Katharina Weingartner im Gespräch über Turnschuhe als Fetischobjekte, Globalisierung und Migration

»Ich denke, dass der Wunsch nach Freiheit auch von der unbremsbaren Gier des Kapitalismus nach neuen Märkten gesteuert ist«

Katharina Weingartner über die Auswirkungen der globalen Marketingschlacht um das Fetischobjekt »Turnschuh« und die Sehnsucht junger schwarzer Männer, am Wohlstand in Europa und den USA teilzuhaben

Markenturnschuhe stehen für einen grenzüberschreitenden, globalisierten Lifestyle. Wenn es aber um Migration geht, bleiben die Grenzen vielen Menschen weiterhin verschlossen.
Der geniale Schachzug der Turnschuhindustrie war es, durch männliche afroamerikanische Protagonisten eine Sehnsucht zu erzeugen, die bis heute ihre Anziehungskraft nicht verloren hat. Von Michael Jordan bis LeBron James und Carmelo Anthony: Sie alle haben es von ganz unten geschafft, also probier auch du es! Eigentlich erstaunlich, dass diese Story immer noch so reibungslos funktioniert. Ende der neunziger Jahre, als sich in den USA eine Protestbewegung gegen die Sweatshop-Industrie formierte, gab es zwar bei Nike 1998 einen Umsatzeinbruch um 40 Prozent. Nike hat dann aber als Gegenstrategie und zur Aufbesserung des Konzernimages sehr viel Geld in soziale Projekte gepumpt, was offensichtlich funktioniert hat, denn die Kritik ist danach weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden.
Andererseits besitzt die Imagination einer grenzüberschreitenden Community, wie sie im Streetball übers Internet ganz stark vorhanden ist, auch ein befreiendes und emanzipatorisches Moment. Die Beschäftigung mit Basketball und Sneakers hilft dabei, einen tristen, aussichtslosen Alltag an einem Ort wie Nima in Ghana oder Red Hook in New York besser zu bewältigen. Das sind Projektionen, die weltweit einen ständigen Profit bringen, während die Sweatshop-Bedingungen nicht besser werden.
Welche Aktionsformen hat die Protestbewegung gegen die Sweatshop-Bedingungen Ende der Neunziger entwickelt?
Bei den Protesten 1997 in New York, die mich sehr beeindruckt haben, sind zum Beispiel Kids aus der Bronx mit Müllsäcken voller alter Nikes zur Hauptgeschäftszeit vor den Flagship Store in Manhattan gezogen und haben sie dort abgeladen. Damit wollten sie auf die doppelte Ausbeutung hinweisen, einerseits die der Arbeiterinnen in Indonesien und dann die ihrer Geldbeutel. Für das Image von Nike waren all die afroamerikanischen Schulkinder, die vor dem Geschäft und den Kameras sämtlicher TV-Stationen »slave labour« skandierten, nicht gut.
Im Zuge meiner Recherchen begann ich mich immer stärker für die hinter der Sweatshop-Problematik stehende Branding-Maschinerie zu interessieren. Wie entsteht der Mehrwert eines Produkts, was für Mechanismen werden betätigt, damit so etwas über einen so langen Zeitraum so gut funktioniert? Was passiert mit den Menschen, die in diese Mythenbildung hineingezogen werden? Dazu gibt es zwar Arbeiten im akademischen Kontext, aber wenige, die jüngere Konsumenten ansprechen. Ich hätte in »Sneaker Stories« auch gerne die Geschlechterverhältnisse mehr herausgearbeitet, denn die Schuhe werden einerseits fast ausschließlich von Frauen unter ausbeuterischen Bedingungen produziert und andererseits fast ausschließlich über Images von schwarzen Männern verkauft.
In Ihrem Film begleiten Sie die Streetball-Mannschaft aus Accra, der Hauptstadt Ghanas, bei ihrem Besuch in einem ehemaligen Sklavengefängnis, wo der Guide erläutert, dass die Sklaven »gebranded« wurden, um ihre Identifizierung zu erleichtern.
Ich war selbst überrascht über diese Konnotation, die mir erst in dem Moment klar wurde, als der Touristenführer in der Sklavenburg, von der aus ein Drittel aller Sklaven der Goldküste verschifft wurden, von »branded« sprach – dass also das »Brand«, ohne das wir heute keine Identität mehr haben, und das Brandzeichen, das den Sklaven wie Kühen und Pferden ein­gebrannt wurde, um den Besitz zu deklarieren, im Englischen ein und dasselbe sind. Es ging mir nicht um einen direkten Vergleich von Markenindustrie und Sklaverei, denn natürlich sind das sehr verschiedene Formen von Gewalt – die Verführung und Verfügbarmachung des Denkens durch Marken und die Verschleppung und Ermordung von Millionen von Menschen –, aber ich wollte eine Analogie herstellen zwischen den transatlantischen Transportwegen damals und heute. Ohne den industriellen Vorsprung der Arbeit der Sklaven im amerikanischen Süden wäre die millionenschwere Image-Industrie Amerikas nicht imstande, so mäch­tige Bilder des Sklaven-Nachkommen und Basketball-Stars Iverson nach Ghana retour zu schicken. Diese Bilder, die eine solche Sehnsucht nach einem anderen Leben wecken, in Kombination mit den Dumping-Gütern aus den USA und der EU, sind es, die Länder wie Ghana ruinieren.
