Insolvenzen von gesetzlichen Krankenkassen

Schlimmer als Schnupfen

Vielen gesetzlichen Krankenkassen droht die Insolvenz. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten, das vom Gesundheitsministerium zurückgehalten wurde. Der Finanzausgleich durch den Gesundheitsfonds, der 2009 von der schwarz-roten Bundesregierung eingeführt wurde, scheint nicht zu funktionieren.

Eigentlich ist das richtig große Sterben schon längst vorbei. Als vor über 100 Jahren in Deutschland mit den ersten Elementen der Sozialversicherung auch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) eingeführt wurde, entstanden im damaligen Deutschen Reich rund 22 000 Krankenkassen, die sich um die Belange kranker Arbeiter – heute würde man Arbeitnehmer sagen – kümmerten. Die Struktur war dezentral, fast jeder größere Betrieb hatte seine eigene Betriebskrankenkasse. Mit zunehmender Technisierung in der Verwaltung der Mitglieder ging die Zahl der Krankenkassen allmählich zurück. Gab es 1970 noch mehr als 1 800 gesetzliche Krankenkassen, verringerte sich deren Anzahl immer weiter, ihren bisherigen Tiefstand von 154 erreichte sie Mitte des Jahres 2011.
Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Zu dieser Einschätzung gelangt zumindest ein Gutachten, das der wissenschaftliche Beirat des Bundesversicherungsamtes (BVA) erstellt und das Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) über Monate unter Verschluss gehalten hat. Zuerst veröffentlichte das Handelsblatt wichtige Ergebnisse des Gutachtens und berichtete, dass vielen Krankenkassen die Insolvenz drohe.

Der Grund dafür, dass viele Kassen ihre Ausgaben nicht mehr decken können, ist die scheinbar weiterhin mangelhafte Umsetzung des »krankheitsorientierten Strukturausgleichs« zwischen den Kassen. Dabei sollte mit der Einführung des Gesundheitsfonds im Jahr 2009 eigentlich alles besser werden. Seitdem wird das Geld für die gesetzlichen Krankenkassen zentral eingenommen und dann auf die jeweiligen Kassen verteilt. Und die Verteilung ist – wie so oft – das Problem. Zwar versuchte die damalige schwarz-rote Bundesregierung durch den »morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich« (Morbi-RSA) mehr Gerechtigkeit walten zu lassen, doch anscheinend erfolglos.
Dabei klingt der Ansatz zunächst vernünftig. Die Kassen erhalten nicht eine Pauschale pro Patient, sondern abhängig von den jeweiligen Krankheiten und deren Schweregrad unterschiedliche Pauschalen. Zu den von dieser Regelung erfassten Krankheiten zählen unter anderem Hüftprobleme, Aids, Diabetes und hoher Blutdruck. Auch für schwangere Patientinnen erhalten die Krankenkassen Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds. Mit diesem Modell sollte vermieden werden, dass Kassen, die viele alte und kranke Mitglieder haben, in eine ökonomisch schwierige Lage geraten. Insgesamt 80 Krankheiten wurden in den Morbi-RSA aufgenommen. Dieser Schitt ist eher willkürlich, denn viele schwere Erkrankungen tauchen darin nicht auf. »Die Union pochte seinerzeit auf diese Begrenzung«, sagt Herbert Weisbrod-Frey, Bereichsleiter für Gesundheitspolitik beim Bundesvorstand von Verdi.
Mittlerweile scheinen diese Maßnahmen, die mehr Gerechtigkeit durchsetzen sollten, eher das Gegenteil zu bewirken. Die Gutachter des Wissenschaftlichen Beirats ziehen eine ernüchternde Bilanz. Bei vielen Krankenkassen decke der Ausgleich bei Weitem nicht die Ausgaben. »Auf Einzelkassenebene reicht die Spanne der Deckungsquoten von 90,6 bis 124,8 Prozent«, zitiert das Handelsblatt aus dem Gutachten. Das bedeutet, dass einige Kassen rund ein Viertel mehr Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds erhalten, als sie benötigen, während viele Kassen defizitär wirtschaften. Thomas Dabrinski, Leiter des Instituts für Mikrodatenanalyse in Kiel, äußerte gegenüber dem Handelsblatt die Sorge, dass wegen Unterfinanzierung »etwas weniger als die Hälfte aller Krankenkassen in konkreter Insolvenzgefahr« seien.
Die Erfahrungen, die während der Pleite der City BKK gesammelt wurden, zeigen, dass es bei der Insolvenz einer Krankenkasse noch viele Unwägbarkeiten gibt. Im Juli dieses Jahres wurde die City BKK wegen zu hoher Verschuldung vom Bundesversicherungsamt geschlossen, sie hatte fast 140 000 Mitglieder. Obwohl der Gesetzgeber den Patienten für den Fall einer Insolvenz einen reibungslosen Wechsel zu anderen gesetzlichen Krankenkassen verspricht, war für viele Betroffene, vor allem Senioren und kranke Patienten, dieser Wechsel alles andere als leicht. Denn einige Kassen versuchten, die potentiellen Mitglieder mit dem Hinweis fernzuhalten, dass die neu zu erstellenden Gutachten über deren Pflegestufe möglicherweise ungünstiger ausfallen könnten. Auch für die Beschäftigten der City BKK gestaltet sich Weisbrod-Frey zufolge die berufliche Zukunft nach der Schließung schwierig. »Da wurde vielen zwar die Weiterbeschäftigung bei anderen Kassen angeboten, jedoch mitunter in einer ganz anderen Region in Deutschland«, kritisiert er.

