Ein Flüchtlingslager an der tunesisch-libyschen Grenze wurde von Anwohnern attackiert

Chronologie eines Pogroms

Tunesien ist stolz darauf, Zehntausenden Flüchtlingen aus Libyen Zuflucht zu bieten. Doch während Libyer herzlich aufgenommen werden, müssen Menschen aus der Subsahara in Wüstenlagern ausharren. Letzte Woche protestierten die Flüchtlinge im Lager Choucha, an der libyschen Grenze, dagegen. Daraufhin wurde das Camp von tunesischen Anwohnern attackiert, verwüstet und niedergebrannt.

Die Internationale Kommission für Eritreische Flüchtlinge zeichnet ein dramatisches Bild: Im Flüchtlingslager Choucha an der tunesisch-libyschen Grenze würden sich »Szenen wie in Ruanda« abspielen: »Die Situation ist völlig außer Kontrolle geraten. Tunesier kamen in das Lager und brannten alles nieder. Alle Hilfsorganisationen haben das Lager verlassen, niemand ist da, um die Flüchtlinge zu schützen.« Auch eine deutsche Delegation des Netzwerks Afrique-Europe Interact berichtet, wie zunächst das Militär in Choucha eine Demonstration der Flüchtlinge mit Tränengas und scharfer Munition auflöste und dann hunderte Anwohner der nahe gelegenen Stadt Ben Guardane das Camp mit Eisenstangen angriffen. Die Nachrichtenagentur AP wollte diesen Berichten nachgehen, doch sie scheiterte: »Eine Gruppe von Journalisten, die sich dem Camp nähern wollte, wurde von einer wütenden Gruppe von rund 100 Tunesiern angegriffen. Sie zerschlugen ihre Autoscheiben und stahlen ihre Ausrüstung«, berichtet die Nachrichtenagentur. Die Journalisten seien nur knapp entkommen; Ein Protokoll der Ereignisse.

16. Mai, Tunis.
Ben Youssouf Karin sitzt in einem grünen Zelt zwischen Bananenbrei und Babywindeln. »Die Kisten hier sind für die nächste Lieferung, übermorgen ist wieder ein LKW voll«, sagt er. Der Neurologe leitet den Verein Benevolus, was sich in etwa mit »gütig« übersetzen lässt. Seit Februar sammelt Bnevolus in einer kleinen Zeltstadt auf einem Grünstreifen im Zentrum von Tunis Hilfsgüter für Flüchtlinge aus Libyen. Direkt nebenan ragt das blau-gläserne Hochhaus der RCD in den Himmel, der Partei des gestürzten Diktators Ben Ali. Mit seinen eingeworfenen Scheiben im Erdgeschoss, besprüht von Demonstranten und bewacht von Soldaten mit Maschinengewehren, sieht es aus wie eine Bankzentrale nach einem Währungskollaps. Bevor er sich interviewen lässt, holt Karin schnell noch sein Benevolus-Shirt aus einer Kiste und zieht es über sein Hemd. »Das Logo ist hübsch, nicht wahr? Wir haben einen sehr guten Designer.«
Dann erzählt er, wie sich die Aktivisten von Benevolus im Februar vor der libyschen Botschaft bei den Solidaritätsdemonstrationen für die Gegner von Muammar al-Gaddafi zusammengefunden haben. »Das in Libyen ist die gleiche Revolution wie bei uns«, sagt er. Etliche Tonnen Sachspenden haben Privatleute seither bei ihm und seinen Helfern abgegeben, zeitweise schickten sie alle paar Tage LKW in Kolonnen los. »Früher wären solche Bürgerinitiativen sofort vom Regime vereinnahmt worden, aber heute sind wir frei.«
Reporter aus der ganzen Welt kamen, um darüber zu berichten, wie das kleine Land direkt nach der Revolution über 100 000 Flüchtlinge aufnahm und versorgte. »Die Libyer, denen wir helfen, sind unsere Brüder«, sagt Karin. »Sie tragen unsere Namen, sie haben unsere Religion, wir fühlen uns ihnen nahe.«

