Warum Zoos für die Forschung gut sind

Das Leben ist ein Zoo

Angesichts des Starrummels um Tiere wie Heidi und Knut könnte fast in Vergessenheit geraten, dass im Zoo auch Grundlagenforschung betrieben wird.

Mit Zahlen muss der Zoo Leipzig nicht geizen, wenn er seine neu eröffnete Tropenhalle Gondwanaland anpreist: Mit einer Grundfläche von 16 500 Quadratmetern ist sie das größte Bauwerk dieser Art in Europa. Die Kosten beliefen sich auf rund 67 Millionen Euro, eine auch für Zoo-Verhältnisse stolze Summe. Dafür leben in dem künstlichen Regenwald über 40 Tierarten mit mehr als 300 Individuen und etwa 17 000 Pflanzen aus 500 Arten. Allein in den ersten zwei Wochen seit der Eröffnung am 1. Juli strömten 100 000 Besucher in den Zoo, um Gondwanaland auf den quer durch die Halle führenden Wegen, während einer Flussfahrt im Boot oder auf einem Baumwipfelpfad in luftiger Höhe zu erkunden.
Noch ist nicht alles eingespielt: Der entzückende Schabrackentapir etwa ist noch nicht eingezogen, das schüchterne Tier muss erst langsam an seine neue Heimat gewöhnt werden und verweilt derzeit lieber hinter den Kulissen. Und vor dem Gehege der Opossums stauen die Besucher sich, weil bei der Planung niemand ahnen konnte, dass ausgerechnet die immer etwas räudig aus­sehenden Beutelratten den neuen Star des Zoos stellen würden: die glupschäugige, schielende und übergewichtige Heidi, bekannt aus Funk und Fernsehen. Zeitweilig wurde überlegt, wie in amerikanischen Zoos an beliebten Gehegen üblich, ein Laufband einzubauen. Man nahm Abstand von der Idee, die Lebenserwartung von Opossums lässt bauliche Investitionen nicht wirklich sinnvoll erscheinen. Nun stehen Mitarbeiter des Zoos bereit, um Heidi-Fans sanft darauf hin­zuweisen, dass es auch im Rest der Halle interessante Tiere zu sehen gibt: die derzeit einzigen Komodowarane Deutschlands etwa, immerhin die größten Echsen der Welt.

Hyperprominente Tiere und viel Rummel – entspricht das noch der Aufgabe eines Zoos, hört man es sauertöpfisch quaken. Oder werden, so einer der häufigen Vorwürfe, die Einrichtungen immer mehr zu einer Art »Disneyland mit Tieren«, wie die Taz kürzlich titelte?
So absurd das Theater um Heidi, Knut & Co. auch anmutet: Ein Zoo-Phänomen ist es nicht. Der Kult um die Promi-Tiere unterscheidet sich in der Substanz nicht von dem Gewese, das um Prinzessinnen, Mannschaftssportler oder Musikanfänger mit fragwürdigen Frisuren veranstaltet wird. Und verglichen mit der Aufregung um Bill Kaulitz muss die Verehrung eines schielenden Beutelratten-Pummelchens zweifellos als ästhetisch-zivilisatorischer Gewinn betrachtet werden.
Auch das »Alles wird immer schlimmer«-Ge­nöle greift ins Leere. Dieselbe hysterische Verehrung wurde Zootieren schon vor Jahrzehnten entgegengebracht: Ältere Berliner können noch heute von Flusspferd Knautschke berichten, das nach dem Krieg zu einem Star wurde, und als sich der damalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen Anfang der neunziger Jahre als oberster Zuhälter der Stadt betätigte und persönlich eine Panda-Dame zwecks öffentlich zu vollziehenden Geschlechtsverkehrs von China nach Berlin holte, legten Zehntausende Voyeure die Stadt lahm.
Was die Umgestaltung vom Zoo zur »Erlebniswelt« angeht: Bei nüchterner Betrachtung ist das nur eine rhetorische Veränderung. Schon immer haben Zoos versucht, möglichst viele Zuschauer anzulocken und zu unterhalten. Ob man im Hamburger Tierpark Hagenbeck um 1900 ganze »Eingeborenendörfer« samt zugehöriger »Wilder« ausstellte oder im westfälischen Münster in den siebziger Jahren nach dem Geschmack der Zeit einen Zooneubau komplett aus Beton goss, um ihn als »Allwetterzoo« zu vermarkten, oder ob nun eben die Illusion möglichst echt wirkender Lebensräume geboten wird und die Sehnsucht der von Bildschirmarbeit und Großraumbüros geplagten Menschen nach ursprünglicher Natur ihren Ausdruck darin findet, dass man die Betriebsfeier gerne über dem Krokodiltümpel bei 28 Grad Celsius und 80 Prozent Luftfeuchte abhält – Zoos waren schon vom »Event-Charakter« geprägt, als es das Wort noch gar nicht gab.
Denn die Einrichtungen hängen ab vom Publikumszuspruch. Ihre Kosten sind hoch, ohne entsprechende Besucherzahlen würden sie ihre Legitimation verlieren. Mustergültig war das nach der Wende in Berlin zu beobachten. Schnell wurden Teile des Ost-Zoos, des Tierparks Friedrichsfelde, abgewickelt und gen Westen verlegt. Als die Schlangenfarm, das Terrarium des Tierparks, geschlossen und ins Westberliner Aquarium überführt werden sollte, reichte es den Ostberlinern: Der Widerstand wurde so massiv, dass man die Pläne fallenlassen musste. Die emotionale Bindung der Bürger an Zoos verhindert, dass bei Kürzungsrunden den teuren Einrichtungen die Gelder gestrichen werden.
Das wäre nicht nur ein Jammer, weil Zoos den Menschen offensichtlich viel bedeuten. Es wäre auch ein Desaster für die zoologische Forschung und den Artenschutz. Denn diese beiden Aspekte sind neben der Publikumsbespaßung und Wissensvermittlung ihre vornehmsten Aufgaben.

