Über die Geschichte des Slogans »Recht auf Stadt«

Das Recht auf Stadt

Die Geschichte einer Parole.

Der Slogan vom »Recht auf Stadt« scheint in anschaulicher und zutreffender Weise Themen der gegenwärtigen Stadtentwicklung zu bündeln: Privatisierung kommunaler Güter, Gentrifizierung und kontrollpolitische Durchdringung öffentlicher Räume. Vor allem international agierende NGO verbinden damit spezifische Rechte, die als Leitfaden für good urban governance-Praktiken gelten: menschenwürdiges Wohnen, ausreichende Infrastrukturversorgung, partizipatorische Entscheidungsfindung und Transparenz im kommunalen Regierungshandeln. Solche Konzepte, deren Verwirklichung sicherlich zu einer Verbesserung des städtischen Alltagslebens beitragen würde, haben allerdings wenig mit der Utopie von Henri Lefebvre gemein, der diese Parole 1968 – dem Jahr der internationalen Studentenrevolten und des Pariser Mai-Aufstands – erstmals auf die politische Agenda gesetzt hat.
Der französische Philosoph und Raumtheoretiker verfolgte damit ein staats- und herrschaftskritisches Projekt, dessen Anspruch über das bestehende System hinausweist: »Nur ein globales Projekt kann alle Rechte, die der Individuen und die der Gruppen, definieren und verkünden, indem es die Bedingungen ihrer praktischen Verwirklichung bestimmt. Heben wir unter diesen Rechten hervor das Recht auf Stadt (das Recht, nicht aus der Gesellschaft und der Kultur abgedrängt zu werden in einen Raum, der zum Zweck der Diskriminierung produziert wurde) und das Recht auf Abweichung (das Recht, nicht von notwendigerweise homogenisierenden Mächten in vorgegebene Kategorien gepresst zu werden).« Das »Recht auf Stadt« fasst Lefebvre weniger als juristisches Recht auf, sondern versteht es als Forderung jener sozialen Gruppen, die unter dem reglementierten städtischen Alltag leiden oder in irgendeiner Weise marginalisiert werden: Jugendliche, Frauen, Studenten, Migranten, Kolonisierte und Semikolonisierte, Arbeiter und Intellektuelle.