18. Mai, Ben Guardane.
Houcein Bettaieb wartet schon. »Ihr seid zu spät«, sagt er zur Begrüßung der Delegation aus Deutschland, die sehen will, wo die LKW von Benevolus hinfahren. »Die ganze Welt war zu spät.« Bettaieb ist Lehrer in der Grenzstadt Ben Guardane, aber seit dem Winter ist er auch Revolutionär. Als Gewerkschafter sitzt er im örtlichen Komitee des »Rates zum Schutz und zur Durchsetzung der Ziele der Revolution«. Als vor drei Monaten die Flüchtlinge zu Zehntausenden nach Ben Guardane kamen, seien keine internationalen Organisationen dort gewesen, um ihnen zu helfen. »Nur wir waren da. Die tunesische Revolution. Wir haben hier ganz allein die Menschlichkeit gerettet.«
Ben Guardene ist eine schmucklose Stadt im äußersten Osten Tunesiens, die rund 60 000 Einwohner zählt. Zwischen dem Mittelmeer, Libyen und der Wüste gelegen, ist die Stadt ein Zentrum des meist illegalen Grenzhandels. Kilometerweit reihen sich endlose Ladenzeilen an der Ausfallstraße aneinander. Zigaretten, Datteln, Teppiche, Kleidung und Geschirr gibt es hier in Mengen, die unmöglich von der Bevölkerung der kleinen Stadt gekauft werden können. Vor fast jedem Haus stehen Kanister und Plastikflaschen mit rot gefärbtem Benzin und gelblichem Diesel aus Libyen zum Verkauf. Alte Peugeots, die wie Trabis aussehen, kommen hier an, meterhoch beladen mit allen möglichen Waren.
»Als die Flüchtlinge kamen, haben die Händler hier alle ihre Geschäfte leergeräumt, damit sie dort schlafen konnten«, sagt Bettaieb und zeigt nach links und rechts an die Straßenränder. »Die Bevölkerung hat ihnen Kuchen, Milch und Medizin gebracht, und mit den Soldaten haben wir begonnen, Zelte aufzubauen.« Bis heute sind in Ben Guardane tausende libysche Flüchtlinge untergebracht. Sie wohnen in Hotels, in öffentlichen Gebäuden und bei vielen privaten Familien. »So ist es im ganzen Süden des Landes«, sagt Bettaieb. Die Verteilungsstellen für diese Familien fahren die LKW-Kolonnen an, die Karins Spendensammler in Tunis los schicken.

