Die Gewalt des Militärs gegen die indigene Bevölkerung im mexikanischen Bundesstaat Guerrero

Die Kämpferinnen aus Guerrero

Im Menschenrechtszentrum Tlachinollan im mexikanischen Bundesstaat Guerrero finden indigene Frauen, Männer und Kinder, was ihnen in Mexiko sonst kaum jemand bietet: kostenlose juristische Beratung und die Möglichkeit, sich gegen die Gewalt des Militärs und die staatliche Diskriminierung zu wehren.

Sie haben ihr Leben zerstört, ihre Zukunft, ihre Familie. Und doch wirkt Valentina Rosendo Cantú erstaunlich gefasst, fast sachlich, wenn sie erzählt, was ihr diese Männer an jenem 16. Februar 2002 angetan haben. »Ich war gerade beim Waschen am Fluss, kaum 200 Meter von unserem Haus entfernt, als plötzlich acht Soldaten vor mir standen.« Wo die Aufständischen seien, wollten die Uniformierten von der heute 26jährigen indigenen Mexikanerin wissen. Sie zeigten ihr Fotos angeblicher Guerilleros, drückten ihr einen Gewehrkolben in den Rücken. »Ich hatte Angst, denn sie trugen Waffen und drohten, alle im Dorf zu töten.« Sie wurde bewusstlos, wachte wieder auf, sah die Männer um sie herum. »Dann vergewaltigten mich zwei von ihnen, und die anderen schauten zu.«
So oft schon hat sie das alles erzählt. Die Schmerzen, das Fieber, die Angst danach. Und wie sie später zum Arzt ging, der sie aus Furcht vor den Militärs nicht behandeln wollte. Wie sie dann acht Stunden ins Krankenhaus in die Kleinstadt Ayutla gelaufen ist, wo sich auch niemand richtig um sie kümmerte. Und nicht zuletzt, wie sie von ihrem Mann verlassen wurde und mit der gerade geborenen Tochter alleine zurechtkommen musste. »Er schlug mich und sagte, ich sei nichts mehr wert, weil ich vergewaltigt wurde.«
Valentina Rosendo hat sich verändert in diesen neun Jahren. Mit der silbern glänzenden Armkette und den geschminkten Lippen erscheint sie städtisch, weit weg von der 200 Einwohner zählenden Gemeinde Barranca Bejuco, in der sie aufgewachsen ist. Dabei würde sie eines Tages gerne wieder in die Küstenregion Costa Chica im Bundesstaat Guerrero zurückkehren. Doch nun lebt sie erst einmal hier, in einer Wohnung im Hinterhof eines Gebäudekomplexes einer mexikanischen Großstadt, zwischen vierspurigen Straßen, hohen kahlen Mauern und gefährlich angebrachten Stromkabeln. Aus Sicherheitsgründen. Zurückzukehren ins Dorf, sagt sie, daran sei im Moment nicht zu denken.

