Petra Pau im Gespräch über DDR, Antifaschismus, Israel und die Partei

»Da war viel Scham, aber auch Erkenntnis«

Von Ivo Bozic

Petra Pau ist seit fünf Jahren stellvertretende Bundestagspräsidentin und seit 13 Jahren Abgeordnete zunächst der Bundestagsfraktion der PDS und jetzt der Partei »Die Linke«. Sie wurde 1963 in Ostberlin geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie Mitte der achtziger Jahre als Pionierleiterin und Lehrerin für Deutsch und Kunster­ziehung, bis 1990 war sie in der Abteilung Aus- und Weiterbildung des Zentralrats der FDJ tätig. Von 1992 bis 2001 war Pau Landesvorsitzende der Berliner PDS, vom Oktober 2000 bis Oktober 2002 zudem stellvertretende Parteivorsitzende. ­Petra Pau zählt zum Parteiflügel der Reformer, also zu jenen Funktionären, die sich nach der Wende im besonderen Maße für die Erneuerung der autoritären SED zu ­einer demokratisch-sozialistischen Partei eingesetzt haben. Heute gehört sie wie viele Reformer außerdem zur Gruppierung Forum Demokratischer Sozialismus (FDS), die als der Realo-Flügel der Partei gilt.

Als Sie neulich in Ihrer Funktion als stellvertretende Bundestagspräsidentin die letzte Sitzung des Parlaments vor der Sommerpause beendet haben, wünschten Sie allen Abgeordneten »Alles Gute und manch neue Erkenntnis«. Haben Sie da in erster Linie Ihre eigenen Genossinnen und Genossen gemeint?

Nein, ich meinte schon das gesamte Parlament. Ich denke, die Sitzungspause sollte man nicht nur zur Reflexion dessen nutzen, was war, sondern auch dafür, darüber nachzudenken, wie man in dieser schnelllebigen Zeit neue Antworten auf neue Fragen findet, um nicht in alten Gewissheiten zu verharren.

Das gilt aber auch für Ihre Partei, oder?

Ja, natürlich. Es ist ja kein Geheimnis, dass es in der Partei und auch in der Fraktion in den letzten Wochen auf unterschiedlichen Gebieten turbulent zuging. Und da sich pünktlich zum Beginn der sogenannten Sommerpause der Parteivorstand auf einen Leitantrag zum nächsten Parteitag geeinigt hat, denke ich, ist die Zeit günstig, auch mal in sich zu gehen und zu überlegen, welche Schwerpunkte man selbst setzen möchte.

1983 sind Sie in die SED eingetreten, Sie sind von Anfang an in der PDS, später der Linkspartei an führender Stelle aktiv. Welches waren im Rückblick die schwersten Stunden Ihrer Partei nach der Wende?

Das sind ja immer die aktuellen. Aber der Zeitraum zwischen Oktober 1989 und dem 3. Oktober 1990 war natürlich die spannendste Zeit, allerdings auch eine ausgesprochen schwierige. Mit den Umbrüchen in der DDR hat man sich natürlich auch selbst in Frage gestellt. Also ich jedenfalls habe in Frage gestellt, was ich bis dahin für richtig gehalten habe, auch in meiner beruflichen Tätigkeit als Lehrerin und Funktionärin der staatlichen Kinderorganisation. Und dann stellte sich mir die Frage: Welchen Platz nimmst du zukünftig ein in dieser neuen Gesellschaft, die du dir zwar nicht ausgewählt hast, aber in die du hineinbeschlossen wurdest. Das war immer auch eine Auseinandersetzung mit der persönlichen Verantwortung, aber auch mit der Geschichte der SED. Ich erinnere mich gut daran, dass ich in jener Zeit voller Scham am Radio gesessen habe, als dort aus den Büchern von Walter Janka gelesen wurde, in denen er berichtet, wie die SED mit ihm umgesprungen ist. Ich habe mir dann in dieser Zeit erstmals überhaupt ein Bild von den Schauprozessen und anderen Säuberungen der SED gemacht. Da war viel Scham, aber auch Erkenntnis, und ich habe beschlossen, ich bilde mir meine Weltanschauung künftig durch Anschauen der Welt und nicht mehr durch vorgesetzte Dogmen und Lehrsätze, die man nicht hinterfragt.