20. Mai, Ras Ajdir.
Knapp zehn Kilometer weiter östlich, in Richtung Libyen, kommen die Benevolus-LKW mit den Hilfsgütern nicht vorbei. Wer hier hin will, muss an Checkpoints des Militärs vorbei. Die Soldaten verlangen Pässe und suchen nach Waffen, doch eigentlich geht es ihnen nicht darum, den Zutritt zu dem Gebiet zu erschweren. Sie wollen vor allem kontrollieren, wer heraus will.
Die Fahnen der internationalen Hilfswerke flattern an der Wüstenstraße im Wind, als laufe dort eine Messe für Katastrophenhilfe ab. Das UN-Welternährungsprogramm, der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR), die Hilfsorganisation Islamic Relief, der Rote Halbmond, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, ein Hilfswerk des Königs von Marokko und das United Arab Emirates Rescue Team sind dabei.
Doch es handelt sich nicht um eine Messe, sondern um Flüchtlingslager. Das erste davon heißt Choucha. Am 24.Februar hat der UNHCR es eröffnet. Mehrere Hunderttausend Menschen haben Libyen seit Ausbruch des Kriegs über diese Straße verlassen, viele haben ihre ersten Nächte hier verbracht. Fast alle sind nun fort. Die Libyer, denen gestattet wurde, ins Landesinnere von Tunesien weiterzuziehen. Fort sind auch die Gastarbeiter und die Transit-Migranten aus Libyen, die aus stabilen Staaten wie Bangladesh, Pakistan, Mali, Ghana oder Nigeria dorthin gekommen waren. »Drittstaatenangehörige« nennt Firas Kayal sie. Danach sortiert der Sprecher des UNHCR in Choucha die Flüchtlinge. »Drittstaaten« – das sind solche, in die man ohne Gefahr zurückgehen kann. Wer sich die Reise dahin selbst nicht leisten konnte, wurde von der International Organisation for Migration zurückgeflogen, »evakuiert«, wie Kayal sagt. Die Mittel dafür haben europäische Länder wie etwa Deutschland zur Verfügung gestellt. »Europa war da sehr großzügig«, sagt Kayal. Der Syrer ist eigentlich in Abu Dhabi stationiert, doch nun ist er seit Monaten an der libyschen Grenze im Einsatz. Er sitzt in seiner beigen UN-Weste im Besucherzelt am Eingang des Lagers in Choucha und erklärt sein Problem.
Die rund 4 000 Menschen, die heute noch in Choucha sind, kommen aus Ländern wie Eritrea, Somalia, Sudan, Tschad, der Côte d’Ivoire oder Äthiopien. Eine Rückkehr dorthin ist ausgeschlossen, in der völkerrechtlichen Terminologie gelten sie daher als »Schutzbedürftige«. Doch Kayal nennt sie »longstayers«. Denn wie es aussieht, werden sie lange hier bleiben. Schutz hat ihnen nämlich bislang niemand angeboten. »Seit Monaten bitten wir die Regierungen Europas und der USA intensiv darum, Plätze für diese Flüchtlinge zu organisieren.« Wenn diese Länder sich nicht zur Aufnahme bereit erklären, müssten die Flüchtlinge bis auf weiteres in diesem Wüstencamp leben. Denn auch Tunesien lässt sie nicht weiter. An den Militärsperren kommen sie nur vorbei, wenn sie eine spezielle Erlaubnis haben. Die Regierung fürchtet, anders als bei den Brüdern und Schwestern aus Libyen, dass sie die afrikanischen »Schutzbedürftigen« nicht wieder los wird, sobald sie der Kontrolle des UNHCR entschlüpft sind. »Wenn jemand Geld hat und zum Flughafen will, um zurückzureisen, wird ihn niemand hier festhalten«, sagt Kayal. »Aber wer mit unserer Hilfe ausreisen will, der muss hier warten.«
Was Tunesien getan habe, sei »extrem großzügig« gewesen, sagt er. »Die Grenze war immer offen, es gab Visa an Ort und Stelle, niemand, der aus Libyen heraus wollte, wurde abgewiesen«, sagt er. »Das lag an der Atmosphäre nach der Revolution und der gastfreundlichen Kultur.« Nun habe Tunesien seine Schuldigkeit getan. »Jetzt ist der Westen gefordert.« Doch der hält sich zurück. Obwohl der UNHCR seit April drei Mal die EU und die USA dringend und offiziell um die Aufnahme der insgesamt 6 000 »schutzbedürftigen« Libyen-Flüchtlinge aus Ländern wie Somalia bat, kamen nur rund 800 Plätze zusammen – die meisten wohl von den USA organisiert. Von Deutschland wurde bis zum 24.Mai kein einziger dieser Flüchtlinge aufgenommen.
Vor Kayals Besucherzelt hält ein Bus an der Straße. Er kommt von der Grenze, eine Gruppe von etwa 20 Flüchtlingen aus Libyen steigt aus. Ihr Gepäck wird auf einen kleinen Pick-Up geladen. Der Wagen fährt vor, die Neuankömmlinge schauen sich um und gehen dann langsam hinterher.
Wenn man im Lager herumfragt, hört man stets dasselbe: Für die Kinder gebe es keine Schule, den Flüchtlingen graue vor dem nahenden Sommer mit seinen unerträglichen Temperaturen, es gebe viele Skorpione und das Wasser schmecke furchtbar salzig. »Man ist hier nicht sicher«, sagt Fakhr Faron, der aus dem Sudan kommt. Der etwa 50jährige ist sehr ordentlich gekleidet und spricht gut Englisch. In Tripolis habe er als Mathematiklehrer gearbeitet, geflohen sei er wegen des Bombardements der Nato. »Man konnte dort nicht mehr bleiben.« Hier aber auch nicht. »Wir leben wie die Tiere«, sagt er. Viele sind seit Monaten hier, wie es weitergeht, wissen sie nicht. »Die UN sagt uns nichts. Wir warten jeden Tag, aber erfahren gar nichts. Wir wollen hier weg.«
Überhaupt besteht das Leben im Camp vor allem aus Warten. Jetzt, am Nachmittag, stehen hunderte meist somalische Frauen in einer Schlange an der Ausgabestelle von Islamic Relief an. »Vier Stunden dauert es meist, und das jeden Tag«, sagt Asha, eine junge Frau, die schon vor Jahren aus dem somalischen Puntland nach Libyen floh. In der Hand hat sie ihre Rationierungskarte. Die berechtigt sie, eine Flasche Milch und eine Flasche Wasser abzuholen.
Später, als es schnell sehr viel kühler wird, muss man erneut Schlange stehen. Hunderte Männer und Frauen stehen in getrennten Schlangen zum Abendessen an. Sie bekommen Kichererbsensuppe und Brot in rosa Plastikschalen. Soldaten bewachen die Ausgabe, immer wieder hatte es in der Vergangenheit dabei Kämpfe gegeben. Überall hocken oder knien die Männer später am Boden und essen. Die Frauen gehen in die Zelte.
Lauren, ein junger Ivorer, erzählt von seinem Leben in Libyen, wo er sich als Bauarbeiter durchgeschlagen hat. »Die Libyer waren dort das Gesetz«, sagt er. »Mal gab es Geld, mal gab es keins. Wenn du dich beklagt hast, wurdest du verprügelt.« Irgendwann hatte er genug davon und etwas Geld gespart. Er kaufte sich einen Platz auf einem Boot in Richtung Sizilien. Doch es kenterte in der Nähe der Küste, die Libyer fischten ihn heraus und sperrten ihn ein. Damals hatte Gaddafi sich von Italien dafür bezahlen lassen, die Grenze zu schließen. »Im Gefängnis wurden wir jeden Tag verprügelt«, sagt Lauren. Er weiß, wie viele Menschen der Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, schon das Leben kostete. Trotzdem will er bald zurück nach Libyen, denn aus Rache für die Bomben der Nato hat Gaddafi die Seepassage nun frei gegeben. Die Fahrt kostet nur noch ein Zehntel des früheren Preises. Wenn es schief gehe, sei es ihm auch egal. Er habe vor anderen Dingen Angst: Vor den Kämpfen in Libyen, vor dem tunesischen Militär, vor den ethnischen Kämpfen im Lager. »Hier stirbst du auch«, meint er.
Eigentlich müsste dies nicht sein. Zumindest gibt es ein Lazarett, das vom Chirurgen Farid Galua geleitet wird. Er schimpft »auf die schwarzen« Flüchtlinge. »Für die ist das wie ein Dorf hier«, sagt er. »Sie haben ihre Geschäfte geöffnet, es gibt Fernseher. Die kommen wegen allem möglichen zweimal am Tag, weil hier alles umsonst ist.« Die Flüchtlinge nähmen »alle möglichen Medikamente«. Vor allem aber wollten sie eines: »Europa auf Rezept. Die wollen alle rüber zu euch. Dann stehen sie bei mir und wollen ein Papier für den UNHCR, auf dem steht, dass sie im Ausland behandelt werden müssen.« Doch so etwas stelle Galua nicht aus, »die Schwarzen« reagierten darauf »sehr aggressiv«.

