Wer Lyrik nicht mag, ist selbst schuld

Mehr Hirn, mehr Poesie!

Die Deutschen wollen Literatur am liebsten als Unterhaltung konsumieren. Texte, die mehr bedeuten als die Summe ihrer Buchstaben, sind ihnen suspekt.

Seit Tomas Tranströmer den Nobelpreis für Literatur bekommen hat, steht die Frage wieder im Raum: Wer will eigentlich Lyrik? Denn das Werk Tranströmers ist schmal, nicht nur, aber auch, da er durch einen Schlaganfall, den er 1990 erlitt, gehandicapt ist. Die Schmalheit eines Werkes allein aber ist bereits für einige Kritikerinnen und Kritiker ein Beleg dafür, dass das Werk Tranströmers nichts taugen könne, ein paar wenige hundert Seiten nur sind kein bedeutendes Werk für diese Herren und Damen, sie schätzen die Vielschreiber, nicht die Vorsichtigen.
Stattdessen rufen sie wieder einmal nach dem Nobelpreis für Bob Dylan und Philip Roth, von denen ersterer zweifelsohne ein guter Musiker, letzterer zweifelsohne ein guter Romancier ist, allerdings schon ein bisschen arg konventionell. Und mit dem Nobelpreis für den überschätzten Mario Vargas Llosa, der ihn im vergangenen Jahr erhielt und sich nun wahrlich nicht über mangelnde Nachfrage beklagen kann, waren diese Kritikerinnen und Kritiker, die lieber Dieter Bohlen rezensieren als ein gutes Buch, nicht zufriedengestellt. Dario Fo tolerierten sie gerade noch, Autorinnen und Autoren aus Afrika und Asien werden von ihnen eh nicht akzeptiert, bei der Erwähnung Elfriede Jelineks kriegen sie Wutausbrüche.

Dazu ist nur soviel zu sagen: Wer Texten vorwirft, dass er sie nicht versteht, wirft nun einmal zunächst sich selbst etwas vor. Was kann ein Text für das Lesevermögen seiner jeweiligen Leserinnen und Leser? Sicherlich gibt es Texte, deren Inhalt und Güte sich nur jenen erschließen, die über eine gewisse Leseerfahrung und Bildung verfügen – und über die Frage, ob dies so sein muss, lässt sich streiten. Dies jedoch ist nicht der Kern des Vorwurfs, der Jahr um Jahr gegen komplexe Texte allgemein und gegen Lyrik insbesondere vorgebracht wird. Diejenigen, die nicht bereit sind, sich mit einem kurzen Text länger zu befassen, als die reine Erfassung der Buchstaben braucht, machen Texten zum Vorwurf, dass sie sie nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Sie werfen einem Text somit vor, dass er Arbeit macht.
Was sie stattdessen lesen wollen, ist, was sie schon kennen: einen Familienroman, einen Wenderoman, einen Roman über »Zeitthemen«. Immer muss es ein Roman sein, immer muss er literarisch einigermaßen belanglos sein, immer muss er behandeln, was man schon kennt. Sexszenen sollten auch drinstehen. Die Erkenntnisse, die man als Leserin und Leser solcher Bücher haben kann, sind dementsprechend. Wer ohnehin nicht wissen will, was »die Wende« war, wird es auch aus einem Wenderoman nicht herauslesen können. Wer in einem Roman »über Asien« nichts anderes lesen will, als dass die moderne Welt irgendwie seltsam ist, und dass Männer und Frauen irgendwie nicht zusammenpassen, sich aber trotzdem lieb haben sollten, der will »über Asien« nichts wissen, sondern sucht für seine Re-Lektüre des Immergleichen nur ein neues »exotisches« Ambiente.

So argumentieren die Feindinnen und Feinde des Intellekts seit Jahrhunderten, nicht erst seit 1933. Doch mit der Auslöschung und Selbstauslöschung der bürgerlichen Klasse und des selbstbewussten Proletariats fand der Krieg gegen die Moderne und gegen die Komplexität nun auch in den gehobenen Feuilletons statt, und, in völliger Verklärung eines zur eigenen Lesefaulheit gut passenden Volksgeschmacks, nach 1945 auch auf Seiten der Linken. Als 1968 Hans Magnus Enzensberger, Walter Boehlich und Karl Markus Michel wohlbegründet nach der Rolle des Autors fragten und mutmaßten, er sei vielleicht gestorben, machten die Feindinnen und Feinde der Literatur daraus gleich den Tod der Literatur. Das fanden sie gut, auch wenn sie zunächst greinten.
Seither wünschen sie sich »saftiges Erzählen«. Die illiteraten Literaturrichterinnen und -richter haben aber inzwischen erreicht, dass alles Komplexere literarisch diskreditiert ist. Daher das kollektive Aufstöhnen, wenn jemand einen Literatur-Nobelpreis bekommt, dessen Name nicht sofort allen geläufig ist.
Nur wenige freuen sich, doch zeigen ihre Artikel zumeist, dass auch sie nicht wissen, über wen und was sie schreiben. Sie freuen sich »im Namen der Lyrik«. Ob Tomas Tranströmer ein großer Dichter ist, wäre zu diskutieren. Doch weder macht es ihn gut, dass er ein Lyriker ist, noch macht es sein Werk schlecht. Diese Feststellung ist banal, doch muss sie gemacht werden. Obschon Rimbaud keinen Roman verfasst hat und sein Werk äußerst schmal ist, hat er mehr bewirkt als Fontane. Aber selbst Fontane gilt ja heute für die meisten Leserinnen und Leser als zu anstrengend. Selbst schuld.