Nike hat mir inzwischen offiziell verboten, ihre Produktionsverhältnisse in Südostasien als der Sklaverei ähnlich, als »slavelike conditions«, zu beschreiben. Eine Passage, in der Robin Kelley (Professor für American Studies and Ethnicity in Kalifornien; d. Red.) das in ­einem Interview sagt, musste ich wegen einer Klageandrohung von Nike voriges Jahr zurückziehen. Also stelle ich jetzt dazu besser keine Vergleiche an.
Gibt es in der westlichen Welt mittlerweile ein Bewusstsein für die Produktionsverhältnisse in den Sweatshops?
Ich denke schon, dass es dieses Bewusstsein inzwischen gibt. Gerade im deutschen Sprachraum ist doch das Thema der Konsumentenmacht allgegenwärtig. Ein politisches, Handeln ist durch eine »Politik des Geldbeutels« abgelöst worden. Deshalb funktionieren auch Strategien wie die von Nike zur Image-Aufbesserung so glänzend: Nike fertigt aus alten Schuhen Bodenbeläge für Spielplätze in afroamerikanischen Wohnvierteln und lädt NBA-Stars zur Einweihung, alle Fernsehsender berichten, und schon ziehen sich alle wieder diese Schuhe an. Im Film versucht ein Protagonist einen Nike-Boykott zu organisieren, natürlich ohne Erfolg, denn keine Marke hat einen so starken Iden­tifikationswert im Brooklyner Viertel Red Hook wie Nike.
In dem in Accra angesiedelten Teil des Films wird der Versuch eines jungen Mannes geschildert, mit dem Boot nach Europa zu gelangen. Die Flucht misslingt, da das Boot kentert, und viele Passagiere sterben. War es Ihnen wichtig, auch diese Dimension der europäischen Politik der Sicherung der Außengrenzen zu reflektieren und sie in ein Verhältnis zu den grenzüberschreitenden Warenströmen zu setzen?
Die Flucht von Karfí war für alle ein Schock, das ist mitten in unserem dreiwöchigen Dreh passiert. Da er keine zentrale Figur ist und ­wegen seiner Flucht die meiste Zeit nicht da war, konnte ich sie nur als kleine Episode einbauen. Aber es ist leider genauso wie in diesem Fall: Karfí ist ein unglaublich starker und ein sehr kluger und überlegter Mensch, aber er hat nur sehr marginale Vorstellungen von dem, was in Italien passieren soll. Er hat keine Ahnung, wie hart sein Leben in Italien wäre und wie rassistisch Europa ist. In Nima arbeitet er in einer Wäscherei, und die Familie lebt sehr karg, hat aber genug zu essen. Trotzdem riskiert er sein Leben, kommt beinahe um und will so bald wie möglich den nächsten Versuch starten. Er ist 28 und will über die italienische Liga zur NBA! Und seine Mutter und die ganze Familie wollen das auch, obwohl er fast gestorben wäre. Ich hatte vor diesem Erlebnis keine Idee davon, wie mächtig die Bilder sind, die wir hier kreieren und wie brutal und zynisch unsere Abschottung ist, auch weil sie mit der Vermarktung unseres Lebensstils einhergeht, der erst durch die Ausbeutung von Arbeitskräften ermöglicht wird.
Das Gleiche gilt für Bilder, die aus Amerika nach Ghana importiert werden: Die Viertel in Nima, dem muslimischen Teil von Accra, tragen die Namen afroamerikanischer Stadtteile wie Harlem, South Central, Bronx, etc. Fast alle dort haben Verwandte in den USA, von denen viele seit Jahrzehnten nicht zu Hause waren, weil sie keine Green Card haben und das Land nicht verlassen können. Sie schicken Dollar, Turnschuhe, Computer – und jede Menge Geschichten aus dem Paradies. »Been To’s« heißen Zurückgekehrte, und es scheint eine Praxis zu geben, nur das Beste aus der harten Zeit drüben weiterzugeben.
Aber für die Unstillbarkeit der Marken-Sehnsüchte und die komplette Abschottung braucht es gar nicht immer ein Meer, manchmal reicht auch ein Fluss: Zwischen der Wall Street in Manhattan und den Red-Hook-Projects in Brooklyn liegt nur der East River, aber seit dem Industrieabbau und dem darauf folgenden Aufstieg schwarzer Musik- und Sportikonen ist er unüberwindbar geworden.
Wie hängen denn der Industrieabbau und der Aufstieg der Sportikonen und der Sportindustrie zusammen?
