Ein Porträt des Philosophen Slavoj Žižek

Elvis kann Kung-Fu

Das ausufernde Denken Slavoj Žižeks entspringt den Bedingungen im kleinen Slowenien: Aus der partikularen Lebenswelt taucht das Universale auf.

Slavoj Žižek ist der weltweit bekannteste slowenische Intellektuelle und dabei auf eine merkwürdige Art das Zentrum seiner Aktivitäten geblieben. Wenn Žižek im Fernsehsender al-Jazeera neben Tariq Ramadan die Ereignisse auf dem Tahrir-Platz in Kairo kommentiert, auf dem 22. Deutschen Kongress für Philosophie in der vergangenen Woche in München einen Vortrag hält oder, wie in dieser Woche, in Australien liest, hat er in der Regel die Termine eigenhändig koordiniert und alle Flüge selbst gebucht. Kein Sekretariat, keine Agentur nimmt ihm diese Arbeiten ab.
Damit dürfte er unter den reisenden intellektuellen Berühmtheiten allein dastehen. Genauso wie er überall vor allem einen irdischen Eindruck hinterläßt. So erinnert sich etwa ein Teilnehmer eines Seminars, das Žižek in der Mitte des vergangenen Jahrzehnts an der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig hielt, zuerst an die prall gefüllte »Saturn«-Plastiktüte, die der Philosoph in der Hand trug, als er den Seminarraum betrat. Im Anschluss an Žižeks Vortrag beschäftigte die Studenten dann vor allem die Frage, was Žižek bei Saturn eingekauft habe. Es handelte sich um CDs. Die Tatsache, dass der Philosoph sie selbst eingekauft hatte, hinterließ einen mindestens so tiefen Eindruck wie seine philosophischen Ausführungen. Žižek störte das jedoch überhaupt nicht.
Denn schon Hegel habe gewusst, dass der Geist ein Knochen sei, wie Žižek immer wieder in Vorträgen betont. Der Geist ist materiell und irdisch, er lebt nicht oben in einem Elfenbeinturm. Žižek ist so etwas wie die Verkörperung des Gegenteils von René Descartes’ berühmtem Denkspruch »Ich denke, also bin ich«. Das Subjekt Žižek ist nicht geistgeboren, es wird über ein Außen konstituiert oder gebildet, das das Subjekt bis heute strukturiert. Deshalb ist Žižek auch immer Slowene geblieben und weder zum Luftbürger geworden, der nirgendwo mehr zu Hause ist, noch zum Briten konvertiert, als er 2007 zum International Director am Londoner Birkbeck Institute for the Humanities berufen wurde. Seine Universalität fuße in der partikularen Lebenswelt Sloweniens, sagt er auf die Frage, in welcher Weise seine derzeitigen Akti­vitäten von seiner slowenischen Sozialisation beeinflusst seien.
Es ist einer der zentralen Gedanken Žižeks, dass der Gemeinplatz umgekehrt werden muss, demzufolge wir alle in einer besonderen und zufälligen Lebenswelt verwurzelt seien, so dass auch jede Universalität von dieser Lebenswelt bestimmt werde. Nach Žižek tritt das authen­tische Moment einer wahrhaft universalen Dimension aus dem Inneren eines partikularen Kontextes heraus. Das Schlüsselmoment jedes theoretischen Kampfes sei das »Auftauchen des Universalen aus der partikularen Lebenswelt«, wie Žižek in seinem gerade auf Deutsch erschienen Buch »Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen« schreibt. Was so abstrakt klingt, kann man gerade an Žižeks Beziehungen zu seiner Lebenswelt illustrieren, seiner »Heimat Slowenien«, wie er selbst sie nennt.
In Slowenien kann man alle Bedingungen finden, die Žižek heute vor allem in der westlichen Welt von Europa über die USA bis nach Australien zu einem gefragten Kommentator aktueller Ereignisse machen, wie zuletzt etwa anlässlich der Riots in Großbritannien. Boris Ostan kann das bestätigen. Er ist einer der bekanntesten und profiliertesten Schauspieler Sloweniens, hat als Student in Ljubljana Žižek gehört und verfolgt bis heute die Interventionen des Philosophen in Slowenien. Es sei immer Žižeks Spezialität gewesen, seine manchmal hochabstrakten philosophischen und psychoanalytischen Begriffe am Aktuellen zu erproben. »Und dabei hatte Žižek wirklich keine Angst vor nichts«, sagt Ostan lachend. Dass Žižek die Filme Alfred Hitchcocks mit den Theorien des Psychoanalytikers Jacques Lacan zusammenbrachte, sei da noch vergleichsweise leicht verständlich gewesen. Der Philosoph habe aber vor überhaupt keinem Phänomen des Kinos und Theaters haltgemacht. Es ging immer auch um Kung-Fu-Filme oder den letzten Schrei im slowenischen oder jugoslawischen Fernsehen, der dann mit Hegel, Marx, Heidegger oder Lukács in Szene gesetzt wurde. Dazu kamen dann immer noch Namen, die in Slowenien keiner kannte. All das habe in dem Land auch deshalb funktioniert, weil Žižek seine Reflexionen ständig in Beziehung zu aktuellen politischen und kulturellen Ereignissen in Slowenien gebracht habe. Žižek habe auf alles Mögliche neugierig gemacht und sei dabei auch immer ein hervorragender Performer seiner Gedanken gewesen, oder besser: der Gedanken, die er aus dem Reservoir aller möglichen Philosophenschulen entnahm, sagt Ostan.