Valentina Rosendo musste flüchten, weil sie sich damals wehrte. Weil sie Gerechtigkeit einklagte und dafür kämpfte, dass ihre Peiniger zur Verantwortung gezogen werden. Sie erstattete Anzeige bei den lokalen Behörden. Doch dann kamen wieder Militärs ins Dorf. »Sie wollten mich zwingen, die Anzeige zurückzunehmen, und drohten, dass die Regierung allen Bewohnern die Sozialleistungen streichen würde.« Nachbarn stellten sich gegen ihre Familie, der Vater begann zu trinken. Also verließ sie ihr Zuhause, zog mit ihrer Tochter in die Landeshauptstadt Chilpancinco. Auch dort musste sie flüchten: Sie wurde beobachtet, ihr Kind wurde der Schule verwiesen. Und so ging sie in jene mexikanische Metropole, in der sie sich heute aufhält. Schon zwölf Mal musste sie umziehen, und dennoch gab sie nicht auf. Doch kein Polizist, kein Staatsanwalt, kein Richter wollte ihre Geschichte hören. Sogar bei der staatlichen Ombudsstelle für Menschenrechte bekam sie eine Abfuhr. »So etwas tun Soldaten nicht«, wiesen die Beamten sie ab und machten sich über die junge Frau lustig, weil sie damals kein Spanisch, sondern lediglich die indigene Sprache Me’Phaa sprechen konnte.
Nur im Menschenrechtszentrum Tlachinollan fand sie Unterstützung. Rund fünf Busstunden entfernt von Chilpancinco haben sich Juristen, Sozialarbeiter und Aktivisten in der Kleinstadt Tlapa niedergelassen. Jeden Tag arbeiten sie in dem vierstöckigen Gebäude, das fast sämtliche anderen Häuser der Stadt überragt. Sie unterstützen Menschen, die Probleme mit den Behörden, der Armee oder den »Kaziken«, den örtlichen Mächtigen, haben. Hier finden die indigenen Frauen, Männer und Kinder, was ihnen sonst niemand bietet: kostenlose juristische Beratung sowie solidarische Begleitung, wenn nötig mit Übersetzung in die indigenen Sprachen Me’Phaa, Amuzgo oder Nahuatl. Und die Sicherheit, nicht von korrupten Beamten, Kriminellen oder Kaziken betrogen zu werden.
Fotos an den Wänden im Wartezimmer zeugen von den vielen Aktivitäten des Zentrums. Man sieht das Bild eines kleinen Jungen, der ein Transparent für den »Kampf um unseren Boden« in die Höhe hält, andere Bilder zeigen Demonstrationen für die Freilassung politischer Gefangener. Ein Poster zeigt zwei indigene Frauen. Ihr wütender, dennoch nicht verbitterter Blick unterstreicht eine Forderung: »Durchbrecht die Mauer der Straflosigkeit.« Es sind die Gesichter von Valentina Rosendo und Inés Fernández Ortega, die auf dem Plakat zu sehen sind und dafür stehen, dass Soldaten für ihre Verbrechen an der Zivilbevölkerung zur Rechenschaft gezogen werden. Auch Fernández wurde von Armeeangehörigen vergewaltigt. »Sie wurde ebenso in ihrer Gemeinde diskriminiert«, sagt Rosendo, »gemeinsam haben wir an jede Tür des Landes geklopft, um Gerechtigkeit zu bekommen.«
Abel Barrera Hernández, der Leiter des Zentrums Tlachinollan, weiß genau, wie schwierig es ist, die Uniformierten in Mexiko strafrechtlich zu belangen: Generell wird nur etwa ein Prozent aller Verbrechen in Mexiko strafrechtlich verfolgt, von Soldaten verübte Verbrechen werden nicht vor Zivil-, sondern nur vor Militärgerichten verhandelt. Der 51jährige ist in Tlapa geboren. Schon als Kind, in den siebziger Jahren, erlebte er, wie das Militär in Guerrero gewaltsam gegen die Bevölkerung vorging. Damals jagten die Soldaten die Guerilleros um den Lehrer Lucio Cabañas. Später wurden die protestierenden Bauern verfolgt. Heute suchen die Uniformierten angeblich vor allem Mohn- und Marihuanafelder. Seit der mexikanische Präsident Felipe Calderón 2006 der Drogenmafia den Krieg erklärte und dafür inzwischen 50 000 Soldaten eingesetzt hat, hätten die von Militärs verübten Menschenrechtsverletzungen überall zugenommen, sagt Barrera.
Das bestätigen auch die Zahlen der staatlichen Menschenrechts-Ombudsstelle (CNDH). Innerhalb von drei Jahren habe die Behörde 3 430 Klagen gegen die Armee erhalten, informierte der Präsident der CNDH, Raúl Plascencia, vergangenes Jahr. Allein 2009 seien 1 800 Anzeigen eingegangen, »die höchste Zahl seit Bestehen der Ombudsstelle«, sagt Plascencia. Seine Behörde beschäftigt sich mit Folter, Vergewaltigung und Morden an der Zivilbevölkerung, die von Uniformierten begangen werden.