Und später in der PDS?

Es gab immer wieder schwierige Auseinander­setzungen. Die meisten Beulen hat man sich oftmals in Debatten mit der eigenen Partei geholt und nicht so sehr in der Auseinandersetzung mit der politischen Konkurrenz. Da ging es auch immer wieder um das Verhältnis zur Geschichte. Nicht weil wir rückwärtsgewandt denken oder arbeiten, sondern weil die Auseinandersetzung mit dem, was falsch war und was Menschen Schaden zugefügt hat, heute für mich Grund ist, die Stimme zu erheben, wenn in dieser Gesellschaft etwas falsch läuft. Im Berliner Landesverband der PDS etwa wurden sehr intensive Debatten um Bürgerrechte und Demokratie geführt, manchem waren die zu intensiv, aber ich fand in meinem Landesverband immer Unterstützung. Auch, als ich zum Beispiel die Frage stellte, wie wir damit umgehen sollen, dass es bei der SED-Gründung auch Zwang und Verfolgung gegeben hat. Ich habe damals gegen viele Widerstände dafür gestritten, dass sich die PDS programmatisch, aber auch im praktischen Tun – Stichwort Opferentschädigung – entsprechend in der Politik engagiert. Da gab es sehr schwierige Zeiten.

Gehört der derzeitige Streit um Antisemitismus und die Haltung zu Israel auch zu den schwierigen Stunden?

In der Zeit nach 1990 habe ich erkannt, dass ich bis dahin herzlich wenig über Juden und Jüdinnen in der DDR gewusst habe, weder über die Zwänge, denen sie ausgesetzt waren, noch über das jüdische Leben, das es ja auch in der DDR gegeben hat, allerdings zurückgezogen in der Gemeinde. Und ich habe erkannt, dass ich ein sehr einseitiges Bild des Antifaschismus vermittelt bekommen habe – und in meiner Tätigkeit als Lehrerin dann auch selbst vermittelt habe. Es war dann in den neunziger Jahren äußerst wichtig für mich, Gerhard Zadek, den damals letzten Überlebenden der jüdisch-kommunistischen Widerstandsgruppe »Herbert Baum«, in seinem Kampf zu begleiten und mit ihm zu erleben, dass am Gedenkstein im Berliner Lustgarten endlich auch die jüdische Seite seiner Widerstandsgruppe gewürdigt wurde. In der DDR galt die Herbert-Baum-Gruppe als Widerstandsgruppe junger Kommunistinnen und Kommunisten. Dabei habe ich viele neue Einsichten gewonnen, auch über den Staat Israel.

Gilt das auch für die Partei?

Ich gebe zu, dass ich bis zum Jahre 2008 nicht wahrgenommen habe, dass es in meiner Partei an so vielen Stellen immer noch dieses einseitige Weltbild gibt, welches ich bis 1990 durchaus auch hatte. Ein Weltbild, nach dem auf der einen Seite die Guten sind, nämlich die nationalen Befreiungsbewegungen und die PLO, und auf der anderen Seite der Staat Israel, eingebunden in den imperialistischen Block und damit im Klassenkampf auf jeden Fall zu bekämpfen. Nach der Entschuldigung der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR 1990 gegenüber Israel und den Juden und Jüdinnen in aller Welt hätte ich nicht gedacht, dass es innerhalb der Linken, und damit meine ich jetzt nicht nur die Partei »Die Linke«, noch so eine Schwarz-Weiß-Malerei gibt.

Sie sagten, bis zum Jahre 2008. Was geschah da?

