Die alten Isländer-Sagas

Mordbrandaktuell

Geschichten von gestern? Ganz und gar nicht: Die alten Isländer-Sagas, die nun in einem Sammelband veröffentlicht werden, lassen sich als zeitgemäße Wirtschaftsgeschichten über die anhaltende Aneignung von Reichtümern in allen Formen lesen.

Während der Finanzkrise 2008 druckte eine englische Zeitung einen empörten Bericht ab, in dem es darum ging, dass die Isländer sich mit ihren Finanzgeschäften nicht nur selbst an den Rand des Abgrunds gebracht, sondern auch noch reihenweise britische Rentnerinnen und Rentner um ihr erspartes Geld betrogen hätten. Irgendwie freudig erregt konnte man damals den ganzen sanften und besonders in Deutschland gern erzählten Elfenquatsch beiseite schieben und wieder sehr klar sehen, was Island ausmacht. Ja genau, so sind sie und so waren sie immer: die Wikinger.
Es besteht nämlich eine sehr konkrete historische Verbindung zwischen Island und den Wikingern. Unter den skandinavischen Siedlern, die um das Jahr 900 herum Island im Prozess der sogenannten »Landnahme« kolonisierten, waren auch Wikinger. Die »Wassertiere«, als die D. H. Lawrence diese »gräßlichen gelbbärtigen Wikinger« bezeichnete, versuchten, auf Island zu Landtieren zu werden, nachdem sie vorher auf der endlos scheinenden See gelebt hatten, um von Zeit zu Zeit englische und schottische Küsten heimzusuchen und die dortige Bevölkerung auszuplündern und zu ermorden. Auf Island angekommen, hielt es einige derart das Meer gewohnte Wassertiere nicht an Land, immer wieder trieb es sie zurück auf den Ozean und an fremde Küsten, um dort ihrem alten Gewerbe nachzugehen.
Um einige dieser Wikinger sind in Island Geschichten entstanden, die nach Ansicht des isländischen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Halldór Laxness besonders in finsteren Zeiten die wichtigste Nahrung der Isländer waren. Das Geschenk dieser Geschichten »war der Lebensnerv des Volkes, sein Leben im Tode«, sagte Laxness. »Der Glaube an den Helden, der sich weder vor Wunden noch vor dem Tod fürchtet und sich nicht unterkriegen lässt, dieser Glaube war unser Leben.« Und, das muss man nach der Finanzkrise hinzufügen, er ist es noch immer.
Wie aktuell sich diese Geschichten, die Isländer-Sagas, auch als Wirtschaftsgeschichten lesen lassen, kann man nun in einem wunderbaren Buch nachlesen: »Der Mordbrand von Örnolfsdalur und andere Isländer-Sagas«. Es ist im Galiani-Verlag erschienen und trägt schon im Titel jene Spur der Gewalt, die die Wikinger mit ihren Schnabelschiffen über die Wellen der Nordmeere an die Küsten brachten. Der Band enthält fünf der etwa 40 Geschichten, die im 13. und 14. Jahrhundert von anonymen Erzählern in verschiedenen Regionen Islands auf präparierte Kalbshäute geschrieben wurden und vom Leben der Isländer während der Sagazeit zwischen 930 und 1 030 berichten.
Nacherzählt werden sie von Tilman Spreckelsen, der als Wissenschaftsredakteur für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung arbeitet und sich als Herausgeber und Autor einen Namen gemacht hat. Die Geschichten wurden von Kat Menschik illustriert, deren Zeichnungen das Feuilleton der FAS prägen und die darüber hinaus auch zu Büchern wie Haruki Murakamis »Schlaf« Illustrationen beigesteuert hat.
Die Kombination von Zeichnungen und Nacherzählung schafft dabei in diesem Band ein merkwürdiges Spannungsverhältnis zwischen der Vergangenheit der Sagas und ihrer Aktualität. Zudem hält sie aber auch eine Distanz zwischen den beiden Deutschen, Spreckelsen und Menschik, und dem isländischen Stoff. Weder der Text noch die Bilder kolonisieren die Sagas oder maßen sich an, sie zu beherrschen.
