Gespräch mit Andrei S. Markovits über die Anti-Wall-Street-Proteste

»In Amerika werden Banker nicht mit Juden assoziiert«

Von Ivo Bozic

Andrei S. Markovits ist Professor für vergleichende Politikwissenschaften, Soziologie und German Studies an der University of Michigan in Ann Arbor. Der US-amerikanische Politologe und Soziologe hat zahlreiche Bücher auch in und über Deutschland publiziert, unter anderem im Konkret-Verlag den Band »Amerika, dich hasst sich’s besser: Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa«. 2008 hat sich Markovits im US-Präsidentschaftswahlkampf für Barack Obama eingesetzt.

Hat es in Michigan auch schon Proteste gegeben, wurde irgendetwas besetzt?
Es gab in der Universität hier in Ann Arbor vorige Woche eine Demonstration mit einigen hundert Leuten. Ich habe aber nicht daran teilgenommen.
Würden Sie an solchen Protesten teilnehmen?
Vielleicht, kommt darauf an.
Ist das denn eine linke Bewegung?
Ja schon, wenn man sich das anschaut, dann sieht man unverhältnismäßig viele junge Hippies, Punks, anfangs vorwiegend Weiße. Inzwischen hat sich aber auch die Gewerkschaft angeschlossen, was für mich sehr wichtig ist. In dem Sinne ist es definitiv eine linke Bewegung.
Sind die Proteste rund um die Wallstreet eine Neuauflage der Antiglobalisierungsbewegung, wie sie 1999 in Seattle begann, oder was ist der Unterschied zu dieser?
Es gibt natürlich inhaltliche und ikonographische Überschneidungen, aber es ist diesmal amerikaspezifischer. Ich glaube, dass die jetzige Bewegung sehr viel mit der lahmen Politik und dem lahmen Auftreten der Obama-Regierung zu tun hat. Obama verhält sich gegenüber den Republikanern wie ein devotes Hündchen. Darüber gibt es eine wachsende Unzufriedenheit. Aber klar, auch in Seattle waren es am Anfang die gebildeten Mittelschichtslinken, also eher Kulturlinke, die sich auch für Homoehe und Legalisierung von Marihuana einsetzten, insofern ist es vergleichbar. Und dann kommt noch die Choreographie dazu, dieses andauernde Trommeln. Oh, das würde mich wirklich nerven. Gerade in New York, da ist der Financial District ja keine unbewohnte Gegend, sondern eine lebendige Nachbarschaft. Ich bin sicher, wenn ich eine soziologische Untersuchung dieser Gruppe machen würde, würde sich zeigen, dass sie jener sehr ähnlich ist, die damals in Seattle angefangen hat, aber dass es sich diesmal disproportional um enttäuschte Obama-Anhänger handelt.
Nervt Sie außer den Trommeln noch etwas an den Demonstranten?
Sie haben immer noch keine wirklichen Inhalte, keine konkreten Forderungen. Das ist das größte Problem aus meiner Sicht. Nur zu sagen, wir sind die guten 99 Prozent und die da drüben sind der böse Rest, das ist schon furchtbar naiv und unpolitisch. Es ist auch seicht, populistisch und mora­lisierend, was mir alles gar nicht behagt. Und dennoch finde ich, es ist ungeheuer wichtig für die Demokratische Partei, dass es diese Bewegung gibt. Also daher: Auch wenn ich schon wegen des Getrommels vielleicht nicht teilnehmen würde, ich begrüße diese Bewegung trotzdem.
Populistisch, naiv – ist dies eine Tea-Party-Bewegung von links?
Nein. Die Tea Party hatte eine glasklare Strategie, die sie konsequent verfolgt hat, sie wusste, was sie will. Und soziologisch sind die beiden Gruppen natürlich erst recht nicht vergleichbar.
Kann man sagen, dass sich die Linke den sozialen Protest endlich wieder angeeignet hat?
Absolut. Und insofern kann man das auch vergleichen: Die Parteien werden nur aktiv, wenn sie von ihren radikalen Rändern unter Druck gesetzt werden. In diesem Fall geht es darum, dass die Demokratische Partei endlich aufwacht. Das ist sehr wichtig, und dazu kann diese Bewegung beitragen. Mich stört auch die Reaktion des Establishments, diese Proteste als »unamerikanisch« zu diffamieren, die Leute als »Feinde der Republik« zu bezeichnen. Das ist infamer Blödsinn.
Man hat den Eindruck, die US-Linke sei heutzutage unter Obama radikaler als damals, als es gegen Bush ging. Stimmt dieser Eindruck?