2008 hat Gregor Gysi in der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine bemerkenswerte Rede zu Israel gehalten, und ich selbst hatte dann die Aufgabe und die Ehre, zwei Wochen später im Bundestag zum 60jährigen Jubiläum der Staatsgründung Israels für die »Linke« zu sprechen. Was da bereits an Widersprüchen aufbrach, hat mich wirklich überrascht. Etwas später, am 9. November desselben Jahres, gab es einen Parteienstreit um einen Bundestagsbeschluss zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht unter der Überschrift »Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken, jüdisches Leben in Deutschland weiter befördern«. Da haben wir lange dafür gekämpft, zu einem fraktionsübergreifenden Beschluss zu kommen. Es gab dann einen Kompromiss mit der CDU, die sich bis zuletzt gegen einen gemeinsamen Antrag mit uns gesträubt hatte. Der Kompromiss bestand darin, dass es zwei gleichlautende Anträge gab, unseren und den der restlichen Fraktionen. In der Plenar-Debatte warb ich für Vernunft. Wenn es um den Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus gehe, sollten alle anderen politischen Differenzen zurück stehen. Das müsse, sagte ich, unsere Lehre und unsere Verantwortung aus der Geschichte sein. Dann kam es zur Abstimmung, und das ganze Haus stimmte zu – nur elf Abgeordnete unserer Fraktion ent­hielten sich. Das empfand ich als schwere Niederlage, und das gab mir ernsthaft zu denken. Spätestens als diese elf Genossinnen und Genossen mir derart in den Rücken gefallen waren, da hätte für mich klar sein müssen, dass bei uns ein Klärungsprozess stattfinden muss.

Und dann gab es diese ganzen Skandale um den Duisburger Ratsherren Hermann Dierkes, um die Beteiligung linker Bundestagsabgeordneter an der Gaza-Soli-Flottille und die Boykott-Aktion gegen israelische Waren in Bremen …

Nach dieser Gaza-Flotte habe ich in einem Brief an die Jüdische Gemeinde Bremen erklärt, dass ich das erstens politisch falsch fand, und dass die Aktion zweitens, ohne unterstellen zu wollen, dass jeder, der auf der Gaza-Flotte mitfährt, ein Antisemit sei, de facto den überall virulenten Antisemitismus bediente. Und das betone ich immer wieder: Man muss immer die Wirkung bedenken, die die eigenen Worte und Taten haben. Ebenso bei dem Beispiel Bremen. Es mag sein, dass in anderen Ländern Leute den Boykott israelischer Waren für legitim und für nicht antisemitisch halten. Aber vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte verbietet sich das hierzulande. Wenn man dann noch Plakate vor sich her trägt, die an den Spruch »Kauft nicht bei Juden« erinnern können, dann ist das entweder naiv oder die Assoziation ist gewollt, dann ist das Antisemitismus pur.

Sie haben als Bundestagspräsidentin mehr als andere Abgeordnete mit Vertretern anderer Parteien und auch mit Vertretern anderer gesellschaftlicher Gruppen und Regierungen zu tun. Werden Sie da öfter auf die Debatte in der Linkspartei angesprochen?

Wenn Sie »diese Debatte« sagen, muss man vielleicht erstmal richtigstellen: Es hat gar keine Antisemitismusdebatte in der Partei »Die Linke« und auch nicht in der Fraktion stattgefunden. Ich finde, wir sollten sie führen. Wir müssen mit dem uralten Trugbild aufhören, zu meinen, wenn man links ist, kann nichts von dem, was man tut, antisemitisch sein oder wirken. Antisemitismus gibt es latent in allen Bereichen der Gesellschaft, weshalb sollte das bei Menschen, die sich als Linke verstehen, nicht auch so sein. In diesem Sinne habe ich auch die Initiative von Gregor Gysi und später des Fraktionsvorstandes im Vorfeld der diesjährigen Gaza-Flottille verstanden. Es wurde ein Beschlussentwurf in die Fraktion eingebracht, der dafür Sorgen sollte, dass man gründlich über politische Aktionen nachdenkt, um keine antisemitischen Wirkungen zu befördern. Das bedeutet: Wir beteiligen uns erstens an keiner solchen Flottille, zweitens unterstützen wir keinerlei Boykott-Aufrufe gegen Israel und drittens: Wir setzen uns weiterhin für die Zwei-Staaten-Lösung ein. In der Debatte vermischte sich das dann alles, aber es gab keine seriöse Diskussion darüber, was Antisemitismus ist und wie wir uns als Linke dagegen stellen, und auch nicht darüber, wie wir uns gegebenenfalls mit Menschen auseinandersetzen, die einerseits den Anspruch haben, Mitglied der Partei oder der Fraktion »Die Linke« zu sein, die aber andererseits diesen Konsens ablehnen bzw. sich im Alltag anders verhalten.

