beteiligten Staaten ab. Dies ist so richtig wie banal. Das subsaharische Afrika steht nicht im Fokus der Weltöffentlichkeit, während sich der Grund für das Interesse an der arabischen Welt ziemlich klar benennen lässt: Erdöl. Daraus jedoch abzuleiten, dass das gesamte Agieren der westlichen Staaten in der arabischen Welt vom Interesse am Öl geleitet sei, ist pure Ideologie und eine der Lieblingslügen der Friedensbewegung. Dass (Außen-)Politik primär von Interessen und nicht von humanitären Idealen geleitet ist, markiert tatsächlich ein Glaubwürdigkeitsproblem für intervenierende Staaten. Trotzdem ist dies kein ausreichender Grund, sich prinzipiell gegen Interventionen auszusprechen.
Die Entwicklung der vergangenen Monate in den arabischen Staaten hat nicht nur das endgültige Scheitern des antiimperialistischen Weltbildes offenbart, sondern auch die Fehleinschätzungen der meisten »Nahost-Experten«. Die berüchtigte arabische Straße ist weder prinzipiell anti-westlich noch ist sie ausschließlich vom Schicksal der Palästinenser bewegt. Vielmehr durchlaufen die arabischen Gesellschaften beispiellose Veränderungen. Die durch jahrzehntelange Repression internalisierte Angst ist gebrochen und die Menschen demonstrieren gegen ihre Regimes. Sie gehen keineswegs mehrheitlich für irgendeine panarabische oder islamistische Ideologie auf die Straße, sondern weil sie von den Verhältnissen um ihre Zukunft gebracht werden und ein besseres Leben einfordern.

Der Fortgang der Ereignisse in Libyen, Ägypten oder gerade auch in Syrien ist nicht abzusehen, die langfristigen Implikationen sind nicht auszumachen. Bereits jetzt lässt sich jedoch sagen, dass die Entwicklung nicht mehr rückgängig zu machen sein wird. Niemand weiß genau, wer die libyschen Rebellen und was ihre politischen Vorstellungen sind. Ob sie sich, wie Hanloser unterstellt, als neue UCK entpuppen könnten, vermag ich nicht einzuschätzen. Deutlich ist aber, dass eine Verbesserung der Verhältnisse nur ohne Gaddafi möglich ist. Sein Sturz ist die Prämisse dafür, dass sich die Gesellschaft anhand von sozialen Interessen zivil und demokratisch formieren kann. Zwar besteht die von Hanloser angeführte Gefahr, dass die Ansätze von Selbstorganisation in der libyschen Revolte durch die Militarisierung wieder zerstört werden. Allerdings scheint die Gefahr viel größer zu sein, dass die Truppen von Gaddafi nicht nur die Selbst­organisation zerstören, sondern die Rebellen selbst physisch vernichten. Diese ist trotz der Aufhebung der Belagerung von Misrata noch nicht gebannt.
Wenn zur Verhinderung von Massakern durch Gaddafis Armee eine Intensivierung des militärischen Engagements erforderlich wäre oder gar der Einsatz von Bodentruppen, wäre ich nicht dagegen. Realistisch hätten wohl nur die USA die militärischen Kapazitäten dafür. Der Besuch des Senators John McCain in Bengasi mag eine wichtige symbolische Unterstützung für die Rebellen sein. Dass die USA aber zu mehr bereit sein werden, als zur Entsendung von Drohnen, kann aufgrund der Lage im Irak und in Afghanistan getrost bezweifelt werden. Dass die Bevölkerung in Misrata nicht auf Deutschland zählen kann, weiß sie. Bleiben noch Großbritannien und Frankreich. Zwar haben sie Militärberater nach Bengasi geschickt, den Einsatz von Bodentruppen bisher aber kategorisch ausgeschlossen. Angesichts der Entwicklung der vergangenen Tage frage ich mich allerdings vor allem eins: Was macht eigentlich die Nato?