Referendum und Proteste in Marokko

Wählen ist gut, befehlen ist besser

Nach offiziellen Angaben stimmten 98,5 Prozent der Marokkaner für eine neue Verfassung, die das Land zu einer »demokratische Monarchie« erklärt. Doch König Mohammed VI. bleiben zahlreiche Vollmachten, und am Wochenende kam es erneut zu oppositionellen Massendemons­trationen.

»Mehr König denn je« – so fasst das marokkanische Wochenmagazin Tel Quel die jüngste Reform der Verfassung zusammen. Diese wurde am vergangenen Freitag per Referendum angenommen. Die Marokkaner leben nun in einer »konstitutionellen, parlamentarischen, sozialen und demokratischen Monarchie«, das zumindest wird im Verfassungstext behauptet. Die Reform gilt als Antwort des marokkanischen Herrscherhauses auf die Revolten des »Arabischen Frühlings«: Protest ist unnötig, der König löst die Probleme.
Zuletzt war die Verfassung unter dem Druck einer erstarkenden Opposition im Jahr 1996 geändert worden, bereits damals war von »Demokratisierung« die Rede. Doch auch nach der jüngsten Reform bleiben dem König zahlreiche Vollmachten. Er bleibt Emir al-muminin (Befehlshaber der Gläubigen), also religiöses Oberhaupt der marokkanischen Muslime mit entsprechender Weisungsbefugnis, und Oberbefehlshaber der Armee. Zudem leitet er weiterhin die Kabinettssitzungen, legt die Tagesordnung der im Ministerrat geführten Debatten fest und hat das Recht, das Parlament aufzulösen.
Künftig werden zehn von 20 Mitgliedern des obersten Richtergremiums, das über Stellenbesetzungen und Disziplinarmaßnahmen entscheidet, unmittelbar vom Monarchen ernannt. Allerdings wird der Einmischung des Innenministeriums in die Angelegenheiten der Justiz ein Ende gesetzt. Einfluss auf die Rechtsprechung kann nur noch der König selbst nehmen, aber nicht mehr der Apparat der Exekutive. Ansonsten sollen die Richter in ihrer alltäglichen Praxis nicht länger weisungsgebunden sein.
Das Recht auf einen fairen Prozess und auf rechtliches Gehör sowie das Folterverbot sind nun explizit in der Verfassung festgeschrieben. Diese enthält auch detaillierte Einzelvorschriften, die man eher in einem Gesetzbuch oder in einer Strafprozessordnung erwarten würde und die etwa das Recht auf eine Entschädigung im Fall einer Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte vorsehen. Es ist allerdings unklar, ob die Regeln beachtet werden und es möglich sein wird, bei Verstößen mit Aussicht auf Erfolg zu klagen.

Die Todesstrafe wird nicht abgeschafft, es ist ­lediglich in allgemeiner Form von einem »Recht auf Leben« die Rede. Allerdings hat es in Marokko seit 1993 keine Hinrichtungen mehr gegeben, während Folter in den neunziger Jahren weit verbreitet war und in jüngerer Zeit wieder verstärkt angewendet wurde.
Nunmehr werden auch die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Geltung internationaler Konventionen – etwa zur Einhaltung der Menschenrechte – in der Verfassung proklamiert. An anderen Stellen des Textes werden die Menschenrechte jedoch durch die Bindung an religiöse Normen konterkariert. Der Islam bleibt Staatsreligion, doch wird die »Freiheit der Religionsausübung für alle« garantiert. Die von progressiven Oppositionellen geforderte »Glaubens- und Gewissensfreiheit«, die auch die Religionslosigkeit eingeschlossen hätte, wurde hingegen aus dem Text gestrichen – ein Zugeständnis an die staatstragende islamistische Partei PJD (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), die daraufhin die Kampagne für die Annahme des Textes unterstützte.