Weitere Insolvenzen von Krankenkassen würden unter neuen Vorzeichen stattfinden. Denn mit der Einführung des Gesundheitsfonds hat sich die damalige Bundesregierung von dem Gedanken der gesetzlichen Krankenkasse verabschiedet, die im weitesten Sinne noch einen staatlichen Auftrag hatte. Seit 2009 ist die Umwandlung von Krankenkassen zu Wirtschaftsunternehmen rapide vorangeschritten. Durch das sperrig benannte – GKV-Organisationsweiterentwicklungsgesetz hat der Gesetzgeber erstmals die Möglichkeit geschaffen, gesetzliche Kassen in die Insolvenz zu führen. Dadurch werden sie auch rechtlich immer mehr wie Wirtschaftsunternehmen behandelt. Weisbrod-Frey sieht darin das Hauptproblem. Denn durch die Möglichkeit von Schließung und Insolvenz geraten auch die Beschäftigten in eine prekäre Situation.

»Da kann sich schnell eine Mentalität von ›hire and fire‹ ausbreiten«, sagt Weisbrod-Frey. Die Krankenkassen können sich in Krisenzeiten im schlimmsten Fall ohne Kündigungsschutz von ihren Mitarbeitern trennen. Bei der City BKK zeigte sich, dass kündbare Verträge sofort beendet wurden, auch Beschäftigte mit unkündbaren Verträgen landeten vor dem Arbeitsgericht. Insofern dürften von den nun befürchteten Schließungen vor allem die Mitarbeiter der Krankenkassen betroffen sein. Für die Gewerkschaft Verdi sind Schließungen und Insolvenzen der falsche Weg. »Wir brauchen eher Zusammenschlüsse als Schließungen«, sagt Weisbrod-Frey. Allerdings geht man auch bei Verdi von einem Schrumpf-ungsprozess aus. Es sei wirtschaftlich immer unrentabler geworden, für jede Kasse einen eigenen Verwaltungsapparat zu unterhalten. Erste Kritiker warnen bereits vor einer »sozialistischen Einheitskasse«. Und diese Entwicklung wird ausgerechnet wird teilweise von einer schwarz-gelben Bundesregierung forciert.
Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) will von solchen Befürchtungen allerdings nichts hören. Gegenüber der Bild-Zeitung sagte er, dass die beschworene Massenpleite von Krankenkassen »Unsinn« sei. Und ergänzte schnell, die »Finanzierung der Krankenkassen ist solide und stabil«. Das hat man auch schon mal in Bezug auf die Rente gehört.