Berlin Beatet Bestes

Die Frau mit dem The-Who-Kreisel

Berlin Beatet Bestes. Folge 103. Sister Rosetta Tharpe: Strange Things Happening Every Day (1944).

Als ich vor vielen Jahren, in einer Zeit vor Wikipedia und Youtube, die EP »Gospel Songs« in einem Trödelladen fand, wusste ich nichts über Sister Rosetta Tharpe. Das Cover sah interessant aus, aber ich erwartete nicht viel von der Musik. Was für eine Überraschung, als ich die Platte zu Hause zum ersten Mal hörte! Das war nicht die Gospelmusik, die ich bisher kannte, sie rockte regelrecht.
Die Band von Tharpe spielt Rhythm&Blues und Boogie Woogie, die schwarzen Vorläufer des weißen Rock’n’Roll. Vor allem aber ist es die von Rosetta Tharpe virtuos gespielte Steel-Guitar, die die Songs vorantreibt. Und doch wird in diesen vier zwischen 1944 und 1951 aufgenommenen Songs nur von Gott gesungen. Die kräftigen und leidenschaftlichen Stimmen verströmen einen tiefen Glauben, den ich zwar nicht verstehen, aber fühlen kann. Die Leichtigkeit, mit der hier der Graben zwischen Religion und Alltagsleben, zwischen Geist und Körper überbrückt wird, ist beindruckend, diese Musik will die Hörer von ihren Stühlen reißen. Nur das schwarze Amerika hat es fertiggebracht, in der Kirche zu tanzen und danach wie selbstverständlich in den Savoy Ballroom zu gehen, um »Jitterbug« zu tanzen.
Rosetta Tharpe nahm bereits 1938 ihre erste Schallplatte auf, begleitet von Lucky Millinder und seinem Orchester. Im selben Jahr trat sie zusammen mit Cab Calloway und Benny Goodman im Cotton Club auf und wurde mit ihrer Kombination von gospelinspirierten Themen und Up-Tempo-Arrangements schnell erfolgreich.
Auf meiner deutschen Zusammenstellung sind »Look Away In The Heavenly Sky«, »Milky White Way« und Tharpes Hit »Up Above My Head« enthalten, die zusammen mit Marie Knight eingespielt wurden. Im traditionellen Call-and-Response-Stil singt Knight dabei die tiefere, sonst üblicherweise männliche Bassstimme, die auf Tharpes Solostimme anwortet. Angeblich war es ein offenes Geheimnis im Showbusiness, dass Knight und Tharpe ein Liebespaar waren. Einige Jahre gingen beide zusammen auf Tour und nahmen Platten auf, bis Rosetta Tharpe 1951 heiratete. Die Hochzeit mit ihrem Manager fand vor 25 000 zahlenden Besuchern in einem Stadion in Washington statt.
Tharpes spätere Leistung bestand darin, den Übergang aus der Swingära der vierziger Jahre in die Fünfziger zu schaffen und dann auch noch ausgerechnet mit ihren religiösen Songs eine Wegbereiterin des Rock’n’Roll zu werden. »Strange Things Happening Every Day«, aufgenommen 1944 und begleitet vom Boogie-Woogie-Pianisten Sammy Price und seinem Trio, gilt nicht zu Unrecht als einer der ersten Rock’n’Roll-Songs der Geschichte. Den merkwürdigen Kon­trast, den Rosetta Tharpes kräftige und würdige Erscheinung und ihr Gitarrenspiel bilden, ist auf einigen Youtube-Videos zu sehen. Viele Manierismen der Rock’n’Roll-Gitarristen vorwegnehmend, spielt sie tanzend und mit ausgestrecktem, kreisenden Arm, der später ein Markenzeichen von Pete Townshend wurde. Zuerst gekreist hatte aber Sister Rosetta Tharpe.