Dazu müsste man wissen, was »die US-Linke« genau ist, das kann ich nicht beantworten. Aber ich bin ganz sicher, dass der größte Teil besonders der weißen Demonstranten, die heute im Zuccotti-Park sitzen, wie ich schon vorher sagte, vor zwei Jahren die Stoßtruppe für die Obama-Kampagne waren. Ohne die berechtigte Enttäuschung über die Obama-Regierung würde das alles gerade nicht passieren.
Inwiefern transportiert eine Argumentation, die sich derart auf die »Macht der Banken« und der Banker kapriziert, eine verkürzte Kapitalismuskritik und damit indirekt ein antiamerikanisches und antisemitisches Ressentiment?
Das ist in Amerika zum Glück anders als in Europa. Es stimmt natürlich, dass diese Kritik furchtbar verkürzt ist, aber in Amerika werden Banker nicht mit Juden assoziiert. Die Banken waren nie jüdisch und waren im Gegenteil sogar lange Zeit sehr antisemitisch. Anders als in Europa, wo Geld immer etwas Übles war. Der Klerus und die Adeligen haben das Geld nicht berührt, das haben die Juden für beide machen müssen. In Amerika hingegen war Geld nie etwas moralisch Verwerfliches, was uns die antiamerikanischen Europäer auch stets vorwerfen. Juden werden hier mit Hollywood, mit Journalismus, Medizin, Jura, mit Wissenschaft, mit Nobelpreisen, aber nicht mit Banken assoziiert. Insofern ist diese Bewegung auch nicht antisemitisch. Ihre verkürzte Kritik führt eher zu lustigen Fehlern der Choreographie. Zum Beispiel haben sie die Brooklyn Bridge besetzt, um symbolisch den Zugang zur Wallstreet zu blockieren. Das ist absurd, weil jeder weiß, dass die Entscheidungsträger, die an der Wallstreet arbeiten, niemals nach Brooklyn ziehen würden, die fahren nach Norden in die schönen Suburbs oder fliegen nach Paris.
Also meinen Sie, es gibt keinen Antisemitismus bei der Anti-Wallstreet-Kampagne?
So kann man das nicht sagen. Insofern diese Bewegung Teil eines weltweiten linken Diskurses ist, gibt es natürlich auch dort hart antiisraelische und antisemitische Gruppen. Die gibt es immer innerhalb der Linken. Aber mit dem Feindbild Banker hat das hier nichts zu tun. Ich war nicht in New York, doch im Fernsehen habe ich Leute mit »Free Gaza«-T-Shirts gesehen. Das ist eben das einschlägige Milieu. Das Milieu der Linken zeigt sich heute weltweit nicht mehr in der Iko­nographie eines Sowjetsterns oder mit Che-Guevara-T-Shirt, sondern eher mit Palästinensertuch und überhaupt mit einer positiven Bezugnahme auf Palästina. Die Linke weltweit ist antiisraelisch. Wenn ich in den Zuccotti-Park gehen und anfangen würde, israelische Lieder zu singen, könnte ich mir gut vorstellen, dass ich ausgebuht würde, oder wenn ich mit einem israelischen T-Shirt erscheinen würde, wäre klar, dass das irgendwie nicht passt.
Und ist das kein Grund zur Besorgnis?
Doch natürlich, aber es hat nichts speziell mit dieser Demonstration zu tun. Die Reaktionen wären noch viel schlimmer, wenn ich das an der erlauchten Universität Oxford machen würde oder bei einem Editorial Board Meeting des Guardian. Was an antiisraelischer Stimmungsmache un­ter wohl etablierten Linken geschieht, ist für mich viel besorgniserregender.
Vor einem Jahr haben Sie in der Jungle World gesagt, in den USA könne es keinen Faschismus geben, weil die Rechte derart antistaatlich sei. Wie würden Sie das Verhältnis der amerikanischen Linken zum Staat beschreiben?
Bezüglich der Rechten bin ich mehr denn je dieser Meinung. Schon das Wort »Government« ist bei den Rechten verhasst, es wird praktisch als Äquivalent zu »Nazi« benutzt, was die politische Borniertheit dieser Gruppierungen bezeugt. Aber auch die Linken unterscheiden sich in Amerika von denen in Europa. Europäische Bewegungen dieser Art sind viel staatsfixierter. Man richtet dort seine Forderungen mehr an den Staat. In der amerikanischen Politik spielt der Staat insgesamt eine geringere Rolle. Aber selbstverständlich fordern Linke auch hier – richtigerweise – vom Staat eine bessere Krankenversicherung und ähnliches. Ich hoffe, dass die neue Bewegung daran anknüpft und letztendlich Obama, wenn auch indirekt und vielleicht ungewollt, zum wohlverdienten Wahlsieg 2012 verhilft.