Barrera wundert sich nicht über solche Zahlen. »Schon vor 17 Jahren, als wir Tlachinollan gründeten, hatten wir befürchtet, dass das Justizsystem kollabiert, die Strafverfolger von der Organisierten Kriminalität infiltriert werden und keine zivile Kraft das Militär in den Griff bekommt.« Der so genannte Drogenkrieg sei zu einem Krieg gegen die Armen geworden und habe die Region noch mehr militarisiert.
Das klingt trostlos, wie viele der Meldungen, die uns derzeit über den mexikanischen Drogenkrieg und seine mittlerweile 40 000 Todesopfer erreichen. Auch Barrera ist kein Zweckoptimist, und dennoch wirkt der kleine Mann, der fast immer in Jeans und Holzfällerhemd unterwegs ist, nicht frustriert. Es sind wohl Geschichten wie die von Valentina Rosendo und Inés Fernández, die ihn nicht aufgeben lassen. Anwälte von Tlachinollan schafften es, mit den beiden Frauen bis vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof in Costa Rica zu ziehen. Dort gaben die Juristen ihnen im August vergangenen Jahres Recht. »Ich musste weinen, als das Urteil verkündet wurde«, erinnert sich Rosendo. »Plötzlich dachte ich an das Leiden der letzten Jahre, an die Trennung von meinem Mann und daran, dass ich mein Dorf verlassen musste.«
»Nun muss die mexikanische Regierung dafür sorgen, dass die beiden Frauen rehabilitiert werden«, sagt Anwalt Santiago Aguirre, der Rosendo und Fernández juristisch begleitet. Die Vorgaben der Richter sind eindeutig: Die Taten müssen vor einem Zivilgericht verhandelt werden, der Staat muss die Opfer entschädigen und die gravierenden Konsequenzen berücksichtigen, die solche Verbrechen in indigenen Gemeinden auslösen. Die Regierenden in Mexiko-Stadt versuchen bis heute, das Urteil zu umgehen. Aber das verwundert Barrera wenig: »Die unterschreiben jeden internationalen Vertrag, den man ihnen unter die Nase hält, doch sie halten sich an nichts.« Zufrieden ist der 51jährige trotzdem. »Der wirkliche Erfolg ist, dass zwei Frauen aus der Bevölkerungsgruppe der Me’Phaa in den Mittelpunkt des Kampfs für die Verteidigung der Menschenrechte gerückt sind.« Doch es seien nicht diese »stra­tegischen Fälle«, die den Alltag bestimmen, sagt Barrera: »Die Leute kennen uns nicht, weil wir vor internationale Gerichte ziehen, sondern weil wir dort sind, wo sie sind: in ihren Gemeinden, in ihren Häusern, in den Bergen.«

