Antiautoritäre Erziehung ist Vergangenheit

Die Antwort ist 27

Eine ganze Generation von Linken wurde von dem Kampf um Kinderläden und für antiautoritäre Erziehung geprägt. Doch das ist Vergangenheit. Heute gibt es keine linke Erziehung mehr.

Um zu erklären, weshalb es, anders als früher, heutzutage keine linke Erziehung mehr gibt, reicht schon ein kleiner empirischer Hinweis, eine einfache Zahl: 27. Denn 27 Jahre – das ist das Alter, in dem sich der junge Radikale von der Wut seiner Jugend und den Idealen seiner Adoleszenz verabschiedet und sich ins bürgerliche Leben eingliedert. Dies beobachtete der französische Schriftsteller Charles Péguy bereits vor 100 Jahren. Und er wusste wohl sehr gut, wovon er redete, denn einst war er selbst ein stürmischer Sozialist gewesen, dann wurde er zum katholischen Ultra.
27 – die Zahl fällt lustigerweise auch oft bei Gesprächen mit Freundinnen und Freunden aus »der Szene«, wenn es um die Frage geht, warum und wann eigentlich bestimmte Gruppen und Milieus zerfallen. Das Studium ist beendet, der Einstieg ins Jobleben steht an – solche Sachen.

Was das mit linker Erziehung zu tun hat? Das Statistische Bundesamt teilte für das Jahr 2009 mit, dass Frauen in Deutschland im Durchschnitt 29 Jahre alt sind, wenn sie ihr erstes Kind bekommen. Immer mehr Eltern sind bereits jenseits der 30, wenn sie ihr erstes Kind bekommen. Das trifft vor allem zu, wenn es sich um Intellektuelle und Akademiker handelt, also um Leute, die früher tendenziell links waren. Linke kriegen Kinder zu einem Zeitpunkt, zu dem ihr Radikalismus sich bereits verflüchtigt hat und ihr Linkssein einer ganz allgemeinen kritischen Haltung gewichen ist.
Vielleicht ist es aber auch andersherum erst die Geburt des Kindes, die den Beginn des Szeneausstiegs markiert: Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass man irgendwann Kinder hat, die Erfahrungen, die man als Eltern macht, sind durchaus spezielle. Man steht im Freundeskreis häufig allein da, das Unverständnis, das man erntet, weil man nicht mehr so flexibel ist, um an allen Lesekreisen, Diskussionsveranstaltungen und Demonstrationen aktiv teilzunehmen, ist schwer zu überwinden. Wer keine Kinder hat, kann sich schlicht nicht vorstellen, wie sehr sie – vor allem Babys und Kleinkinder – den Alltag umkrempeln.
Natürlich wäre es möglich, den Alltag so zu organisieren, dass beiden Eltern – und nicht nur einem Elternteil – genügend Zeit für die politische Tätigkeit bliebe und es den Kindern trotzdem an nichts mangeln würde. Das setzte aber voraus, dass es im radikalen Milieu (wieder) mehr Kinder gibt – und somit auch mehr Eltern, die gleiche Erfahrungen machen und daraus gemeinsam Schlüsse ziehen, z.B. eine eigenverantwort­liche Elterninitiative aufzubauen. Aber diese wäre wiederum ein politisches Projekt par excellence und würde alle Beteiligten viel Zeit, Einsatz und Kraft kosten. Die Zunahme unsicherer, zersplitterter Arbeitsverhältnisse, der Druck, überhaupt einen Job zu finden, in dem man sich dann noch gegen zig Konkurrenten bewähren muss, all das lässt bei Eltern aber eher ein Verlangen aufkommen, die Kinder irgendwie wegzuverwalten – sich um Himmels Willen nicht auch noch mit einem Kinderladen einen weiteren Klotz ans Bein zu binden.
Aber, könnte man hier einwenden, Ideale linker Erziehung gibt es doch auch unabhängig von der Kinderlosigkeit radikaler Szenen. Das stimmt – und sie sind schon längst verwirklicht worden. Professionalisierte Elterninitiativen und private oder halbprivate Kindergärten bieten den Kleinen ein schier endloses Repertoire an »Selbstverwirklichung«: Sprachenlernen, Sportunterricht, Abenteuerausflüge, Waldpädagogik, dazu Öko-Kost und Kleingruppen mit mindestens zwei Erzieherinnen (es sind immer noch fast ausschließlich Frauen). Und das alles natürlich in ungezwungener Atmosphäre, kein Konkurrenzdruck, kein Lernzwang. Kinder, denen zu Hause raffinierte Geschenke gemacht werden, dürfen diese nicht mitbringen, um keinen Neid zu stiften.

