Der Papst und die Befreiungstheologie

Marx als Messias

Joseph Ratzinger war immer ein Gegner progressiver Tendenzen innerhalb der katholischen Kirche, so auch der Befreiungstheologie in Lateinamerika. Sie be­einflusste viele soziale und revolutionäre Bewegungen, hat jedoch inzwischen an ­Radikalität verloren.

Dass das mit ihm und Joseph Ratzinger nichts wird, war Leonardo Boff von Anfang an klar. »Es wird schwierig sein, diesen Papst zu lieben«, prognostizierte der brasilianische Theologe und Schriftsteller, als der deutsche Kardinal im April 2005 zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt wurde. Auch viele andere Lateinamerikaner fühlten sich übergangen: Wieder ein Europäer, wieder keiner von uns. Dabei lebt etwa die Hälfte der 1,2 Milliarden Katholiken auf dem Subkontinent, Brasilien hat mit 130 Millionen Gläubigen die größte katholische Gemeinde weltweit.
Der Franziskaner Boff hatte jedoch noch andere Gründe, den Beschluss der Kirchenoberen in Rom zu bedauern. Bereits als rechte Hand seines Vorgängers Johannes Paul II. war Ratzinger rigoros gegen Geistliche vorgegangen, die die Bibel im Sinne emanzipatorischer gesellschaftlicher Veränderung interpretiert haben. »Während seiner mehr als 20jährigen Zeit als Leiter der Glaubenskongregation hat Ratzinger mehr als 100 Theologen verurteilt«, kritisiert Boff.
Einer von ihnen war der heute 73jährige selbst. Beeinflusst von der Befreiungstheologie, die als »Option für die Armen« auf der Bischofskonferenz im kolumbianischen Medellin 1968 zur Leitlinie der katholischen Kirche Lateinamerikas erklärt wurde, handelte sich Boff mächtigen Ärger mit dem Vatikan ein. 1984 musste sich der Priester vor Ratzinger wegen des Vorwurfs der Ketzerei rechtfertigen. Kurz darauf erhielt er ein vorübergehendes Rede- und Lehrverbot, 1991 kam ein Disziplinarverfahren. Dann verließ er den Orden.
Ähnlich erging es Jon Sobrino. Der in El Salvador lebende Theologe betrieb mit weiteren Jesuiten in der Hauptstadt San Salvador die Zentralamerikanische Universität (UCA). Durch einen Zufall überlebte er 1989 einen Anschlag, der auch ihm gelten sollte. Sechs Jesuiten sowie zwei weitere Menschen fielen dem Angriff zum Opfer, ausgeführt hatten ihn der Regierung nahestehende Todesschwadronen. Wie die UCA-Priester war Sobrino vom Vatikan stets kritisiert worden. 2001 ließ Kardinal Ratzinger seine Texte untersuchen, im März 2007 stellte der zum Papst Benedikt XVI. avancierte Deutsche ihn an den kirchlichen Pranger und verbot Sobrino, in katholischen Studienzentren zu unterrichten. Der Grund: Er habe die Göttlichkeit Jesu zu wenig betont.

»Erlösung vom Leiden« nicht erst im Jenseits, sondern als Ziel im Hier und Jetzt, Revolution als religiöser Weg, um Armut und Unterdrückung zu überwinden – solche Ideen bereiteten dem Vatikan Kopfzerbrechen. Sie galten als »Politisierung der Theologie«, während der Papst zugleich Gefolgsleute der chilenischen und argentinischen Diktatoren zu Kardinälen ernannte. Nachdem 1978 Johannes Paul II. das höchste katholische Amt übernommen hatte, machte der Vatikan Front gegen die Abtrünnigen. »Wenn ich den Armen etwas zu essen gebe, nennt man mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum die Armen nichts zu essen haben, nennt man mich einen Kommunisten«, charakterisiert der brasilianische Bischof Hélder Câmara die Auseinandersetzungen.
Auch die Gläubigen Lateinamerikas waren gespalten. Konservative blieben repressiven Regimes in Chile, Brasilien, Argentinien, El Salvador oder Nicaragua treu. In den Armenvierteln von Rio de Janeiro und den Regenwäldern Zentralamerikas organisierte sich indes eine »Kirche der Armen«, die manchmal der Guerilla nahestand. Der nicaraguanische Priester Ernesto Cardenal schloss sich in den siebziger Jahren der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) an, nach der Revolution 1979 wurde er Kultur- und Erziehungsminister. Aus dem Vatikan kam scharfe Kritik an dem rebellischen Priester und den sandinistischen »Volkskirchen«. Der Papst ernannte mit Erzbischof Miguel Obando y Bravo einen erbitterten Gegner der Revolutionäre zum Kardinal.
Nicht zuletzt die brasilianische Landlosenbewegung (MST) sowie die mexikanischen Zapatisten entstanden unter dem Einfluss der kritischen Kirchenmänner. Jahrelang war Bischof Samuel Ruiz García durch die Dörfer des Bundesstaats Chiapas im Süden Mexikos gezogen, um die indigene Bevölkerung zu unterstützen. 1974 organisierte er den ersten Indigena-Kongress »Der Boden gehört denen, die ihn bearbeiten.« Ohne seine »Vorarbeit« hätte es den Aufstand der zapatistischen Rebellinnen und Rebellen 20 Jahre später möglicherweise nicht gegeben. Samuel Ruiz, der im Januar dieses Jahres starb, sprach nicht von der Befreiungstheologie, sondern von einer indigenen Theologie, die sich sowohl an christlichen wie auch an traditionellen Religionen orientierte.
Gegen den »marxistischen Messianismus« von Ruiz, Cardenal oder Sobrino ist Kardinal Ratzinger immer an vorderster Front ins Feld gezogen. Und wie sein Vorgehen gegen Sobrino zeigt, hält er als Papst an dieser Politik fest. Dabei »tritt er damit auf einen toten Hund ein«, sagte Boff voriges Jahr der Süddeutschen Zeitung. »Seit dem Fall der Berliner Mauer spricht niemand mehr vom Marxismus in der Befreiungstheologie.«