Die Sagas beginnen immer mit einer kurzen Sequenz, die den Autor Spreckelsen selbst am entsprechenden Ort der Handlung zeigt. »Es regnet seit Stunden«, beginnt er zum Beispiel die Titelsaga »Der Mordbrand von Örnolfsdalur«. Dann fährt er fort: »Die Straße nach Nordtunga ist kaum besser als eine Schotterpiste. Draußen, hinter den Scheiben, trotzen ein paar Zwergbirken dem Wetter.«
Mit dem Regen und den dem Wetter trotzenden Zwergbirken hat Spreckelsen zwei Elemente Islands eingeführt, die es tatsächlich gibt. An einer anderen Stelle erweitert er sie noch um einen Vogel. »Ganz leise klingt das ›Durr! durr!‹ einer Bekassine, und der weiße Bretterzaun um das Grab Gudrun Osvifrsdottirs neben der Kirche von Helgafell leuchtet vor sich hin«, heißt es im ersten Satz zur Saga von Gudrun Osvifrsdottir. Für Leute, die in Texten gern die stilistischen Quellen ausfindig machen, aus denen der Autor schöpft, scheint hier Arno Schmidt auf, wie er den Flugton von Rebhühnern in der Heide in seinen Text einfügt.
Spreckelsen, der ein ausgezeichneter Kenner der Werke Schmidts ist, schafft mit seinen aktuellen lokalen Sentenzen aber noch etwas anderes, als bloß den Nachweis zu erbringen, dass er die historischen Orte der Sagas auch selbst besucht hat. Es gibt in Island nämlich einen bis heute anhalten Streit zwischen Schriftstellern, Literaturwissenschaftlern und enthusiastischen Isländern um den Status der Sagas. Die einen, wie Halldór Laxness, meinen, dass es sich um Romane oder Novellen handele und dass es kindisch sei, nicht zwischen historischer Wahrheit und großer Erzählkunst zu unterscheiden. Andere bestehen darauf, dass die Sagas mündlich überlieferte, wahre, historische Erzählungen seien, wovon unter anderem die Genauigkeit der Ortsbeschreibungen zeuge, nach denen man sich bis heute orientieren kann. Von der Lebendigkeit dieses Streits gibt der Leiter des isländischen »Saga-Zentrums«, Arthúr Bollason, im Nachwort zum Buch einen guten Eindruck.
Spreckelsen unterläuft diesen Streit insofern, als er Geschichte und Ort knapp kurzschließt. »Hier hat Skalla-Grim in einem Wutanfall die Kinderfrau seines Sohns ins Wasser gejagt und gesteinigt, bis sie unterging. Das ist tausend Jahre her«, schreibt er zur Einführung in die Saga von Egil Skalla-Grimsson. Skalla-Grimson war ein Häuptling und Wikinger, der schon auf Island geboren wurde und von dort aus zu seinen durchaus schrecklichen Taten bis an die Küsten Norwegens aufbrach.
Die Saga umfasst mehrere Generationen, beginnend mit Skalla-Grimsons norwegischem Großvater. Sie ist auch eine Familiengeschichte, bestückt mit Namenskaskaden, wie man sie von Dostojewski kennt. Ihnen zu folgen, ist wahrscheinlich erst möglich, wenn man die Geschichte zum zehnten oder zwanzigsten Mal gelesen hat. Die Genealogien sind aber nur ein Teil, der andere handelt vom Erwerb, Ausbau und auch Verlust von Reichtümern wie Land und Leuten. Die Saga ist eine ziemlich gute Illustration dessen, was Marx als »sogenannte ursprüngliche Akkumulation« bezeichnet hat: einen Prozess, der weder ursprünglich, noch an sein Ende gekommen ist, sondern andauert. Diese anhaltende Aneignung von Reichtümern in ­allen Formen, also nicht nur durch die abstrakte Finanzspekulation, sondern auch durch die banale Ausbeutung von Land, Meer und Leuten, zu zeigen, macht die Kunst der Sagas bis heute aus.

Tilman Spreckelsen: Der Mordbrand von Örnolfsdalur und andere Isländer-Sagas. Galiani, Berlin 2011, 197 Seiten, 24,99 Euro