Wie konkret seine scheinbar so abstrakten Lehren gerade in Slowenien gelesen werden, lässt sich an zwei Beispielen zeigen. In Slowenien tobte in den vergangenen Jahren ein heftiger Streit darüber, ob Muslime, von denen die meisten aus den Republiken des ehemaligen Jugoslawien eingewandert sind, in Ljubljana eine Moschee bauen dürfen. Während die Konservativen dagegen waren, unterstützte die Wochenzeitung Mladina den Bau. Es handelt sich um eine ausgesprochen libertäre Zeitung, durch die Žižek in Slowenien allgemein bekannt wurde. Ende der achtziger Jahre hatte er in Mladina eine beliebte Kolumne, zu dieser Zeit hatte sich die Publikation als kritisches Organ einen Namen gemacht, unter anderem richtete sie sich gegen die Militarisierung der jugoslawischen Gesellschaft. Mit der Unterstützung des Moscheebaus ist Mladina ihrer Blattlinie treu geblieben, sich für die Rechte von Menschen aus anderen ehemaligen jugoslawischen Republiken einzusetzen. Zugleich war Mladina aber die einzige Zeitung in Slowenien, die die Mohammed-Karikaturen abdruckte. Für Žižek konfrontierte die Zeitung die »europäische Gemeinschaft« der Muslime dadurch mit einem Paradox: Die einzige politische Gruppe, die die Muslime nicht zu Bürgern zweiter Klasse mache und es ihnen erlaube, ihre religiösen Vorstellungen zu leben, sei die der »gottlosen« Liberalen, während diejenigen, die der religiösen Praxis der Muslime am nächsten stehen – ihr christliches Spiegelbild – ihre schlimmsten politischen Feinde seien. Die Zeitung, die aus »Solidarität zur Idee der freien Meinungsäußerung« die Mohammed-Karikaturen nachgedruckt habe, erweise sich als der einzig wahre Verbündete der Muslime, sagte Žižek.
Dieser Kommentar ist typisch für sein Denken, er enthält jedoch keine Handlungsanweisung. Er unterläuft nur die gängige Frontstellung. So geht Žižek ständig vor, derzeit zum Beispiel mit seinem positiven Bezug auf Lenin und je nach Laune auch auf Stalin. Dabei hat er wie kaum ein anderer linksradikaler Denker – als einen solchen bezeichnet er sich selbst – die universalen Rechte und die Demokratie gegen die »stalinistischen Heuchler« verteidigt, die sich über die »bloß formalen« Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft lustig machten. Für Žižek waren diese Rechte nie »bloß formal« oder bloßer Schein. Die Menschenrechte wie die Demokratie verfügen nach Ansicht des Philosophen über eine eigene Kraft, aus der ein Prozess der Neuformulierung von bestehenden gesellschaftlich-ökonomischen Beziehungen in Gang gesetzt werden kann.
Das erklärt auch Žižeks Engagement im 1988 während des »slowenischen Frühlings« gegründeten »Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte«. Das Komitee, das von 1988 bis zu seiner Selbstauflösung nach den ersten freien Wahlen 1990 bestand, war eine Zeitlang mit beinahe 100 000 Unterstützern eine der bedeutendsten Bewegungen in den ehemaligen sozialistischen Staaten. Ihre Mitglieder kamen aus allen möglichen Bereichen. Es waren Philosophen, Naturwissenschaftler, Journalisten, Schauspieler, Rockmusiker, politische Theoretiker und Theologen, die über das Komitee einen andauernden Druck auf die Repräsentanten der slowenischen Kommunistischen Partei ausübten, bis diese schließlich ein Mehrparteiensystem zulassen mussten.