Das mag etwas übertrieben sein. Schließlich sind die Zapatisten und der MST – unterstellt man ihnen marxistische Einflüsse – weiterhin aktiv, und viele ihrer Mitglieder sind praktizierende Gläubige. Doch Boffs Äußerung verweist zu Recht darauf, dass sich viele seiner Mitstreiter vom Ziel der radikalen Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse entfernt haben. Schließlich ist die Zeit der Mi­litärdiktaturen vorbei. Wo einst Guerilleras und Guerilleros subversive Gruppen aufgebaut oder mit Basisbewegungen Kontakt gesucht haben, ist ein Heer von Nichtregierungsorganisationen entstanden, das nun unter dem Begriff »Zivilgesellschaft« firmiert: NGO gegen den Bau von Staudämmen, gegen das Abholzen von Wäldern oder für die Durchsetzung indigener Rechte und der Menschenrechte. Viele könnten ohne die Kirchengelder nicht überleben. Boff ist in der globalisierungskritischen Bewegung aktiv, der von der Theologie der Befreiung inspirierte emeritierte Bischof Fernando Lugo hat es sogar zum Präsidenten Paraguays gebracht.

Wer in Lateinamerika regieren will, kommt an den katholischen Gläubigen nicht vorbei, auch wenn der Einfluss des Vatikan zugunsten evangelikaner Sekten schwindet. Das haben sich auch Politiker zu Nutzen gemacht, die einst zu den schärfsten Gegner der römischen Hardliner zählten: Nicaraguas Sandinisten um Daniel Ortega. Um zu gewinnen, verbündete sich der FSLN-Vorsitzende vor den Präsidentschaftswahlen 2006 mit Kardinal Obando y Bravo. Zehn Tage vor der Wahl votierten seine Abgeordneten im Parlament für ein absolutes Abtreibungsverbot und sorgten so dafür, dass heute selbst die therapeutische Schwangerschaftsunterbrechung verboten ist. Nach dem Sieg Ortegas übernahm Obando y Bravo den Vorsitz der bedeutsamen Kommission für Wahrheit, Versöhnung, Frieden und Gerechtigkeit. Der Befreiungstheologe Ernesto Cardenal wurde indes zu einem erbitterten Gegner seiner ehemaligen Weggefährten, deren Handeln er ge­legentlich als diktatorisch bezeichnet.
Fünf Jahre später sind die einstigen Revolutionäre Gott noch ein gutes Stück nähersgekommen. Ortega will Präsident bleiben, also wirbt seine Partei vor der Wahl im November mit religiösen Prozessionen und Liedern. »Christlich, sozialistisch und solidarisch«, so das Leitmotiv des Politikers, dessen Regierung mit Sozialismus so viel am Hut hat wie Ratzinger mit gutem Sex. Die Kritik, der FSLN tarne sich mit religiösen Phrasen, weist Ortega von sich: »Niemand kann mir verbieten, dass ich christliche Worte benutze. Niemand. Der Vatikan hat sich nie dagegen geäußert.« Mit dieser »Politisierung der Theologie« kann eben auch der »Heilige Vater« gut leben.