Über Drittmittelantragsforschung an deutschen Universitäten

Autonome Selbstverwaltung

Die Universität der Gegenwart hat von ihren Kritikern gelernt. Obwohl sie die Talare wieder eingeführt hat, ähnelt sie immer stärker einem prekären linken Kulturprojekt.

Als es an den geisteswissenschaftlichen Fachbereichen der deutschen Universitäten noch Gelehrte gab, auf deren Weltfremdheit der akademische Betrieb aus Gründen des Selbsterhalts Rücksicht nahm, war es eine ziemlich unspektakuläre Sache, ein Forschungsvorhaben in Angriff zu nehmen. Die Gelehrten, meist ordentliche Hochschulprofessoren mit den üblichen Aufgaben in Forschung und Lehre, verfügten aus früherer Zusammenarbeit über gute Kontakte zu Verlagen, über ein bescheidenes, aber stabiles Budget im Rahmen ihres Lehrstuhls und über einen mal kleineren, mal größeren Stab an studentischen Hilfskräften und Verwaltungsmitarbeitern. Da­rüber hinaus brauchten sie eigentlich nur eine möglichst umfangreiche Fachbibliothek und viel Zeit und Muße, um zu lesen und zu schreiben. Sofern sie habilitiert und verbeamtet waren, mussten sie in der Regel auch niemandem Rechenschaft über den genauen Gegenstand und den Fortgang ihrer Arbeit ablegen, die gleichwohl meist nach einer überschaubaren Anzahl von Jahren an ihr Ende kam.
Studenten, die in dieser gar nicht lange zurückliegenden Zeit als Hilfskräfte oder Tutoren ge­arbeitet haben, werden sich an das Glück und die Begeisterung erinnern, die damit verbunden waren, sich ein zuvor unzugängliches und noch immer unüberschaubares, aber umso verlockenderes Gebiet des Wissens und der geistigen Erfahrung zu erschließen. Selbst wer sich früh bewusst war, auf diese Weise auch an einer Form von »Ideologieproduktion« mitzuwirken, wie die vulgärlinke Idiotie jede Art von Denken zu nennen pflegt, und wer die Cliquenwirtschaft des universitären Betriebs durchschaute, wird nicht bestreiten können, dass derselbe Apparat, der diesen am Laufen hielt, zugleich eine Form der Erkenntnis und Kritik ermöglichte, die über ihn hinauswies.
Wer heute behaupten würde, die wichtigste Arbeit der an der Universität Tätigen sei Lesen und Schreiben, würde als anmaßend und konservativ diffamiert. Dissertationen wie die berühmte »Theorie des modernen Dramas« von Peter Szondi aus den fünfziger Jahren, die nicht mehr als ein schlanker, dichter Essay ist und mit einer Handvoll Fußnoten auskommt, wären im postmodernen Exzellenzbetrieb undenkbar. Hier muss jeder Verfasser einer Qualifikationsarbeit so wortreich wie öde unter Beweis stellen, dass ihm noch die sinnleersten und unbedeutendsten Forschungsbeiträge zum Thema bekannt sind, so dass Dissertationen und Habilitationen fast ausschließlich von den verantwortlichen Gutachtern in Gänze gelesen werden.
Die Langeweile, die von ihnen ausgeht, hat neben dem Verschwinden der Fähigkeit zum gedrängten, essayistischen Stil noch einen anderen Grund. Da sie immer seltener in einer Zeit der temporären Freistellung vom Zwang zur Reproduktion durch Lohnarbeit – etwa finanziert durch Stipendien oder Promotionsstellen – entstehen, sondern gewissermaßen zur bloßen Vorbereitung der universitären Erwerbstätigkeit verkümmert sind, tragen Qualifikationsarbeiten immer offener die Male ihrer Heteronomie. Eine Reihe von Danksagungen begleitet sie ebenso wie der konformistische Wunsch, es sich mit keinem zu verscherzen. Deshalb ist Kritik an prospektiven Kollegen verpönt, und »Arbeitsergebnisse« aus den Sonderforschungsbereichen, in deren Rahmen sie entstanden sind, müssen auch dann ­integriert werden, wenn sie zur Sache nichts beitragen. So werden die Arbeiten zu Pflichtübungen, die zu lesen so wenig Vergnügen bereitet, wie ihre Verfasser beim Schreiben hatten.
Allein, um sich die Möglichkeit zu verschaffen, für längere Zeit einer geistigen Tätigkeit nachzu­gehen, müssen Akademiker mittlerweile einen Vollzeitjob als Verwaltungsangestellte und Projektmanager absolvieren. Diese Arbeit lässt sich unter dem Schlagwort »Drittmittelwirtschaft« rubrizieren. Drittmittel sind finanzielle Mittel, die den Hochschulen nicht aus dem ihnen bewilligten Etat zur Verfügung stehen, sondern über Stiftungen und die Privatwirtschaft angeworben werden. Als besonders »exzellent« gilt weder, wer die Etats schont und gleichsam als verbeamteter Privatgelehrter weitgehend kostenfrei forscht – Immanuel Kant würde heute zum akademischen Prekariat gehören –, noch, wer den ihm von der Hochschule zugeteilten Etat kompromisslos ausschöpft. Die echte Elite muss sich vielmehr als fähig erweisen, mit Raffinement und Ausdauer an möglichst viele Fremdgelder zu gelangen.
Das Hauptproblem des expandierenden Drittmittelmarktes besteht allerdings nicht in der durch ihn gegebenen Möglichkeit ideologischer Einflussnahme »der Wirtschaft« auf »die Wissenschaft«, die in ihren Forschungen und Erkenntnissen schließlich nie wertfrei oder neutral gewesen ist. Es besteht in der vor jeder inhaltlichen Bestimmung des Forschungsgegenstandes liegenden Gehirnwäsche, der jeder Einzelne durch die sprachliche Gewalt der Drittmittelantragsprosa unterworfen wird, die inzwischen ein eigenes Forschungsgebiet darstellt. Nicht zufällig gibt es fast so viele Handbücher über die Technik des Verfassens von Drittmittelanträgen wie über die Methodologie der Forschung. Einen Drittmittelantrag zu stellen, bedeutet, ein Projekt zu »promoten«, mithin den ihm zugrundeliegenden Gedanken so lange verwaltungssprachlich zu malträtieren, bis von ihm nichts übrig ist als seine »Relevanz«. Die »Relevanz« ist das, worauf ein Gedanke zusammenschrumpft, wenn alle Spuren geistiger Erfahrung aus ihm getilgt sind. Je »relevanter« ein Projekt, desto substanzloser sein Gegenstand, desto öder sein Papierausstoß und desto subalterner sein intellektuelles Verwaltungspersonal.