Die aus dem Wegbrechen der Produktion und der nachfolgenden sozialen Katastrophe entstehende Leerstelle wird an Orten wie Red Hook in Brooklyn von der Kultur- und Werbewirtschaft vermarktet. Dafür gibt es kaum ein besseres Beispiel als den Basketballplatz der Inner City und die dazugehörenden arbeitslosen jungen Männer, deren Kampf um einen normalen Alltag den zentralen Fundus der vergangenen 25 Jahre urbaner Popkultur bildet. Gerade in Brooklyn gab es früher eine wichtige Schuhindustrie, bei der bis in die siebziger Jahre viele Afroamerikaner Arbeit fanden, die ihnen ein Leben in der unteren Mittelschicht ermöglichte. Anfang der achtziger Jahre haben sich die Sportartikelerzeuger als erste von den amerikanischen Produktionsstätten verabschiedet. Bevor der Begriff »Outsourcing« populär wurde, nannte man diese Entwicklung bezeichnenderweise »Nike Economy«. Mit der Senkung der Produktionskosten konnten Millionen Dollar in die teuerste Image-Kampagne gesteckt werden, die die Sport- und Bekleidungsindustrie je gesehen hatten: Michael Jordan wurde inszeniert von Spike Lee. Der Umsatz von Nike stieg von damals fünf Millionen auf heute zehn Milliarden Dollar. 2007 war das Marketingbudget von Nike größer als das Bruttoinlandsprodukt von Ghana. Obwohl Michael Jordan die NBA längst verlassen hat, verdient er bei Nike mit der Marke »Brand Jordan« immer noch 300 Millionen Dollar im Jahr.
»They are eating off of our struggle«, sagt ein Protagonist bei einer hitzigen Diskussion um die Rolle des Image-Leaders Nike, und ich glaube, besser kann man nicht ausdrücken, was hier stattfindet: Eine Arbeitslosenquote von 85 Prozent unter jungen Männern, das durchschnittliche Familieneinkommen liegt 4 000 Dollar unter der offiziellen Armutsgrenze, aber Carmelo Anthony aus Red Hook ist heute einer der ganz großen Stars in der NBA und mit einem Nike-Vertrag von 75 Millionen Dollar der höchstbezahlte Spieler nach LeBron James. Wie soll sich ein Jugendlicher auf Lebensmittelmarken in Red Hook diesem Mythos entziehen?
Gibt es Strategien des Protests gegen die Entwicklung in den betroffenen Vierteln?
HipHop war am Anfang eine Gegenstrategie, eine politische Kraft, die sich aber immer mehr von diesen Klischees vereinnahmen ließ. Aber in den achtziger Jahren glaubten viele daran, dass diese Stimme das Potential zu einer großen Veränderung hat.
Die Inhaftierungsquote unter jungen Schwarzen und Latinos stieg in den vergangenen 25 Jahren um das Dreifache, genau wie die Verkaufszahlen von Nike, der NBA und der HipHop-Industrie. Das ist kein Zufall. Ein Drittel aller afroamerikanischen Männer zwischen 16 und 28 steht heute unter Aufsicht der Justizbehörde, und Turnschuhe und HipHop/R’n’B ­gehören zu den verlässlichsten Konsumartikeln der Welt. Es ist ein Kreislauf. In Red Hook war der Zusammenhang mit der Schuhindustrie besonders evident, aber Ähnliches ist in Baltimore passiert, in der Bronx, in South Central etc. Mit der Absiedelung von Jobs wurde aus einer relativ stabilen schwarzen Arbeiterklasse mit regelmäßigem Einkommen ein Heer von Arbeitslosen, in New York sind es derzeit laut New York Times 52 Prozent aller afroamerikanischen Männer im arbeitsfähigen Alter. Die Wohnviertel, Schulen und Krankenhäuser wurden vernachlässigt und in die Trümmerhaufen der ehemaligen Produktionszonen zog eine Untergrundökonomie ein, die medialen Voyeurismus anzog: Drogen, Gewalt, Prostitution, »Welfare Queens«.
Die von Nike vermittelte Sehnsucht nach Freiheit ist ein Impuls, der auch in den Revolten in Nordafrika eine Rolle spielt. Die Proteste gehen von einer jungen Generation aus, die geprägt ist von den global verbreiteten Images des »just do it«. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Revolte und den Versprechen des Marketings?
Ich denke, dass dieser Wunsch nach Freiheit auch von der unbremsbaren Gier des Kapitalismus nach neuen Märkten gesteuert ist. Es genügt ja nicht, wenn diese jungen Leute Nikes und Adidas tragen, das tun sie ohnehin schon, es müssen die neuesten Modelle sein, und zwar jedes halbe Jahr neue, mit allem Drumherum. Dabei ist die Armut in Red Hook, genau über dem Fluss vom Financial District, dem mächtigsten Finanzzentrum der Welt, einfach überwäl­tigend: Die Stiegenhäuser sind vollgepisst, überall liegen Spritzen, nichts als Junk Food auf Lebensmittelmarken in den wenigen Supermärkten, eine Arbeitslosenquote von 85 Prozent, die höchsten Inhaftierungsraten der Welt und dazu ein Rassismus im Mainstream des Landes, der diesen ganzen Dreck nicht nur unsichtbar macht, sondern eine Nike-Version davon an die Jugend in Nordafrika verkauft.