Über viele Tierarten wüssten wir wenig bis nichts, hätten die Forscher nicht die Möglichkeit, in Zoos zu arbeiten. Anders als in Naturkundemuseen, die früher vor allem der Inventarisierung der Arten dienten, boten Zoos immer schon den entscheidenden Vorteil, am lebenden Objekt forschen zu können. Dabei haben sich die Möglichkeiten gleichzeitig mit den Zoos selbst entwickelt: Bot der klassische Panther aus Rilkes Zeiten in damals zeitgemäßer, aber eher wenig tierfreundlicher Zurschaustellung im Kleinkäfig vor allem die Gelegenheit, neben grundlegenden Daten wie Nahrungsvorlieben und Zahl der Jungtiere Informationen über Verhaltensstörungen zu sammeln, sind mit der fortschreitenden Anpassung der Tiergärten an die Bedürfnisse ihrer Pfleglinge heute komplexe Fragestellungen möglich, die nicht nur dem Zweck der Wissenserweiterung, sondern auch dem praktischen Naturschutz dienen.
Im Aquarium des Kölner Zoos wurde angesichts des weltweiten Amphibiensterbens ein Lurch-Raum eingerichtet, in dem Forschungsergebnisse gewonnen werden. Oft fehlt es noch an Grund­lagenwissen, ohne das Artenschutz unmöglich ist. Etwa: Aus welcher Kaulquappe entwickelt sich welcher Frosch? Die Antwort kann nur die Studie am lebenden Objekt bringen. Gleichzeitig wird in Köln das Sozialverhalten des stark gefährdeten Philippinen-Krokodils erforscht – auch das ist nur in menschlicher Obhut möglich, schon wegen der Schwierigkeit, die Tiere in der Natur überhaupt zu sichten.
Zusätzlich bieten die »Erlebniswelten« für die Forscher neue Möglichkeiten. Der Zoo Zürich eröffnete im Jahr 2003 einen spektakulären Kunst-Regenwald, die Masoala-Halle. Anders als im Leipziger Gondwanaland lag der Ehrgeiz der Schweizer darin, den Wald von der madagassischen Masoala-Halbinsel möglichst detailgetreu nachzustellen. Viele Arten leben frei in der Halle, von Vögeln über Wirbellose bis hin zu Amphibien und Reptilien. Das beschert nicht nur den Besuchern ein relativ »echtes« Naturerlebnis, sondern ermöglicht auch Quasi-Freilandstudien. So wurde im künstlichen Masoala-Wald etwa das Verhalten des Pantherchamäleons untersucht. Dabei arbeiteten die Zoologen, wie im Freiland üblich, mit Telemetrie. Den stattlichen Chamäleons wurden kleine Sender umgeschnallt, mit deren Hilfe die Forscher über Jahre verfolgen konnten, was die Tiere in der Halle so trieben. Der Vorteil gegenüber der klassischen Feldstudie: Neben erheblich geringeren Kosten sind die Ergebnisse für manche Fragestellungen auch aussagekräftiger. Die Bedingungen sind kontrolliert und die Ausfallrate der Tiere ist geringer. Chamäleons leben in der ungemütlichen Mitte der Nahrungskette, ihre Lebenserwartung in der Natur ist gering, vor allem, weil vom Fossa bis zum Schlangenhabicht zahlreiche madagassiche Beutegreifer gern hinlangen bei den Schuppentieren. Das wird nicht besser, wenn diese auch noch einen Sender mit sich herumschleppen, der ihre Tarnung und Fluchtmöglichkeit beeinträchtigt. Und mit dem Chamäleon verschwindet häufig auch der teure technische Aufsatz auf Nimmerwiedersehen. Probleme, die in der Regenwaldhalle nicht auftreten, welche es daher erlaubt, Basisdaten zu gewinnen, mit denen dann komplexere Fragestellungen im Freiland angegangen werden können.
Zoo-Studien ermöglichen oft erst Freilandarbeiten, etwa bei Untersuchungen zum Nahrungsspektrum. Eine gängige Feldmethode sind Mageninhaltsuntersuchungen oder Kotanalysen. Nur: Was wissen wir schon über das Verdauungssystem von Erdferkel oder Brillenbär? Mit gezielten Fütterungsversuchen in Zoos werden artspezifische Kalibrierungskurven entwickelt, anhand derer die Forscher beim allseits beliebten Kotaufschlüsseln im Freiland die Originalnahrung prä­zise einschätzen können.

