Coworking im Selbstversuch

Wärmestube für Yuppies?

Von Ivo Bozic

Arbeiten im Coworking Space. Ein Selbstversuch im Berliner Szeneladen »Wostel«.

Wenn in Berlin derzeit irgendetwas ganz besonders für Gentrifizierung steht, dann wohl der »Reuterkiez«. Das Viertel rund um die Reuterstraße ist, kann man sagen, der Ausgangspunkt für die neue Stadtentwicklung, die das nördliche Neukölln gerade durchmacht. Lebten hier bis vor ein paar Jahren wie im übrigen Bezirk auch vorwiegend türkische und arabische Großfamilien und deutsche Alkoholiker, so füllen sich die Straßen und Wohnungen jetzt mit Englisch und Spanisch sprechenden Jet- und Easyjetsettern und jungen alternativen Familien, die oft besonders hippe Kinderwagen über die alten Kopfsteinpflaster schieben. Man trifft sich in »kinderfreundlichen« Cafés, die Namen tragen wie »Kuchenmafia« und »Brezelfabrik«. Die neuen Bewohner hier im Kiez haben keine Arbeit, sie haben Projekte. Aber wo sollen sie an denen arbeiten?
Hier zum Beispiel, im »Wostel«, einem sogenannten Coworking Space im Reuterkiez. Ich bin am Check-In herzlich empfangen worden und sitze nun zwischen willkürlich zusammengestellten, aber gepflegten Sperrmüllmöbeln in einem Ladenlokal und beginne diesen Artikel zu schreiben. Das »Wostel«, das im Dezember eröffnet wurde, bietet auf etwa 150 Quadratmetern im Erdgeschoss eines typischen Berliner Altbaus drei Räume, eine Kaffeeküche und den Eingangsbereich. Dort, am Empfangstresen, werden auch ein paar bunte DIY-Sachen verkauft, kleine Stoffdinge, Brieftaschen, Kissen und T-Shirts, denn Marie, eine der beiden Betreiberinnen, die hier natürlich zeitgemäß »Co-Founder« heißen, ist Textildesignerin und bietet nebenher Selbstproduziertes an. Die Arbeitsräume sind mit alten Tischen und Stühlen ausgestattet. Das ist alles. Für zehn Euro pro Tag kann man sich hier hinsetzen und arbeiten, oder so tun als ob. Es gibt auch Zehnerkarten für 80 Euro und Monatskarten für 175.
Das Konzept ist anscheinend, einfach eine ruhige Sitzgelegenheit auf möglichst billigen Möbeln ohne Verzehrzwang zu bieten. Laut Selbstdarstellung heißt das: »professionell ausgestattete Arbeitsplätze im Vintage-Ambiente«. Die Möbel wurden angeblich sogar mit Absicht nicht teuer in einem Möbelgeschäft erworben, damit es für uns Nutzer gemütlicher ist: »Bei der Gestaltung und Einrichtung wurde bewusst Wert auf eine originelle Einrichtung gelegt. Möbel und sämtliches Zubehör stammen überwiegend aus den dreißiger bis sechziger Jahren. So entsteht keine kühle Büroatmosphäre, sondern ein gemütliches und zeitloses Vintage-Ambiente.« Immerhin: Der Stuhl, auf dem ich sitze, mit Blick aus dem Schaufenster auf die Straße, ist bequem und der kleine Küchenklapptisch, auf den ich mein Notebook gestellt habe, hat genau die richtige Höhe. Das ist erstmal die Hauptsache.