Es gab dann noch einen zweiten Fraktionsbeschluss, in dem vor allem darauf bestanden wurde, dass Israel-Kritik nicht per se antisemitisch sei. Sie haben diesem Beschluss zugestimmt. Weshalb?

Er wäre für mich verzichtbar gewesen. Aber aufgrund der Art, wie die Debatte geführt wurde, war es dann folgerichtig, dass er aufgerufen wurde. Er klärt aber nichts hinsichtlich unserer programmatischen Grundlagen.

Der Journalist Richard Herzinger schrieb neulich in seinem Weblog, Ihnen und anderen »führenden Köpfen« seien »die fanatischen ›Antizionisten‹ in den eigenen Reihen (…) zunehmend peinlich«. Hat er Recht?

Ich weiß ja nicht, wen er meint. Mir ist manches peinlich, wie sicher anderen manchmal peinlich ist, was ich tue. Was da an entsprechenden Debatten so stattfindet, halte ich weniger für peinlich, sondern teilweise einfach für daneben.

Sie waren unter anderem Schirmfrau zum 60. Jahrestag der Staatgründung Israels, Sie haben schon sehr früh zu Protesten gegen den jährlich stattfindenden antiisraelischen al-Quds-Tag in Berlin aufgerufen. Fühlen Sie sich ungerecht behandelt, wenn jetzt immer wieder pauschal die Linkspartei kritisiert wird?

Wenn es nicht so wäre, dass sich die »Linke« mehrheitlich gegen Rassismus, Antisemitismus in jeder Form und auch gegen Rechtsextremismus stellt, dann wäre es nicht meine Partei. Das heißt auch, dass ich weiterhin für meine Positionen streite, wenn ich inhaltliche Differenzen sehe. Und das bedeutet aber leider auch, dass ich sehr viel mehr Kraft, die ich gerne auf andere politische Schwerpunkte verwenden würde, im Moment darauf verwenden muss, manch einem Menschen in der Gesellschaft zu erklären, was »Die Linke« alles nicht ist. Es tut auch weh, wenn einen gute Freunde aus ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen, wenn man sie beispielsweise bei Kuratorien oder Veranstaltungen trifft, als erstes fragen: Was ist denn da bei euch los?

Sie werden seit 1998 regelmäßig direkt in den Bundestag gewählt. In Ihrem Ostberliner Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf haben Sie großen Zuspruch. Was sagen die Leute an der Basis? Interessieren sich die Hellersdorfer und Marzahner für den Nahost-Konflikt?

Die fragen mich schon gelegentlich: Was leistet ihr euch da für Debatten? Wie viel Zeit habt ihr denn darauf verwendet, dass aus der sogenannten Hartz-IV-Reform etwas wird, was mir und meinen Kindern tatsächlich weiterhilft? Oder der inzwischen pensionierte Pfarrer, der 1990 den Runden Tisch gegen Rechtsextremismus gegründet hat, fragt mich, was denn das für merkwürdige Debatten seien bei uns, er hätte gedacht, dass die PDS und die »Linke« schon viel weiter wären.

Gibt es dort eine jüdische Gemeinde? In diesem Berliner Bezirk lebt ja immerhin rund eine viertel Million Menschen.

Es gibt keine Synagoge, kein Gebetshaus bei uns im Bezirk, aber natürlich gibt es auch Jüdinnen und Juden, und die sind zuweilen schon irritiert.

