Modeopfer Marx

Marx is just a four letter word

Die »Re-Thinking Marx«-Konferenz am vorigen Wochenende in Berlin hat einmal mehr vorgeführt, wie der akademische Betrieb seinem Publikum die Lust am Denken austreibt.

Mehr als 1 000 Menschen sitzen im stickigen Audimax der Humboldt-Universität (HU) in Berlin. Wie beinahe jede Konferenz über Karl Marx trägt auch diese die notorische Vorsilbe »Re« im Titel: »Re-Thinking Marx«. Das suggeriert einen Neuanfang. An deutschen Universitäten lassen sich marxistische Professoren an einer Hand abzählen. Viele der Seminare über Marx und den Marxismus werden von unterbezahlten Privatdozenten oder unbezahlten Lehrbeauftragten organisiert. Ist die vornehmlich an ein akademisches Publikum gerichtete Konferenz ein Versuch, Marx und die Marxisten an die Universität zurückzuholen?
Die Finanzkrise jedenfalls sei nicht der Anlass für die Konferenz gewesen, sagt die Organisatorin Rahel Jaeggi, Professorin für praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie am Philosophischen Institut der HU. Gemeinsam mit Daniel Loick, der wie Jaeggi aus Frankfurt am Main kom­­mt und bei Axel Honneth studiert hat, will sie abseits der »vordergründigen Anlässe« eine umfassende Aktualisierung von Marx anstoßen. Marx sei eine »Chiffre für radikale Kritik«, meint Jaeggi in ihrer Begrüßungsrede und konzediert, was ohnehin niemand bestreitet: »Man muss nicht Marxist sein, um sich für Marx zu interessieren.« Den verängstigten Seelen wird versichert, dass man sich mit Marx weder theoretische Verbindlichkeiten noch politische Konflikte einhandelt. Die ritualisierte Geste der Radikalität bedarf der Abgrenzung des »größten Klassikers, den wir haben«, von der Tradition. Sie muss Marx vom Marxismus trennen, um sich selbst als radikal Neues zu setzen. Das fügt sich ein in den akademischen Zwang zur Innovation, in dessen Namen jeder Akademiker ehrgeizig ein Alleinstellungsmerkmal entwickelt, sich in einer Denkschule abkapselt und dies dann als Zeichen von Originalität begreift.

Rund neun Stunden Vorträge am Tag können die Besucherinnen und Besucher hören. Wenn sie durchhalten. Anschließend können sie noch ins Theater gehen, Lesungen besuchen oder sich den von Arte produzierten Film »Marx Reloaded« anschauen. Auf jedem Podium sitzen mindestens drei Personen, die 30 bis 45 Minuten sprechen. Nach jedem Beitrag gibt es eine kurze Fragerunde, bei der höchstens drei Personen zu Wort kommen, dann geht es weiter. Ohne Pause. Ein Podium dauert drei Stunden. Diskussionen kommen kaum zustande. Wozu also eine Konferenz? Nach den Vorträgen verschwinden die Referenten hinter einer Glasscheibe in der Garderobe, die für die Öffentlichkeit unzugänglich ist. Viele Vorträge sind auf Englisch, die meisten liegen als Übersetzungen aus. Ein guter Service. Doch am Infotisch geht es zu wie beim Arbeitsamt: »Diese Ausdrucke sind nicht einfach so da, das ist wirklich nur für die Leute, die Sprachprobleme haben. Bist du sicher, dass du da eine Sprachbarriere hast?«
Laszlo Strzoda, Redaktionsmitglied des Magazins Prager Frühling, ist positiv überrascht, dass »hier auf der Konferenz so wenig Spinner auftauchen«. Wer diese Spinner seien, frage ich den 26jährigen Politikwissenschaftler. »K-Gruppen zum Beispiel, Weltanschauungsmarxisten.« Endlich würde hier einmal theoretisch debattiert, statt dass politische Bekenntnisse abgelegt würden. Das erhofft er sich jedenfalls nach der ersten Veranstaltung am Freitagabend mit Saskia Sassen, Wendy Brown, Andrew Chitty und Christoph Menke. Die Konferenz über das, was Politik genannt wird, findet am selben Wochenende anderswo statt: in der TU Berlin beim Attac-Kongress. Da geht Strzoda vielleicht auch noch hin. Die Polemik gegen die marxistischen Sekten in Deutschland täuscht darüber hinweg, dass sich an der Universität in Frankfurt eine eigene Tradition der Marx-Rezeption herausgebildet hat, die sich von der Kritischen Theorie zunächst mit Jürgen Habermas und schließlich Axel Honneth nahezu völlig verabschiedete. Das Programm der Konferenz stellt diese Schule in den Mittelpunkt. Aktuelle internationale Debatten um Marx, etwa postoperaistische oder postmarxistische Positionen fehlen ganz. Bereits in der Begrüßungsrede entsteht der Eindruck, hier werde nicht Marx neu gedacht, sondern vielmehr Marx als Vorwand genommen, um die Honnethsche Denkschule noch einmal ins Rampenlicht zu rücken.