Meinen Computer habe ich schnell per W-Lan mit dem Internet verbunden, doch das erste Problem tut sich bereits nach einer Viertelstunde auf: Zu meiner Arbeit gehören Telefonate einfach dazu. Nicht nur, dass ich die hier alle mit meinem Mobiltelefon zu den entsprechend hohen Tarifen führen muss, weil die »professionelle Ausstattung« der »Arbeitsplätze« keinen Telefonanschluss beinhaltet, es ist auch eigentlich gar nicht möglich, hier zu telefonieren. Die blonde Frau, die an der anderen Seite des Raumes sitzt, hat schon beim zweiten Mal, als mein Telefon klingelte, grimmig zu mir herüber geschaut, ich nehme jetzt nur noch flüsternd ab, gehe dann schnell über knirschende Dielen in einen anderen Raum oder in den Eingangsbereich, wo aber schon vier Leute sitzen und miteinander quatschen, darunter die beiden Co-Founder.
Die blonde Coworkerin nebenan hat eine Thermoskanne neben sich stehen und isst gerade einen Obstsalat. Keine Ahnung, worüber sie grübelt, aber sie ist höchst konzentriert. So auch der Mann, Anfang 30, der hinter mir an einem Tisch sitzt und offenbar regelmäßig hier ist. Sonst sitzt er wohl an einem anderen Platz, denn als jemand den Raum durchquert, um in die Kaffeeküche zu gehen, fragt er ihn freundlich: »Oh, du sitzt jetzt woanders?« »Ja, ich probiere das heute mal hier«, lautet die Antwort. Ein Schriftsteller mit Schreibblockade? Jedenfalls: Man kennt sich. Die Blonde hat’s unterdessen aufgegeben. Sie packt ihre Sachen und verabschiedet sich mit einem kurzen Gruß in die Runde. Hinten, im anderen Zimmer, der »Writer’s Lounge«, sitzen noch zwei oder drei Männer, aber es ist alles sehr ruhig, gedämpft, Flüsteratmosphäre.
Ich werde jetzt mal mit Chuente sprechen, sie ist neben der Textildesignerin Marie die zweite Betreiberin, sorry: Co-Founderin. Sie hat Business Management studiert, war irgendwo »Assistant« und »Trainee«, hat »Fundraising« gemacht. Was man halt alles so macht heutzutage, bevor man sich dann als Freelancer von einem Auftrag zum nächsten hangelt. Von dem »Wostel« leben können Marie und Chuente übrigens nicht. Das erzählt mir Chuente, nachdem ich mich zu ihr gesetzt habe. Sie hat sich vorhin mit ihrem Notebook an einem der Nachbartische niedergelassen. »Das machen wir eher aus Überzeugung, und um uns einen angenehmen Platz für unsere eigene Arbeit zu schaffen«, sagt sie. Chuente ist 30 und freiberufliche Marketingberaterin. Da hat man Projekte, »da hängt alles von der Auftragslage ab«. Im Kiez wohnen die beiden Freundinnen seit vielen Jahren und haben genau mitverfolgen können, wie der Bedarf an einem solchen Arbeitsraum gewachsen ist.

Die Menschen, die herkämen, seien unter anderem Programmierer, Designer, Übersetzer, Journalisten, erzählt Chuente. Die meisten kommen regelmäßig. Im Schnitt sind jeden Tag etwa sechs Leute hier und noch einmal zwei schauen einfach mal spontan herein. Derzeit gibt es fünf, die ihren Arbeitsplatz monatsweise gemietet haben. Den meisten geht es vor allem darum, eine Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten herzustellen. »Wer über einen längeren Zeitraum versucht hat, zuhause zu arbeiten, weiß meistens, wie schwierig das ist«, sagt Chuente. Sie spricht aus Erfahrung. Und warum kann man nicht cool in einem der angesagten Cafés sitzen, frage ich, mit seinem Notebook und einem Latte Macchiato, wie es doch so viele machen? »In Cafés sitzt man meistens nicht so bequem, kann seinen Laptop nicht richtig hinstellen, und außerdem hat man die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen, wenn man nur alle zwei Stunden einen Kaffee bestellt.« Hier im »Wostel« ist die Benutzung der Tee- und Kaffeeküche inklusive. Und der Unterschied zum Internetcafé? Da könne man nicht sein eigenes Notebook benutzen, was oft sehr unpraktisch sei. Außerdem herrsche dort selten eine entspannte Arbeitsatmosphäre. Und eine Bibliothek? Nun ja klar, meint Chuente, wenn man denn totale Ruhe haben wolle, warum nicht.
Mit dem »Betahaus«, dem bekanntesten Coworking Space, will sie ihren Laden aber keinesfalls vergleichen: »Wir wollten eher das Gegenteil machen.« Während das »Betahaus« viel geräumiger und besser ausgestattet sei und man sich vermutlich dort auch besser untereinander vernetzen könne, einfach weil dort mehr Betrieb herrsche, sei ihr Konzept mit dem »Wostel«, alles etwas persönlicher und kleiner zu gestalten. »Wenn das ›Betahaus‹ ein Hotel wäre, wären wir eine Pension«, formuliert Chuente ihr Selbstverständnis. Dennoch sei es durchaus auch ein Ziel, dass man sich hier besser kennenlerne und es zu Synergieeffekten komme. Dafür werden auch schon mal richtige Events organisiert, wie etwa das »Kreativ Speeddating«, was genau das ist, wonach es klingt. Nach einer ersten Runde Speeddating wird in einer zweiten Runde gemeinsam etwas Kreatives gebastelt, um »sich spielerisch näher kennenzulernen«. Da nehmen dann nicht nur die regelmäßigen »Wostel«-Worker teil, sondern auch andere einsame »Kreative«.