Viele Komiteemitglieder wurden dann Politiker in den neuen Parteien. Žižek engagierte sich anfänglich als Präsidentschaftskandidat für die Partei Liberaldemokratie Sloweniens. Ob es ihm mit der politischen Karriere ernst war, ist bis heute umstritten. Es ist aber auch nicht so wichtig, denn der Posten, für den er sich bewarb, wurde in der Verfassung von 1991 ohnehin abgeschafft. In diese Zeit fiel auch Žižeks internationaler Aufstieg zum »Elvis der Theorie«, als der er auch von al-Jazeera kürzlich vorgestellt wurde. Und damit gerieten seine Texte, Vorträge und Interviewäußerungen in Kontexte, in denen ihre Intentionen nicht immer verstanden wurden. Man belegte ihn mit Bezeichnungen wie Dampfplauderer, Schwafler und Entertainer oder sah in ihm schlicht einen Scharlatan.
Dass er kein Scharlatan ist und seine dauernden Interventionen in der Öffentlichkeit einem Konzept folgen, hätte man zwar schon aus dem Titel seines ersten englischsprachigen Werks »The Sublime Object of Ideology« ersehen können. Es wird aber vor allem deutlich, wenn man die intellektuelle Atmosphäre in Ljubljana betrachtet, in der Žižek zum Philosophen wurde. In der Stadt liefen mehrere Linien zusammen, die andernorts streng getrennt waren. Žižek war Schüler des Philosophen Božidar Debenjak. Dieser machte als erster die Lehren der Frankfurter Schule in Slowenien bekannt. Eine weiterer Lehrer und Unterstützer Žižeks war der Philosoph Ivo Urbančič. Er begründete die phänomenologische Schule in Jugoslawien und gehörte zu den ersten, die Martin Heideggers Philosophie ins Land brachten. Damit waren im kleinen Slowenien zwei Lehren in Kontakt getreten, die in Deutschland als unvereinbar galten. Im dissidenten intellektuellen Milieu Sloweniens bildeten die Kritische Theorie und die Philosophie Heideggers aber eine fruchtbare Verbindung, mit der sich gegen den Titoismus argumentieren ließ.
Hinzu kam noch die dank Žižek ebenso berühmt gewordene Ljubljana-Schule der Psychoanalyse. Žižek, der Anfang der achtziger Jahre beim Schwiegersohn und Herausgeber von Jacques Lacan, Jacques-Alain Miller, in Paris studiert hatte, wurde zu einem Multiplikator der Lehren Freuds und Lacans, ohne allerdings selbst als Psychoanalytiker zu praktizieren. Žižeks Praxis der Psychoanalyse bestand unter anderem darin, Lacans Begriff vom »Objekt klein a« und Freuds »Über-Ich« mit dem marxistischen Mehrwert in Beziehung zu setzen. So fand Žižek nicht nur eine Möglichkeit zu erklären, warum man immer durstiger wird, je mehr Cola man trinkt, sondern auch, warum man immer mehr Gewinn haben will, je mehr Gewinn man macht.
Žižek erstellte auf diese Weise Diagnosen, in denen er immer davon ausgeht, dass die Ideologie ewig ist, wie das Unbewusste ewig ist. An ein Ende der Ideologien hat er nie geglaubt und folglich die Lehre vom Ende der Ideologien als eine erfolgreiche Ideologie identifiziert. In dem Sinne ist er auch der altmodische Marxist geblieben, als den er sich selbst bezeichnet. Ideologien wirken für Žižek nicht nur über große, politische Institutionen wie die Parteien oder kleine Formationen wie die Familie, sie schreiben sich überall ein, auch ins Kino oder in die neue Welle des ökologischen Denkens. Selbst vor der Universalität machen sie nicht halt. Denn der Kapitalismus, dessen Ideologie der Liberalismus ist, ist in der Tat universell. Er wurzelt nicht länger in einer besonderen Kultur. Der Kapitalismus kommt mit asiatischen Werten genauso gut zurecht wie mit allen anderen auch. In Europa entstanden und von dort ausgehend, hat der Kapitalismus sich über die ganze Welt verbreitet und bedarf Europas nun nicht mehr. Nach Žižek ist der weltweite Triumph des Kapitalismus unbedingt mit der Selbstaufhebung Europas verbunden. Das Problem des Kapitalismus ist nicht sein Eurozentrismus, sondern seine Universalität.
Fatal wäre es allerdings, so urteilt Žižek, wenn man deshalb zurück in die Abschottung durch das Nationale und Partikulare flüchten würde. Es gelte erst einmal nur, die Lage zu erkennen und einfache Fragen zu beantworten: Warum etwa meint man heute, dass viele bestehende Probleme aus der Intoleranz resultierten und nicht aus Ungleichheit, Ausbeutung oder Ungerechtigkeit? Die Frage ist alles andere als leicht zu beantworten. Man kann sie aber als eine Art Schlüssel benutzen, um das ausufernde Denken Žižeks zu verstehen. Es geht ihm nicht darum, eine eigene konsistente Philosophie zu enwickeln, wie es Hegel, Wittgenstein oder Heidegger taten, sondern mit den Mitteln auch dieser Philosophien im Aktuellen zu erkennen, wohin der Hase läuft und vor allem: wie er das tut.