Die Stadt als Entscheidungs- und Konsum­zentrum
Das Projekt von Lefebvre muss zunächst auf den konkreten historischen Kontext bezogen werden. In den sechziger Jahren erlebt Frankreich eine Periode exzessiver Urbanisierung. Beschleunigt durch die Landflucht, die Rückkehr vieler französischer Soldaten aus Algerien nach dem blutig verlaufenden Unabhängigkeitskrieg (1961) und den Zuzug von Arbeitsmigranten aus Nordafrika, Spanien und Portugal, kam es vor allem im Großraum Paris zu einer starken Bevölkerungszunahme. Ab Mitte der fünfziger Jahre fanden dort »Landnahmen« in Form von bidonvilles (Behausungen, die aus Behältern, Kanistern und ähnlichem Material bestehen) statt, die aus der Perspektive der Regierenden bedrohliche Ausmaße annahmen. Um die Situation zu entschärfen, wurden in den städtischen Peripherien sogenannte grands ensembles, einheitlich konzipierte und standardisierte Siedlungen mit jeweils Tausenden von Wohneinheiten, aus dem Boden gestampft. Lefebvre reflektierte, dass der französische Staat eine Restrukturierung des nationalen Raumes und eine Reorganisation des Kapitalismus vorantrieb. Im Rahmen dieser Modernisierungspolitik formierte sich eine Gruppe von Planern und Experten, die einen neuen ideologischen Diskurs entwickelte: den des Urbanismus. Der Raum wird nun von einer technokratischen Rationalität geformt, er ist Gegenstand der Staatsgewalt, die mittels Raumplanung, Wohngesetzen und Investitionen in die Infrastruktur politisch regulierend eingreift. Für den französischen Philosophen stellt somit der Raum eine strategische Größe dar, Raumanalyse impliziert stets auch Machtanalyse.
Der kapitalistische Raum zeichnet sich nach Lefebvre grundsätzlich durch Einheitlichkeit und Fragmentierung aus. Er basiert auf der Trennung von Orten, die dann wieder miteinander verbunden werden. Einerseits bewirken die abstrakte Logik der Warenökonomie und die staatlichen Kontrollstrategien eine Tendenz zur Homogenisierung, andererseits fragmentieren die kapitalistischen Verwertungsstrategien (Bauindustrie, Immobilienspekulation etc.) den Raum, indem sie ihn parzellieren, zerschneiden und »pulverisieren«. Sowohl die Stadt als auch das Land werden Opfer der kapitalistischen Akkumulation, eine Entwicklung, die von den staatlichen Akteuren orchestriert wird. Bildhaft gesprochen vollzieht sich der Urbanisierungsprozess nach dem Prinzip von »Explosion« und »Implosion«. Die historische Stadt explodiert, indem ihre Trümmer weit hinaus geschleudert werden und neue »Satellitenvorstädte« entstehen. »Implosion« steht für die gleichzeitig stattfindende Aufwertung der historischen Stadtzentren, die von den noch bestehenden »Elendsquartieren« gereinigt werden. Lefebvre, der diesen Prozess am Beispiel von Paris verfolgt, verweist dabei auf Baron Haussmann, der Mitte des 19. Jahrhunderts im Auftrag Napoleons III. das Zentrum der Metropole für die besitzenden Klassen umkrempeln und die städtische Armut aus den noch mittelalterlich geprägten Stadtquartieren vertreiben ließ. Hundert Jahre später beobachtete er einen ähnlichen Prozess: Erneut würden die subalternen Klassen aus dem Kernstadtbereich von Paris entfernt. Die Verwertungsstrategien des Finanzkapitals und der Kulturindustrie leiteten eine weitere Runde der Verdrängung, Gentrifizierung und Musealisierung ein.
Obwohl die Stadt mit der vollständigen Urbanisierung der Gesellschaft keine eigene Produktions- und Lebensweise mehr darstellt, verliert sie nach Lefebvre nicht ihre spezifische Funktion der Zentralität. Der vormalige Stadt-Land-Gegensatz transformiere sich zu einem neuen Gegensatz, demjenigen zwischen Zentrum und Peripherie. Die städtischen Kerne regenerieren sich als Orte des Konsums und als konsumierbare Orte. Metropolen wie New York oder Paris steigen zu Macht- und Entscheidungszentren der Finanzökonomie auf. Hier verdichten sich ökonomischer Reichtum, Macht und Wissen in einer neuen Qualität. Für Lefebvre beruht der Vorzug der städtischen Zentralität vor allem auf der »Gleichzeitigkeit«: Sie beinhaltet alles, was sich synchron an einem Punkt verdichten lässt. Das Potential der Stadt liegt darin, dass sie unterschiedliche Elemente einer Gesellschaft zusammenführt und miteinander reagieren lässt. Aus diesem Zusammentreffen kann Unerwartetes und Neues entstehen. »Alles, was andernorts entsteht, reißt die Stadt an sich: Früchte und Objekte, Produkte und Produzenten, Werke und schöpferisch Tätige, Aktivitäten und Situationen. Was erschafft sie? Nichts. Sie zentralisiert die Schöpfungen«, heißt es in »Die Revolution der Städte«. Lefebvre hat den »schöpferischen Überschuss« der Stadt im Auge, der über die beschränkte Rationalität der Ökonomie und der administrativen Planung hinausgeht. Er unterscheidet deutlich zwischen der herrschenden Morphologie der Stadt, die Entfremdung und regulierte Verhaltensnormen erzeugt, und dem »Städtischen«, dem Bedürfnis nach einem vielseitigen, abwechslungsreichen Lebenszusammenhang. Das »Recht auf Stadt« bedeutet deshalb für Lefebvre auch, das »Zentrum« als Ort der Kreation und der Urbanität wieder zu finden. Diese Perspektive entsprach auch den Anliegen der »kulturrevolutionären« Bewegungen der späten sechziger und der siebziger Jahre. Die Intensität der Kämpfe und die Freisetzung von »autonomer Subjektivität« führten jedoch nicht zu einer grundlegenden Veränderung des Systems, vielmehr gelang es dem Kapitalismus durch neue Identitäts- und Konsum­angebote auf bestimmte Anliegen der sozialen Bewegungen einzugehen und Forderungen nach »Autonomie« und »Kreativität« für seine Zwecke zu instrumentalisieren.

Bruchstellen im neoliberalen Alltag
Heute gelten die Zentren der Metropolregionen als privilegierte Innovationsfelder der Wissens- und Kulturproduktion sowie als Vorreiter neuer postindustrieller Arbeits- und Lebensformen. Im globalen Standortwettbewerb, so die vorherrschende Behauptung, komme der »Kreativität« als wesentlichem Bestandteil der wissensintensiven Ökonomie eine strategische Bedeutung zu. Die damit assoziierte »Kreativindustrie« steht nicht nur für Kunst und Kultur, vielmehr geht es auch um konsumorientierte Dienstleistungen, um neue Technologien und die verschiedenen Sparten der Wissensproduktion. Gemeint ist damit letztlich eine verstärkte Durchdringung von Kultur und Ökonomie als wesentliche Voraussetzung für die Prosperität der Städte. Aus der Creative City-Perspektive wird das gesamte städtische Leben vornehmlich als eine Ressource angesehen, die es auszubeuten und marktförmig zu verwerten gilt.
Doch die Geschichte der Räume war und ist eine Geschichte der gesellschaftlichen Widersprüche in den Produktionsverhältnissen. Es gilt also, die Bruchstellen im neoliberalen Alltagsleben zu finden, wo Kollektive oder Individuen sich der herrschenden räumlichen Praxis entziehen, sie unterlaufen oder sich ihr offen widersetzen. Der Kampf um das »Recht auf die Stadt« ist nicht notwendigerweise ein Kampf der Unterprivilegierten. Es sind eher diejenigen, für die die Zentralität als Ressource besonders wichtig ist. Dieses Anliegen produziert auch Räume, in denen die subversiven Kräfte des Bruchs und des Spiels aufeinander treffen und (gegebenenfalls) gemeinsam versuchen, sich die Stadt »anzueignen«.