22. Mai, Ras Ajdir.
In der Nacht brennen im Choucha Zelte, vier Eriträer sterben. Die Feuerwehr kommt nach einer Stunde, niemand weiß, wie das Feuer entstand. Die Spannung im Camp steigt. Am nächsten Morgen demonstrieren die Flüchtlinge vor dem Büro des UNHCR, sie rufen: »Ban Ki-moon, rette uns«. Das Militär verstärkt seine Präsenz, die Flüchtlinge errichten Straßenblockaden. »Sie waren bereit zu sterben«, sagt der Videoaktivist Thorsten Winsel vom Medienkollektiv Left Vision aus Berlin, der dort ist, als alle Mitarbeiter von Hilfsorganisationen aus Sicherheitsgründen das Camp verlassen. Die Straßenblockade versperrt die Verbindung zwischen Ben Guardane und Libyen, der Grenzhandel kommt zum Erliegen.
Die Gastfreundschaft, mit der die »Brüder und Schwestern« aus Libyen empfangen wurden, wird den Afrikanern nicht zuteil. Händler und Bewohner von Ben Guardane, teilweise mit Eisenstangen und Stöcken bewaffnet, dringen in das Camp ein. Später werden Anwohner sagen, dass das Lager schon lange »weg gemusst« hätte. Das Militär setzt zunächst Tränengas ein, die Flüchtlinge berichten von scharfer Munition. Als der Mob das Camp verwüstet, hat sich das Militär bereits zurückgezogen. Die Hälfte der rund 2 000 Bewohner des Camps flieht in die Wüste, viele gehen zurück nach Libyen. Die Angaben über die Zahl der toten Flüchtlinge schwanken zwischen zwei und vier, rund 30 Verletzte werden in das Krankenhaus von Ben Guardane eingeliefert. Am nächsten Tag ist das Camp »zu zwei Dritteln zerstört«, sagt Hans Vikoler, der Delegationsleiter des Welternährungsprogramms. Ein Teil der Flüchtlinge kehrt am Mittwoch nach Choucha zurück, schläft aber aus Angst vor neuen Brandstiftungen in den wenigen überigen Zelten. Der tunesische Verteidigungsminister besucht das Lager, das Innenministerium kündigt eine Untersuchung an. Der UNHCR, die Hilfsorganisationen und viele NGOs erneuern ihre Forderung an die EU nach Aufnahme der Flüchtlinge. »Hier können sie jedenfalls nicht bleiben«, sagt Vikoler.