Paul Kirchhofs Vorschläge zur Steuerreform

Avantgarde der Ehrbarkeit

Der Staatsrechtler Paul Kirchhof probt den konformistischen Aufstand gegen das deutsche Steuersystem.

Einst galten »Systemkritiker«, »Radikalreformer« und »Rebellen« als gefährliche Subjekte mit subversiven Absichten, als Fälle für die wehrhaft-demokratische Observation durch den Verfassungsschutz oder andere Freiheitsbehörden. Das hat sich seit der erfolgreichen Systemkritik in den Realsoz-Staaten, dem radikalreformerischen »Umbau des Sozialstaates« und der Rebellion gegen das Raucherunwesen in Gaststätten gründlich geändert. Einen der großen Subversiven unserer Tage hat die Süddeutsche Zeitung jüngst mit folgenden Worten beschrieben: »Ein radikaler Reformer – das ist heutzutage ein freundlicher älterer Herr mit sanfter pastoraler Stimme. Er ist weder arm noch gehört er zu den politischen Außenseitern. In Ländern wie der Bundesrepublik arbeitet ein solcher Systemkritiker häufig in Univer­sitäten oder den wirtschaftsnahen Stiftungen. Manchmal, wie im Fall Paul Kirchhof, ist er sogar ein ehemaliger Verfassungsrichter.«

Wie die meisten zeitgemäßen Radikalen versteht Kirchhof seine Subversion nicht als Versuch der Delegitimierung der Staatsmacht, sondern vielmehr als Präventionsmaßnahme gegen die mögliche Unzufriedenheit der Staatsbürger, weil man ja nie wissen kann, wohin diese führt. Der »Steuerrebell« wendet sich gegen die Ignoranz des staat­lichen Herrschaftspersonals im Interesse der Herrschaft: »Wir müssen wieder Rechtsbewusstsein im Steuerrecht schaffen. Menschen, die nie ­einen Banküberfall begehen würden, sind bereit, Steuern zu hinterziehen. Da zerbröselt ein Fundament unseres Staates«, zitiert ihn Focus Online. Dies ist Kirchhofs aktualisierte Variante jenes »Wehret den Anfängen«, mit dem sich schon Subversive früherer Tage dem Staatsbürgerbewusstsein ihrer Zeit als Sachwalter anzudienen versuchten. Paul Kirchhof ist ein wahrer Rebell des common sense.
Die Naivität der altbackenen Systemkritiker mit ihren Umverteilungsforderungen – die Etats der repressiven Staatsorgane sollten zugunsten der »sozialen« gesenkt, die Reichen höher als die Armen besteuert werden etc. – ist dem Staatsrechtler Kirchhof so fremd wie die Rückseite des Mondes. Die Kosten-Nutzen-Rechnungen früherer »Reformer«, das Lamentieren darüber, dass der Staat die finanziellen Auswirkungen wirtschaft­lichen Misserfolgs fiskalisch auf die zur Arbeit Verurteilten abwälze, dürften in den Ohren des neuen Subversiven wie Zitate aus der Asservatenkammer des Verfassungsschutzes klingen. Der an der Universität Heidelberg beamtete Staatsjurist Kirchhof weiß, dass der staatliche Souverän schon in den Präambeln seiner Steuergesetze konkrete Gegenleistungen für erbrachte Zahlungen ausschließt. Den Steuerrebellen Kirchhof treibt stattdessen die Sorge über einen möglichen Le­gitimitätsverlust des Souveräns um: Das Steuerrecht habe »seine Autorität verloren, weil ihm jeder gleich mit dem Ziel begegnet, die Last zu vermeiden«, sagte er der FAZ.