Nach dem Gespräch mit Chuente bin ich etwas versöhnt. Ist ja vielleicht doch keine so schlechte Idee, so ein Coworking Space? Zumal Chuente auch betont hat, dass sie nicht der Meinung sei, die neuen flexiblen Arbeitsverhältnisse, die sich immer mehr durchsetzen, seien grundsätzlich prima. Über 60 Prozent der Freiberufler, so ist ihre Einschätzung, seien definitiv nicht freiwillig in dieser Situation. Irgendwo müssten die aber ja trotzdem arbeiten. Und so sieht man sich hier im »Wostel« eher als Selbsthilfeprojekt für Freelancer ohne festen Arbeitsplatz, quasi als ein Symptom der gesellschaftlichen Zustände, weniger als ein Avantgarde-Projekt der digitalen Boheme.
Hinter mir brüten zwei junge Männer über ihren Dateien. Ich würde den einen gerne fragen, ob er wirklich Schriftsteller ist. Coworking – da soll es ja auch darum gehen, zusammenzukommen. Aber hier sind alle derart konzentriert bei der, ja vermutlich: Arbeit, dass ich nicht stören möchte. Ich will nicht schuld sein, wenn der Kreativstrom abreißt. Bei mir setzt er übrigens gerade ein: Ich habe auf einmal eine richtig gute Idee, eine, die ich wohl nie umsetzen werde, die ich mir aber patentieren lassen sollte (was ich bestimmt nicht mache): Die Gründung einer Arbeitsplatz-Tauschbörse. Ich wäre der Founder und würde die Provision für die Vermittlung kassieren. Mehr gäbe es für mich nicht zu tun. Mir ist nämlich gerade klar geworden, dass mein Arbeitszimmer zuhause leersteht, während ich hier im Coworking Space sitze. Da gibt es einen Schreibtisch, einen Computer, Drucker, Scanner, sogar ein Telefon mit Flatrate, alles da für jemanden, der nicht bei sich selbst zuhause arbeiten möchte. Auch die Küche könnte er oder sie gerne benutzen. An seinem beziehungsweise ihrem Schreibtisch zuhause könnte wiederum in der Zwischenzeit jemand anderes arbeiten usw. So hat am Ende jeder einen Platz und niemand muss bei sich zuhause arbeiten, wo er oder sie wohnt und schläft. Wäre das nicht vielleicht die perfekte Lösung? Nun ja, so etwas kann einem wohl nur hier unter all diesen Kreativen einfallen.
Apropos, wo sind die eigentlich? Während ich meinen kreativen Schub in die Tasten gehackt habe, sind die beiden hinter mir wohl gegangen. Jetzt werde ich nie erfahren, ob der Schriftsteller nicht vielleicht doch ein Webdesigner war. Mist. Chuente beginnt damit, Stühle beiseite zu stellen, denn um 18 Uhr ist hier Schluss. Öffnungszeiten: »10 to 6«. Das Büro, das kein Büro sein will, schließt, auch Kreative haben Feierabend.