Gregor Gysi erklärt ja häufig, die »Linke« sei dermaßen antifaschistisch, dass sie ja gar nicht antisemitisch sein könne.

Von Gregor Gysi kenne ich diese Verkürzung nicht, aber in der Partei wird sie durchaus vertreten. Gleichwohl wird im Programmentwurf die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus noch mal ganz deutlich betont. Auch, dass dies nicht alles dasselbe ist. Es ist ja klar, dass Linke nicht davor gefeit sind, antisemitische Klischees zu bedienen. Und es betrifft ja nicht nur unsere Partei. Es ist noch nicht so lange her, da musste sich die IG Metall – völlig zu Recht – sagen lassen, dass sie sich im Ton und im Bild vergriffen hatte, als ihr Magazin mit einer Heuschrecken-Karikatur auf dem Titel erschien. Natürlich hat niemand im IG- Metall-Vorstand beschlossen, dass sie jetzt alle Schuld an der Finanzkrise an den Jüdinnen und Juden auslassen wollen. Aber man hat eben nicht bis zum Ende gedacht und dann dieses alte antisemitische Klischee bedient.

Sie waren »Freundschaftspionierleiterin« der »Pionierorganisation Ernst Thälmann«. Der KPD-Vorsitzende Thälmann war nationalistisch bis aufs Blut, autoritär, stalinistisch – aber in der DDR wurde er verehrt wie ein Superstar, er war die Verkörperung des Antifaschismus schlechthin. Muss nicht nur das Verhältnis zu Israel, sondern auch das Antifaschismusverständnis der Partei revidiert werden?

Also diese Bewertung von Thälmann mache ich mir nicht zueigen. Aber richtig ist, dass wir ein eindimensionales Antifaschismusbild in der DDR hatten. Nach dem Selbstverständnis der DDR war der Staat antifaschistisch und konnte daher zum Beispiel per se gar nicht rassistisch sein. Das ist natürlich Unsinn, wenn man sich zum Beispiel anschaut, wie mit den Vertragsarbeitern in der DDR umgegangen wurde. Das war auch eine rassistische Ausgrenzung – in der Art der Unterbringung, des alltäglichen Umgangs, bis hin zu der sofortigen Abschiebung der Vietnamesinnen, wenn sie sich hier verliebten und schwanger wurden. Das hat auch Botschaften übermittelt über die Wertigkeit der Menschen.

Wir haben jetzt viel über die DDR gesprochen, aber das Verwunderliche an der gegenwärtigen Diskussion über Antizionismus ist ja, dass es weniger die Linkspartei-Mitglieder aus dem Osten sind, die ständig ihr antiisraelisches Mütchen kühlen, sondern mehrheitlich solche aus dem Westen.

Richtig. Ich erlebe im Osten häufig eine viel kritischere Reflexion des einseitigen Antifaschismusverständnisses sowohl der DDR als auch mancher Linker im Westen. Ich wundere mich manchmal, was für antiimperialistische Reflexe da im Westen teilweise bestehen.

Wurde dies im Osten besser aufgearbeitet?

Das hat ja immer etwas mit Personen zu tun. Es hat sich ja nicht aufgearbeitet, sondern reale Personen haben das getan, auch mit manchem Irrtum oder eigener Legendenbildung. Und das gilt auch für die West-Linke, wo es sehr unterschied­liche Entwicklungsstränge gibt. Auch dort hängt das von Personen ab. Ich komme gerade von einer Feier zu Ehren von Norbert Madloch, der ist 80 Jahre alt geworden. Er hat sich mit dem Rechtsextremismus in der untergehenden DDR und insbesondere mit dem Rechtsextremismus in allen seinen Facetten in der Bundesrepublik nach 1990 beschäftigt. Und da wurde deutlich, dass manche alte Antwort gar nicht mehr zu den neuen Fragen passt. Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus äußern sich auch in neuen Formen.