Es sei vor allem die Unüberschaubarkeit der deutschen Steuergesetze – ihre diversen Ausnahmebestimmungen, die selbst von Spezialisten nicht vollständig erfassbaren Abschreibungsmöglichkeiten –, die ansonsten brave Staatsbürger zu einer potentiellen Opposition gegen den Souverän zusammenzuschweißen drohe. Deshalb sei hier Eindeutigkeit geboten, jeder müsse wissen, was er dem Staat schuldig sei, und dementsprechend handeln, also seinen Obolus entrichten: »Ein Viertel für den Staat, drei Viertel für mich.« Wer das nicht akzeptiere, sei »kein ehrbarer Kaufmann«. Schon im Bundestagswahlkampf 2005, als der parteilose Kirchhof vorübergehend als informeller Finanzminister im »Schattenkabinett« der CDU fungierte, hatte er sein Konzept einer radikal vereinfachten Steuererklärung vorgelegt, die nach den berühmten Worten seines Gesinnungsgenossen Friedrich Merz »auf einen Bierdeckel passt«. Freilich ohne Erfolg, noch im Wahlkampf ging er seines Schattenpostens verlustig, was von einer sozialdemokratischen Legende bis heute auf die intellektualitätsfeindliche Invektive Gerhard Schröders zurückgeführt wird, der Kirchhof seinerzeit der professoralen »Weltfremdheit« geziehen hatte. Nun aber ist er wieder im Geschäft. Paul Kirchhof, der nicht nur der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg vorsteht, sondern auch deren Forschungsgruppe »Bundessteuergesetzbuch« leitet, hat unter dem Namen dieser Forschungsgruppe ein 123 Seiten starkes Papier veröffentlicht, in dem mit Dank für die freundliche Unterstützung durch die Fritz-Thyssen-Stiftung dafür plädiert wird, das bundesrepublikanische Steuerwesen zu revolutionieren, um auf diese Weise Staats- und Politikverdrossenheit entgegenzuwirken. Der zu diesem Zweck unterbreitete Vorschlag gestaltet sich aller­dings der großartigen Rhetorik zum Trotz recht simpel und kann vom Souverän wie auch von jedem Staatsbürger leicht bewältigt werden: Ab ­einem Bruttojahreseinkommen von 20 000 Euro zahlt jeder einen einheitlichen Steuersatz von 25 Prozent, Erwachsenen wird jährlich ein Freibetrag von 10 000 Euro gewährt, pro Kind können sie noch einmal 8 000 Euro Abschlag erhalten. Die bisherigen Abschreibungsmöglichkeiten, von denen das Papier 534 verschiedene kennt, sollen abgeschafft werden. Die Umsatzsteuer soll dem Kirchhofschen Programm zufolge auf 19 Prozent fixiert bleiben.

Das gesamte deutsche Steuerrecht soll von rund 30 000 Paragraphen auf exakt 134 reduziert werden. Auch sollen so gut wie alle bisher existierenden 534 Ausnahmetatbestände und Steuerprivilegien wie die Pendlerpauschale gestrichen werden. Durch vier Steuerposten soll dem Staat aber weiterhin der Löwenanteil bei Produktion und Konsumtion seiner Bürger gesichert sein: Einkommens-, Erbschafts-, Umsatz- und Verbrauchssteuern (letztgenannte betreffen vor allem Alkohol, Tabak und Benzin) sind demnach ebenso sakrosankt wie die Möglichkeit ihrer Anhebung. Inzwischen haben fast alle Berufenen, darunter nicht wenige verbliebene »Reformer« der alten Schule, nachgerechnet und herausgefunden, dass sich die Kirchhofsche Radikalreform für die »einfachen Menschen« ebenso wenig rechnet wie die bestehende Besteuerung. Mit Ausnahme der thüringischen Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) und von Volker Wissing (FDP), der bis vor kurzem Vorsitzender des Finanzausschusses des Bundestages war, hat noch kaum jemand dem konformistischen Rebellen applaudiert. Parteiübergreifend meldeten sich fast nur Verächter von Kirchhofs »25-Prozent-Flat-Tax« zu Wort. Das reicht von lautstarken Verdammungen wie in der SZ (»Kirchhof wird auch in zehn Jahren noch kein Verständnis dafür finden, dass der Chefarzt den gleichen Steuersatz zahlen soll wie die Krankenschwester«) bis zu den scheinbar meditativen Erwägungen des Finanzministers Wolfgang Schäuble, der rügte, dass Kirchhofs Pläne einer 25-Prozent-Flat-Tax »nicht zur Lebenswirklichkeit der Menschen« passten. Man könne, so Schäuble, niemandem erklären, warum ein Vorstandsvorsitzender genauso besteuert werden solle wie sein Fahrer. Außerdem entspreche es nicht dem Gebot der sozialen Verantwortung, wenn Arbeitnehmer ihre Steuerlast nicht verringern könnten, falls sie gemeinnützige Arbeit, etwa als Übungsleiter für Schülersportgruppen, leisteten. Der Staat stellt sich heute als Rätsel dar: Möchte man als Krankenschwester oder Übungsleiter sein Glück in einem Spiel von Erfolg und Misserfolg suchen oder lieber in einem Flatrate-Vertrag mit vereinbarten Kündigungsfristen – die freilich für beide Seiten gelten, was für Krankenschwester oder Übungsleiter schnell end of the game heißen kann? Oder gibt es nicht doch noch irgendwo eine Quit-Funktion?