Etwa in Mini Numa, drei Autostunden von Tlapa entfernt. Nur wenige in der 400 Einwohner zählenden Gemeinde haben fließend Wasser, und die Holzhütten schützen nachts kaum vor der beißenden Kälte. Wie in vielen indigenen Gemeinden des Bundesstaats haben die meisten Häuser keinen festen Boden, vier von fünf Einwohnern sind Analphabeten, fast die Hälfte ist unterernährt. Mitarbeiter von Tlachinollan fahren hierher, um beim Bau von Latrinen zu helfen. Schon vor zwei Jahren waren sie hier, um eine Gesundheitsstation aufzubauen. Mehrere Kinder waren damals gestorben, weil sie nicht rechtzeitig behandelt wurden. Deshalb forderten die Bewohner eine ärzt­liche Versorgung, doch die Regierung reagierte nicht. »Der Staat hinterlässt eine Lücke, die wir mit den Menschen vor Ort füllen müssen«, sagt Barrera.
An eine Entwicklung glaubt hier trotzdem kaum jemand. Große Teile des Waldes sind dem meist illegalen Holzschlag zum Opfer gefallen. Außerdem sei es in Mini Numa zu kalt für die Landwirtschaft, meint der Dorfbewohner Mauricio Montealegre: »Wir haben nur eine Mais­ernte im Jahr, das bringt gerade einmal Tortillas für vier Monate.« Dass er dennoch ein Haus aus Lehmziegeln samt stabilem Dach bauen konnte, verdankt er seiner Familie. Von seinen elf Kindern leben vier in New York. »Ohne ihr Geld geht gar nichts«, sagt Montealegre. Kaum eine Familie kann ohne Überweisungen aus dem Ausland leben. Wer es nicht bis in die USA schafft, geht als Tagelöhner in die großen Plantagen des mexikanischen Nordens. Oder ins nahegelegene Acapulco, wo der Tourismus ein paar Pesos verspricht.
Ungern redet man hier über die andere Alternative, die sonst noch bleibt: Das Geschäft mit Marihuana, Opium und Kokain. Rund 60 Prozent des in Mexiko kultivierten Mohns stammt aus Guerrero, zudem ist das Bundesland eine Transitregion für kolumbianisches Koks. Die Folgen sind nicht zu übersehen: Große Mafia-Organisationen liefern sich heftige Auseinandersetzungen um Transportrouten, immer wieder gibt es Gefechte mit den Truppen von Präsident Calderón. Regelmäßig sterben in Acapulco bei Schießereien auf offener Straße Menschen, Enthauptete werden gefunden. Nahe der Kleinstadt Tasco entdeckte die Polizei im Juni vorigen Jahres in einer stillgelegten Silbermine ein Massengrab mit 55 Leichen. Bürgermeister, Politiker, Polizisten, Richter und Kaziken sind in diese kriminelle Struktur verstrickt, am unteren Ende der Leiter stehen Jugendliche und Kleinbauern ohne Perspektive. Sie müssen sich dem Preisdruck des illegalen Geschäfts ebenso beugen wie den brachialen Gesetzen der Mafiabosse.
Abel Barrera ist vorsichtig, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, die von den Kartellen verübt werden. »Wir kümmern uns nicht um die Gewalt, die unter den verschiedenen kriminellen Gruppen stattfindet, das ist Aufgabe des Staates«, meint er. Manchmal, räumt er ein, »kommen Menschen zu uns, die von Militärs misshandelt wurden, aber keine korrekten Angaben machen. Wir helfen dann, soweit wir können«, sagt Barrera vorsichtig, verweist aber auf Projekte zur Unterstützung alternativen Anbaus, die vom Zentrum Tlachinollan gefördert werden.
Vorsichtig ist auch Mauricio Montealegre. Da oben hätten die Beamten wohl ein Feld gefunden, sagt der 57jährige und zeigt auf einen der Berge, die Mini Numa umsäumen. Die Männer hatten damals gefragt, wessen Acker das sei. »Aber woher soll ich das wissen, jedem sein Feld, jedem seine Arbeit.«
Zurück ins Hauptquartier nach Tlapa. Barrera ist wie immer sehr beschäftigt. Obwohl er eigentlich gar nicht gerne unterwegs ist, rennt er vom letzten Termin in den Gemeinden gleich zur Anhörung bei der Staatsanwaltschaft, und möglicherweise muss er morgen schon weiter nach Mexiko-Stadt. In diesen Tagen bereitet er sich zudem auf eine große Reise vor. Der Anthropologe und Theologe erhält für seinen Einsatz den Menschenrechtspreis 2011 der deutschen Sektion von Amnesty International. Am 27. Mai wird er ihn im Berliner Haus der Kulturen der Welt entgegennehmen.
Fragt man Barrera, was ihm diese Anerkennung bedeute, wird er bescheiden. »Diesen Preis verdienen eigentlich diejenigen, die Folter und Misshandlung erleiden mussten. Jene, die auf dem Erdboden die Nacht verbringen und hungrig einschlafen müssen.« Dann erinnert er daran, dass das Zentrum im Zuge des Aufstands der Zapatisten im Jahr 1994 gegründet wurde. »Die Guerilla bezog sich in den siebziger Jahren auf das Proletariat, es ging um Klassenkampf.« Erst die Rebellinnen und Rebellen aus dem Bundesstaat Chiapas hätten die Lage der Indigenen an die Öffentlichkeit gebracht.
Doch bei aller Bescheidenheit ist sich Barrera bewusst, dass der Preis ein bisschen mehr Schutz bietet. Und das ist wichtig, denn wer sich hier gegen die Mafia der Kaziken, korrupte Politiker und gewalttätige Soldaten auflehnt, lebt gefährlich. Erst vor wenigen Wochen, am 18. April, wurde in der Sierra de Petátlan der Umweltschützer Javier Torrez Cruz von Paramilitärs ermordet. Offenbar, weil er sich wie viele Bauern in der Region gegen illegalen Holzschlag gewehrt hatte. Später kamen noch Auseinandersetzungen wegen des zunehmenden Anbaus von Drogen hinzu. Auch in der Kleinstadt Ayutla gab es Konfrontationen. Dort musste Tlachinollan im März 2009 eine Außenstelle schließen. Mitarbeiter waren verhaftet worden, ein Mitglied der mit Tlachinollan verbundenen indigenen Organisation OPIM wurde ermordet. Die Leiterin der OPIM, Obtilia Eugenio Fernández, lebt inzwischen aus Sicherheitsgründen hunderte Kilometer entfernt von ihrem Zuhause.

Für Valentina Rosendo waren die Aktivisten in Ayutla die ersten Gesprächspartner. Obtilia Fernández übersetzte, als sie noch kein Spanisch sprechen konnte. Nun träumt die 26jährige davon, selbst Menschen in ihrer Heimat helfen zu können. In ihrem Exil in der großen Stadt geht sie derzeit zur Schule, sie will Krankenschwester werden. »In meinem Dorf arbeitet noch immer der Arzt, der mich damals nicht behandeln wollte«, sagt Rosendo und betont: »Wir Indigenen haben das Recht auf eine gute medizinische Versorgung!« Deshalb will sie im Dorf ein Gesundheits­zentrum aufbauen. Wann das möglich sein wird, hängt davon ab, wann die Behörden das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs ernst nehmen. »Die Regierung muss öffentlich eingestehen, dass mich die Soldaten vergewaltigt haben«, fordert sie. »Dann werden die Leute in Barranca Bejuco, die mir nie geglaubt haben, anerkennen, dass ich nicht gelogen habe.«