Auch Hormone können im Kot nachgewiesen werden. Durch Ergebnisse aus Zoos werden solche Untersuchungsmethoden gleichsam geeicht. Jüngst wurde bei einer Studie an Zoo-Affen gezeigt, dass die Zusammensetzung der Haare der stark bedrohten Bonobos Rückschlüsse auf ihre Ernährung zulässt. Für die praktische Arbeit im schwer zugänglichen Verbreitungsgebiet der Tiere im Kongo heißt das, dass bereits anhand von Haarproben wichtige Erkenntnisse über ihre Ernährungsweise und Gesundheit möglich sind.
Einem ähnlichen Gedanken folgt im Frankfurter Zoo gerade eine Studie, bei der im neuen Menschenaffenhaus untersucht wird, was dessen Bewohner stresst: Ärger mit dem Bandenboss, Mobbing durch Artgenossen, körperliche Gebrechen – wie sehr beeinträchtigen die Fährnisse des Zoo-Lebens die Psyche der Primaten? Durch Analyse der Stresshormone im Kot können die Forscher ermitteln, was die Primaten belastet. Gleichzeitige Beobachtung ermöglicht es, Zusammenhänge zwischen Stress und Verhalten zu erkennen, was wiederum bei der Arbeit in der Natur von entscheidender Bedeutung ist.
Auch in diesem Zusammenhang setzte der Zoo Leipzig Maßstäbe: 2001 eröffnete er sein neues Menschenaffenhaus »Pongoland«, das in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für evo­lutionäre Anthropologie entstand. Im hier angesiedelten Wolfgang-Köhler-Primatenforschungszentrum werden Fragen nicht nur zur Biologie der befellten Primaten, sondern auch zur Evolution ihres nackigen Vertreters bearbeitet. Arbeiten, die im Freiland niemals möglich wären, erlauben Einblicke in Lernverhalten, Kommunikationsstrategien und kognitive Entwicklung von Affen und letztlich von Menschen.
Und längst verschwimmt auch die Grenze, wer im Zoo eigentlich das Beobachtungsobjekt ist. So lassen sich Einblicke in die Lebensäußerungen der am höchsten entwickelten Primaten gewinnen. Wenn etwa Franz Josef Wagner in der Bild-Zeitung angesichts des Exitus eines Eisbären schreibt: »Knut war auch so ein Gefangener. Von seiner Heimat, der Antarktis, wusste vielleicht seine DNA. Ich hasse Zoos. Ich hasse Gefängnisanstalten für Tiere. Die Zoodirektoren sollten in ihre Zoogefängnisse eingesperrt werden« – dann ist das ein schöner Beleg für die unterschiedlich entwickelten kognitiven Fähigkeiten und sozialen Kompetenzen beim Menschen.