Der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst Großbritanniens

Große Gesellschaft ohne Gewerkschaft

Von Eric Lee

Am Streik im öffentlichen Dienst Großbritanniens beteiligten sich vorige Woche fast 750 000 Beschäftigte. Doch auch die oppositionelle Labour Party kritisiert den Arbeitskampf.

Wie viele Schulen blieben geschlossen? Wie groß war die Zahl der Jobzentren, die ihre Türen nicht öffneten? In der Berichterstattung über den Streik im öffentlichen Dienst konzentrierten sich die britischen Medien vor allem auf die Frage, welche Auswirkungen der Arbeitskampf hatte. Nach Angaben der Gewerkschaften war der Streik­aufruf ein Erfolg, während die konservativ-liberale Regierung behauptete, es habe kaum spürbare Auswirkungen gegeben. Nur selten wurde darüber debattiert, warum der Ausstand am Donnerstag voriger Woche überhaupt stattfand.
An diesem Streik, der möglicherweise erst der Anfang einer Welle von Arbeitskämpfen war, beteiligten sich fast 750 000 Beschäftigte. Die Regierung hat eine Reihe von Änderungen angekündigt, die die Pensionen für Angestellte des öffentlichen Dienstes erheblich mindern würden. Unter anderem soll ein niedrigerer Inflationsindex für die Berechnung der Pensionserhöhungen gelten, die Beschäftigten sollen höhere Beiträge zahlen, für die meisten Berufsgruppen will die Regierung das Rentenalter auf 66 Jahre erhöhen, und in Zukunft soll das durchschnittliche Gehalt während des Arbeitslebens und nicht mehr der Verdienst vor dem Ruhestand ausschlaggebend sein.
Einige Gewerkschaften haben gegen diese Pläne geklagt, alle haben versucht, mit der Regierung zu verhandeln. Doch zu Zugeständnissen ist Premierminister David Cameron nicht bereit, deshalb haben vier große britische Gewerkschaften zum Streik aufgerufen. Derzeit sympathisieren die meisten Briten mit den Streikenden, obwohl der Arbeitskampf Unannehmlichkeiten mit sich bringt. Wenn es jedoch im Herbst zu weiteren Arbeitskämpfen kommen sollte, an denen sich mehr Beschäftigte beteiligen und die länger dauern, könnte diese Unterstützung schwinden.
Aus Sicht der Gewerkschaften ist der Streit um die Pensionen Teil eines größeren Konflikts. Cameron propagiert die »Big Society«, der Staatssektor soll schrumpfen, seine Aufgaben sollen angeblich effizientere Privatunternehmen erfüllen, auch Wohlfahrtsorganisationen und Bürgergruppen sollen einspringen. Gewerkschaften sollen in der »Big Society« keine bedeutende Rolle spielen, wie jüngst von konservativen Politikern klargestellt wurde. Sie bestritten die Legalität des Streiks, da sich nur eine Minderheit der Gewerkschaftsmitglieder an der Urabstimmung beteiligt habe. Boris Johnson, der Bürgermeister von London, und andere Konservative fordern neue Gesetze, die das Streikrecht weiter einschränken.

In Großbritannien gilt bereits ein restriktiveres Arbeitsrecht als in den meisten anderen europäischen Staaten. Es wurde in den achtziger Jahren von der konservativen Premierministerin Margaret Thatcher eingeführt, doch während der 13jährigen Regierungszeit der Labour Party gab es kaum Änderungen. Auch derzeit zeigen die Sozialdemokraten wenig Interesse daran, die Gewerkschaften zu unterstützen. Ed Miliband, der Vorsitzende der Labour Party, stellte sich an die Seite Camerons und forderte die Gewerkschaften auf, den Arbeitskampf abzusagen.
Aus zwei Gründen ist Milibands Stellung­nahme gegen die Gewerkschaftsbewegung besonders bedeutsam. Für Gewerkschaften im ­öffentlichen Dienst ist die Unterstützung durch eine Partei und deren Parlamentsabgeordnete wichtiger als für Beschäftigte des privaten Sektors, und die Gewerkschafter haben den Eindruck, dass sie im politischen System keine Repräsentanten haben. Sozialisten sagen in Zeiten wie diesen den Arbeitern, dass sie eine Partei benötigten, die sie repräsentiert. Doch in Großbritannien galt den meisten Gewerkschaftern seit einem Jahrhundert Labour als diese Par­tei.

Überdies glaubte man von Miliband, dass er gewerkschaftsfreundlicher sei als seine Vorgänger. Unter den Bewerbern für die Nachfolge Gordon Browns war es Miliband, den die Gewerkschaften favorisierten. Er hatte angekündigt, die von Brown und Tony Blair unter dem Motto »New Labour« propagierte, wirtschaftsliberal geprägte Politik durch eine Rückkehr zu den traditionellen sozialdemokratischen Werten zu ersetzen. Rechte Me­dien gaben ihm sogar den Spitznamen »Red Ed«, doch diesem Ruf ist Miliband nicht gerecht geworden.Die Gewerkschaften müssen nun den Druck erhöhen, um die Regierung im Streit um die Pensionen zur Rücknahme ihrer Pläne zu bewegen. Sie könnten es schaffen. Kleinere, weniger einflussreiche Gruppen haben die im vergangenen Jahr gewählte, aber bereits unpopuläre konservativ-liberale Koalitionsregierung zu Zugeständnissen gezwungen. So wurde der Vorschlag, die britischen Wälder zu privatisieren, nach einer Kampagne im Internet zurückgezogen. Auch die geplante Reform der staatlichen Gesundheitsversorgung wurde wegen der Empörung in der Öffentlichkeit verschoben.
Um den Kampf gegen die Pensionsreform zu gewinnen, müssen die Gewerkschaften zusammenarbeiten, zumal sie nicht auf die Unterstützung der Labour Party zählen können. Doch eine solche Zusammenarbeit gibt es derzeit nicht. Unison, die größte Gewerkschaft im öffentlichen Dienst, beteiligte sich nicht am Streik, sie will die Ergebnisse der Verhandlungen mit der Regierung abwarten. Selbst in den Gewerkschaften, die den Arbeitskampf organisierten, gab es unterschiedliche Meinungen, eine nicht unbedeutende Zahl von Mitgliedern sprach sich gegen den Streik aus.
Das Problem der britischen Gewerkschaftsbewegung ist, dass sie ihre Basis im Privatsektor weitgehend verloren hat. Die ein Jahrhundert lang in der verarbeitenden Industrie und im Bergbau sehr einflussreichen Gewerkschaften sind binnen einer Generation fast verschwunden. Es bleiben die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, deren Gewerkschaftsführer nun von einem »Herbst der Unzufriedenheit« und weiteren Arbeitskämpfen sprechen, die aber einer großen Koalition der Streikgegner im politischen Establishment gegenüberstehen.