Obwohl der Konferenztitel mit dem Versprechen einer Neulektüre der Marxschen Texte lockt, stellt man auf den meisten Veranstaltungen fest, dass sich die Referenten und Referentinnen kaum mit dem Marxschen Werk beschäftigt haben, viel lieber aus Briefen zitieren und große Thesen und Behauptungen aufstellen, die nicht belegt werden. Marx ist eben nur eine »Chiffre«, unter der allerlei Willkürliches, Ahnungsloses und Obskurantistisches verbreitet werden darf. Dennoch wird ständig der Name des großen Autors im Munde geführt. Das alles erinnert stark an den Personenkult des so verpönten Weltanschauungsmarxismus. »Wahllos werden hier Textstellen herausgepickt«, beschwert sich Hannes aus Halle. »Wäre ich mal zum Panel ›Theorie und Philologie‹ gegangen, mit Michael Heinrich. Das soll sehr gut gewesen sein, aber es liefen ja drei andere Veranstaltungen parallel. Es ist wie in einer Lotterie, einmal falsch getippt, alles verloren.«
Das Podium am Samstagmorgen bestreitet Axel Honneth mit seinem Freund und theoretischen Antipoden Moishe Postone aus Chicago. Der dritte Redner, Russell Keat, sitzt wie ein blasser Student daneben. Honneth erzählt, was er immer erzählt: Wolle man den Kapitalismus kritisieren, brauche es normative Grundlagen, vor allem »Anerkennung«. Das bleibe bei Marx vollkommen unterbelichtet. Postone hingegen wird der Einzige auf der Konferenz bleiben, der als Vertreter der Wertkritik eine wirkliche Rekonstruktion der Marxschen Herrschaftskritik versucht, wie sie in seinem Buch »Time, Labour und Social Domination« bereits vorbereitet ist. Honneth wirft Postone vor, keine »sozialen Kämpfe« denken zu können. Resultat solcher Kämpfe sei etwa die Gründung der Gewerkschaften gewesen. Postone kritisiert, Honneth könne mit seiner Normativitätstheorie keinen geschichtlichen Wandel denken, und fühlt sich missverstanden. Er sei kein Gegner der Ethik, aber den Weg, den Honneth aufzeige, halte er für falsch. Hier deutet sich zumindest einmal ein Streit an. Leider ist das aber auch schon das Ende der Veranstaltung. Frank Engster, arbeitsloser Doktor der Philosophie, ist empört: »Die Gewerkschaften haben den Kapitalismus wohl nicht umgeworfen. Die Geschichte des Scheiterns sozialer Bewegungen, ihre institutionalisierte Rolle für das Weiterlaufen der Verwertung spielt für Honneth keine Rolle.« Auch Dirk Schuck, promovierender Politikwissenschaftler, ist enttäuscht. »Von einer Marx-Konferenz hätte ich erwartet, dass sich diese Anerkennungsphilosophie einer Selbstkritik unterzieht und sich anschaut, wie sie selber zur Regierungstechnik geworden ist.«
Am Nachmittag spricht Étienne Balibar zur Kritik der Politik. Die Besucherzahlen steigen. Balibar argumentiert gegen Honneth für den Begriff des Klassenkampfes und versucht, die Konturen des Klassenbegriffes und das veränderte Verhältnis zwischen Staat und Markt zu fassen, doch das alles bleibt sehr allgemein. Von den Kritisierten kommt kein Widerspruch, vielleicht sind sie schon genauso weich im Kopf wie die Besucher oder haben kaum etwas verstanden – Balibars Vortrag liegt als einziger nicht in Übersetzung vor. Immerhin weist Alex Demirovic in einem verständlichen Beitrag darauf hin, dass es bereits Marx darum ging, das Proletariat abzuschaffen, statt seine Diktatur staatlich zu verewigen. Und er ist einer der wenigen, die sich auf die Debatten der vergangenen Jahre beziehen, auf die Marx-Kritik von Laclau und Mouffe etwa. Draußen schlürft Ben aus Wien einen Taz-Espresso. »Ich hatte mich auf Balibar gefreut, aber jetzt bin ich müde, und der Text war wie fast jeder Vortrag hier gar kein Vortrag«, sagt er. Zum Ausklang des Tages liest Bini Adamczak aus ihrem Buch »Kommunismus für Kinder«. Am Ende der Lesung platzt ein Luftballon vor dem Gesicht Moishe Postones. »Die Revolution hat dir ins Gesicht gefurzt«, sagt Adam­czak.