Viel Zeit für Debatten über die Reform blieb nicht. Nur zehn Tage hatten die Behörden den Marokkanern Zeit gelassen, um über die Vorlage zu entscheiden, nachdem König Mohammed VI. den neuen Verfassungstext in einer Thronrede am 17. Juni präsentiert hatte. Es bestand nie Zweifel daran, dass die Verfassung angenommen werden würde. Einerseits hatten die Massenmedien, die etablierten Parteien und der Staatsapparat einschließlich der regimetreuen Prediger zur Zustimmung aufgerufen. Andererseits warb fast niemand dafür, mit Nein zu stimmen, nahezu die gesamte radikale Opposition forderte stattdessen den Boykott des Referendums.
Zu dieser Opposition zählt die »Bewegung des 20. Februar«, jene außerparlamentarische Protestbewegung, die sich kurz nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten gebildet hatte und die in allen größeren Städten präsent ist. Seit Ende Februar hat diese Bewegung mehrmals Hunderttausende von Menschen auf die Straße gebracht. Sie prangerte den Autoritarismus, die Korruption und die erneute Anwendung der Folter ebenso an wie die sozialen Unterschiede und die Lebensbedingungen in den bidonvilles genannten Slums.
Unterstützung fand die »Bewegung des 20. Februar«, die selbst unabhängig von den Parteien blieb, bei der radikalen Linken, den ehemaligen Maoisten der Partei Demokratischer Weg, den Trotzkisten von al-Mounadil-a (Der Aktivist, die Aktivistin) und der linkssozialistischen Partei PSU. Auch einige marokkanische Gewerkschaften, die dem Dachverband CDT angeschlossen sind, unterstützten die Proteste, ebenso wie viele Menschenrechtsgruppen. Für den Boykott sprach sich auch eine islamistische Organisation aus, die pietistisch-gewaltlose Bewegung al-Adl wal-ihsane (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit). Die mit Abstand stärkste islamistische Partei Marokkos, der PJD, hielt sich jedoch von den Demonstrationen fern und unterstützte den König.

Aufschluss über die Zustimmung zur Verfassungsreform gibt daher nicht die Zahl der Nein-Stimmen, sondern die Beteiligung am Referendum. Den offiziellen Angaben zufolge stimmten 98,5 Prozent der Wähler, die eine gültige Stimme abgegeben hatten, mit Ja, nur 1,5 Prozent lehnten den Entwurf ab. Die Wahlbeteiligung wurde mit 72,65 Prozent angegeben, doch die Grundlage dieser Berechnung des marokkanischen Innenministeriums ist umstritten. Das Ministerium beruft sich darauf, dass 9,5 Millionen Wähler ihre Stimme abgeben hätten, insgesamt 13 Millionen Einwohner seien in die Wählerlisten eingetragen.
Die Opposition rechnet jedoch völlig anders. In Marokko leben rund 21 Millionen erwachsene Bürger, von denen sich etwa 62 Prozent in das Wählerregister eintragen ließen, um an den Parlamentswahlen teilnehmen zu können. Jedoch wurde von niemandem beim Referendum eine Wählerkarte verlangt, vielmehr wurden auch nicht in die Wählerregister eingetragene Einwohner ausdrücklich zur Stimmabgabe ermutigt, um die Beteiligung so hoch wie nur irgend möglich ausfallen zu lassen. Unternehmer insistierten darauf, dass ihre Lohnabhängigen während der Arbeitszeit abstimmen sollten.
Die Opposition argumentiert, dass die Abgabe von 9,5 Millionen Stimmen auf die tatsächliche Anzahl der volljährigen Bürger hochgerechnet werden müsse. Nach dieser Rechnung haben nur 44 Prozent der erwachsenen Marokkaner der Vorlage zugestimmt. Dabei wären eventuelle Wahlmanipulationen noch nicht berücksichtigt.
Wie zufrieden die Marokkaner mit ihrer »demokratischen Monarchie« sind, bleibt also unklar. Am Sonntag beteiligten sich erneut Zehntausende Menschen in mehreren marokkanischen Städten an Demonstrationen der außerparlamentarischen Opposition. Offizielle Angaben zur Teilnehmerzahl waren von den Behörden nicht zu erhalten, und die Schätzungen der Opposition, die von etwa 200 000 Demonstranten allein in der nordmarokkanischen Hafenstadt Tanger und 50 000 in der Hauptstadt Rabat ausgehen, dürften etwas übertrieben sein. Doch alles deutet darauf hin, dass weit mehr als 1,5 Prozent der Marokkaner mit den politischen und sozialen Verhältnissen unzufrieden sind.