Solchen Kindergarten-Kommunismus gibt es, er hat nur einen Nachteil: Er kostet Geld. Auch wenn die Einrichtungen städtisch subventioniert sind, also kaum teurer als ein öffentlicher Kindergarten, werden sich die Erzieherinnen die Eltern und Kinder immer noch selber aussuchen. Wer in einer Großstadt wohnt und einen Platz in den begehrten Initiativen ergattern will, muss sich durch mehrere Bewerbungsrunden schleimen, Probebesuche absolvieren (»Hospitieren«), Einzelgespräche führen, Klinken putzen. Keine Erzieherin spricht offen davon, dass gleichartige ­soziale Herkünfte der Eltern erwünscht sind, aber der Konformitätsdruck ist de facto beträchtlich.
Natürlich gibt es Ausnahmen, z.B. die internationalen Kindergärten. Diese sind wegen ihres hervorragenden Sprachlernprogramms heiß begehrt und ihr Schlüssel zum Erfolg liegt gerade in der Heterogenität. Weil die Kinder – besser: die Eltern der Kinder – so unterschiedlicher Herkunft sind, ist das Interesse, Deutsch zu lernen, so groß: Es ist die einzige Sprache, auf die sich alle beziehen. Die zu Hause persisch, türkisch, kurdisch, arabisch, italienisch, russisch, griechisch oder Yoruba sprechenden Kinder erarbeiten (erspielen) sich etwas Gemeinsames. Im Vordergrund stehen keine Traditionen (obwohl die traditionellen Feste der elterlichen Heimatländer allesamt gefeiert werden), sondern der Wunsch, miteinander zu spielen, zu kommunizieren, und das geht nur über die Aneignung einer gemeinsamen Sprache.
Klassengrenzen sind stets Sprachgrenzen. Sie werden in den internationalen Kindergärten durchbrochen, die Kinder lernen also ein Miteinander jenseits ihrer zwangsläufigen und von oben, auch von den Eltern auferlegten sozialen Beschränkung kennen. Die Hoffnung ist natürlich, dass sie davon einiges durch den späteren Schulalltag, wo sich der Selektionsdruck schlagartig erhöht, retten. Da hätten wir also linke Erziehung in der Praxis – ausgerechnet an einem Ort, der wie ein Relikt linkssozialdemokratischer Inklusionskultur der Siebziger wirkt, de facto aber exklusiv ist: In Köln, einer stark migrantisch geprägten Stadt, gibt es fünf internationale Kitas, das Verhältnis von freien Plätzen und Anmeldungen liegt bei mindestens 1:20.

Ein geschlossenes linkes Milieu, in dem Erziehungsfragen diskutiert und ansatzweise auch praktiziert werden, gibt es nicht mehr. Linke mit Kindern sind so nackt, hilflos, überfordert, gestresst wie alle anderen. Paradoxerweise lässt das aber einen alten Traum vieler Aktivisten wahr werden, nämlich endlich mit Arbeitern auf einer Stufe zu stehen, in Kontakt mit »der Klasse« zu kommen: In den städtischen Kitas treffen sich all die Abgelehnten und Mittellosen. Und man trifft dort auf ein Personal, das vor zwei Jahren einen für deutsche Verhältnisse bemerkenswerten Streik entfesselte, das also einen sehr präzisen Begriff von Personalnotstand, Mittelknappheit und den Absurditäten des Kinderbildungsgesetzes hat.
Anders als im Betrieb oder Büro, wo es darauf ankommt, die Arbeitsplätze so einzurichten, dass die Beschäftigten bloß nicht auf die Idee kommen, einen solidarischen Umgang miteinander zu pflegen, ist Kooperation und Engagement in den Kitas erwünscht. Wer will, kommt schnell in Kontakt mit anderen Eltern, weniges ist so unverfänglich, wie sich über seine Kinder kennen zu lernen. Der Idealismus der antiautoritären Erziehung war in einem verhältnismäßig abgeschlossenen Milieu möglich, das es so nicht mehr gibt. Perspektiven einer Auseinandersetzung mit Kindern, die Klassengrenzen, vielleicht auch die Grenzen der Kleinfamilie durchbricht, ergeben sich nicht aus einem kritischen Bewusstsein, also nicht aus der Haltung der Eltern als Sozialisten oder Kommunisten, sondern aus einer gemeinsamen Erfahrung, die mit anderen Eltern und den Erzieherinnen geteilt wird. So gesehen hätte die linke Erziehung ihre Zukunft noch vor sich.