Inzwischen ist es Sonntagnachmittag, das zum Dauerkonsumenten degradierte Publikum dämmert ohne Aircondition zunehmend debil vor sich hin. Wenn diese Atmosphäre typisch ist für das philosophische Denken, wer würde es nicht hinter sich lassen wollen? Ich gehe zur Diskssion über »Coloniality«. Neuer Versuch, neues Glück? Vor dem Saal sitzt Felix aus Stuttgart. Er ist noch in Rage über die letzten Rednerinnen des Feminismuspanels, Esra Erdem und Ceren Özselçuk: »Wir sollen alternative Märkte gründen und Tausch­ringgeschäfte organisieren. Das soll der ›Materialist Feminism‹ für das 21. Jahrhundert sein? Da hätte ich auch zum Attac-Kongress gehen können.« Hannes aus Halle schmeißt seine Sporttasche auf die Treppe: »Ich war im Coloniality-Panel. Der erste Vortrag von Manuela Boatca, der war noch gut, aber dann kam Ramón Grosfoguel und hat den Standpaukenclown gespielt. Marx hat er sicher nicht gelesen, nur dessen Briefe an Engels, aus denen hat er abgeleitet, dass Marx ein Sexist und Rassist gewesen sei. Dabei hat er sich noch nicht mal die Neuausgaben angeschaut und die Selbstkritik von Marx. Es ist ja wichtig, den Eurozentrismus zu kritisieren, aber doch nicht so.«
Eingeladen von der am Otto-Suhr-Institut beschäftigten Ina Kerner war Grosfoguel die undankbare Rolle zugekommen, den Anderen, den wilden Lateinamerikaner zu geben, der auf »Differenz« beharrt. »Eine schlechte Wahl«, meint Lutz, Jurist und Philosoph ohne Lehrstuhl. Da würden falsche Feindbilder produziert und die »nationalistischen Formationen« im »Coloniality-Diskurs« reproduziert. Das Abschlusspodium schenke ich mir. Ich bin leergequatscht. Marx’ Texte hätten sicher in weiten Teilen des unbezahlten Publikums bessere Mitdenker gefunden als in den hier dominanten Vertretern der universitären Desorganisation des Denkens. Da kommt Hannes aus Halle noch mal hinter mir hergerannt und fragt: »Warum hat denn eigentlich die Jungle World hier keinen Stand gemacht?«