Die durch die akademische Drittmittelwirtschaft bewirkte Verwandlung von denkenden Individuen in Sachverwalter des eigenen geistigen Lebens zeugt nicht einfach von einem universitären Backlash, sondern verwirklicht in schlimmster Weise den alten, linken Traum von der autonomen Selbstverwaltung. Dieser speiste sich schon immer aus zwei Quellen: aus der Kargheit und Erbärmlichkeit der eigenen Existenz und aus dem Hass auf jede zweckfreie Tätigkeit. Nur wer durch Heteronomie und Lebensnot dazu gezwungen ist, die Bedingungen der Möglichkeit des eigenen Fortvegetierens auch noch permanent selbst sicherzustellen, kann überhaupt auf die Idee verfallen, die »Verwaltung« seiner selbst sei ein Ausdruck von »Autonomie« und nicht im Gegenteil ein Modus von deren Verhinderung. Und nur wer das Glück desjenigen verachtet, der im Augenblick der Erkenntnis dem Netz der Absichten und Zwecke enthoben ist, ohne ihnen freilich entronnen zu sein, vermag die permanente Sicherung der eigenen Subsistenz zur ersten Pflicht aller Mitglieder eines Kollektivs zu erklären.
Genau so aber funktioniert die neue Universität, zu deren Mitbegründern im Geiste nicht zufällig ehemalige linke Pädagogen wie der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen gehören. Die akademischen Exzellenzen der Zukunft sollen sich ihnen zufolge als professionelle Manager ihres eigenen, stets prekären und unter Vorbehalt gestellten geistigen Daseins bewähren. Statt zu denken, sollen sie ihr Denken verwalten, das als verwaltetes schon keines mehr ist. Wer die Verwaltung dem Sekretariat und das Management der Außenstelle für Öffentlichkeitsarbeit überlassen will und allen Ernstes das Privileg für sich in Anspruch nimmt, allein für seine geistige Arbeit bezahlt zu werden, den fordern die Eliten wie seinerzeit ihre eigenen Dozenten auf, endlich den muffigen Talar auszuziehen und die Ärmel hochzukrempeln.