War die Fusion mit der WASG ein Fehler? Oder wurde sie zumindest falsch durchgeführt? Hätte man nicht aufpassen müssen, dass zumindest die krassesten Antizionisten aus den bekannten linken Sekten nicht eine so wichtige Rolle spielen können?

Als Bürgerrechtlerin und auch aufgrund der Erkenntnisse aus meiner eigenen Vergangenheit bin ich gegen jede Art Gesinnungs-TÜV vor Eintritt in die Partei. Wir hatten programmatische Grundsätze mit einer eindeutigen Verurteilung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Die Frage ist, was das dann im Konkreten bedeutet, und da haben wir eben so manche Auseinandersetzung nicht geführt. Das rächt sich dann in einer zugespitzten Situation.

Stefan Liebich hat kürzlich bei einer Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde in Berlin eingestanden, dass in der Vergangenheit die Debatte in der Partei »gedeckelt« worden sei. Wer hat denn entschieden, dass gedeckelt wird? Muss man sich das als Anordnung von oben vorstellen?

Es war nie verboten zu diskutieren, aber die Frage ist, und das ist eine selbstkritische Frage: Haben wir versucht, einen Klärungsprozess zu organisieren? Ich denke, das haben wir versäumt. Die oft gehörte Aussage »Jetzt haben wir Wahlkampf und keine Zeit dafür« hat uns jedenfalls nicht weiter­gebracht.

Jetzt geht ja die Debatte um das Parteiprogramm in die letzte Runde. Vor einem Jahr haben Sie den damaligen Programmentwurf auf einer Parteitagsrede heftig kritisiert. Wie stehen Sie zu dem jetzt verabschiedeten Entwurf?

Der Wert eines Programms bemisst sich an Erkenntnissen, die man im Laufe der Programmdebatte gewinnt, und nicht an dem beschlossenen Papier, das man sich dann ins Bücherregal stellt. Ich bin froh, dass es jetzt einen Entwurf gibt, an dem man sich bis zum Parteitag abarbeiten kann, und ich bin froh, dass eine Sache fest verankert ist, die mir sehr wichtig war und ist, nämlich der Bruch mit dem Stalinismus als System, was ja nicht nur mit der Vergangenheit zu tun hat, sondern auch mit der Art und Weise, wie man heute miteinander umgeht. Und es gibt andere Punkte, zum Thema Bürgerrechte und Demokratie etwa, wo ich mich weiter in die Debatte einbringen werde. Auch zum Thema Antifaschismus. Ich denke, es ist notwendig den Begriff des Rechtsextremismus in seinen verschiedenen Facetten und Erscheinungsformen genau zu beschreiben, wenn man Gegenmittel finden will. Einfach nur zu formulieren, dass man den »Neofaschismus« bekämpft, reicht mir nicht.

In dem gerade verabschiedeten Programmentwurf wird z.B. auch der immer wieder vorgebrachte Mythos vom Schwur von Buchenwald wiederholt, der angeblich laute ›Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus‹. Dabei stammt diese Losung gar nicht aus dem Schwur der KZ-Häftlinge …

Ich habe ja bereits gesagt, dass ich mit der Verkürzung des Antifaschismusbegriffs nicht einverstanden bin.

Die beiden Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch und Klaus Ernst sind sehr umstritten. Wie sieht ihre – mit kleinem »i« – und Ihre – mit großem »i« – Zukunft in der Linkspartei aus?

Ich bin Vizepräsidentin des Bundestages und mache meine Arbeit, und die Parteivorsitzenden machen ihre.

Sie haben einen begrünten Balkon in ihrer Hellersdorfer Wohnung, den Sie leidenschaftlich pflegen. Sitzen Sie da manchmal und denken: Warum tue ich mir das alles an, warum bin ich bloß in die Politik gegangen?

Ganz im Gegenteil. Gerade diese Woche habe ich auf meinem Balkon in der Sonne sitzend über den Sozialismus nachgedacht, und da sind mir wieder viele Dinge eingefallen, die zu tun sind.