Der CDU geht es nicht um »faire Löhne«

Plötzlich Sozi

Der konservative Widerstand gegen eine gesetzliche Lohnuntergrenze scheint ­gebrochen. Mit ihren Plänen für einen Mindestlohn weckt die CDU Hoffnungen auf vermeintlich faire Löhne. Die vor­gesehene Regelung beseitigt Niedriglöhne jedoch nicht, sondern verfestigt sie.

Am Wochenende findet der alljährliche Parteitag der CDU statt. Wieder einmal tagen die Christdemokraten in Leipzig, wie schon 2003, als Angela Merkel nicht wenigen Beobachtern als Wiedergängerin der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher erschien. Auch in diesem Jahr dürften sich ausreichend Anhaltspunkte finden, um die Politik Merkels in die Tradition der neokonservativen Politikerin zu stellen. Immerhin sind von Merkel Rechtfertigungen für die Rettung europäischer Banken zu erwarten, ebenso wie für die Kehrseite der Maßnahmen: das eiserne Sparen im sozialen Bereich. Da dürften auch die etwaigen Erläuterungen zur Modernisierung des konservativen Weltbilds – zum Beispiel in den Fragen der Atomenergie und der Wehrpflicht – die politischen Koordinaten der Beobachter nicht groß durcheinanderbringen. Wären da nicht die christlichen Arbeitnehmer. Auf ihre Initiative hin tritt die CDU neuerdings für einen Mindestlohn ein. Manch einem mag dies als sozialdemokratische Kehrtwende in Merkels Politik erscheinen.

Seit Monaten wird die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA), eine Art unionsinterner Sozialausschuss und nicht zu verwechseln mit den sogenannten gelben Gewerkschaften, nicht müde, für einen allgemeinen Mindestlohn zu werben. Insbesondere der Vorsitzende der CDA, Karl-Josef Laumann, appelliert mit dem Verweis auf die »Würde der Arbeit« an das soziale Gewissen der Union. Und diese Würde finde nun mal in der Entlohnung ihren Ausdruck, die bei vielen Erwerbstätigen verbesserungswürdig sei. Bereits im August hatte Laumann angekündigt, auf dem Parteitag einen entsprechenden Antrag zu stellen. Seit zwei Wochen zeichnet sich nun ab, was manch konservativ-liberaler Seele als Revolution gelten dürfte: Die CDU tritt offiziell für eine allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze ein.
Der von der Parteiführung favorisierte Antrag stammt aus dem nordrhein-westfälischen Landesverband der CDU. Obwohl Laumann auch hierbei mitwirkte, ist der Kompromisscharakter deutlich zu erkennen. In dem Text heißt es: »Wir wollen eine durch die Tarifpartner bestimmte und damit marktwirtschaftlich organisierte Lohn­untergrenze und keinen politischen Mindestlohn.« Orientieren solle sich das Niveau der Untergrenze an den untersten Lohngruppen der Leiharbeitstarife, die es in allen Wirtschaftsbereichen gibt. Konkret wären das 7,01 Euro pro Stunde im Osten beziehungsweise 7,89 Euro pro Stunde im Westen. Der Mindestlohn soll den Plänen der CDU zufolge jedoch nicht für alle Branchen gelten, sondern nur für jene Sektoren ohne geregelten Tarif. Bereits bestehende, branchenspezifische Mindestlöhne und sonstige Tarifverträge blieben unberührt – auch zum Nachteil der Beschäftigten. So liegen etwa die allgemeinverbindlichen Löhne in Großwäschereien und in einigen Bundesländern auch im Sicherheitsgewerbe noch unter den niedrigen Leiharbeitstarifen.
Zudem besteht bei dem vorgeschlagenen Modell das Risiko, dass die Belegschaften in ähnlicher Weise getäuscht werden wie schon bei der Leiharbeit. Dort unterlaufen Tarifverträge sowohl der christlichen als auch der DGB-Gewerkschaften den Grundsatz des equal pay, das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit. Die sich anbahnende Mindestlohnregelung könnte einmal mehr dazu dienen, den Grundgedanken des Kollektivvertrags in sein Gegenteil zu verkehren: der Tarif als Instrument der Schlechterstellung. Das könnte auch die christlichen Gewerkschaften wieder auf den Plan rufen, denen bisher die Aufgabe zufiel, Lohndumping tariflich zu legitimieren. Durch die Angleichung der verschiedenen CGB- und DGB-Leiharbeitstarife im vergangenen Jahr hatten sie diese Funktion teilweise verloren. Im Mindestlohnmodell der CDU könnten sie nun in den jeweiligen Branchen herangezogen werden, um per Tarif die Lohnuntergrenze auszuhebeln.

Diese Überlegungen greifen jedoch weit voraus. Nach einer Einigung auf Partei- und Koalitionsebene soll zunächst eine Kommission aus Unternehmerverbänden und Gewerkschaften – nach dem Vorbild der britischen Low Pay Commission – die Lohnuntergrenze einvernehmlich ausgestalten. Erst hier wird sich zeigen, welche Chancen wirklich für einen Mindestlohn bestehen. Die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), die mit ihren standardisierten Argumenten gegen den Mindestlohn nicht mehr so recht überzeugen kann, bekommt so die Gelegenheit, die konfliktfreie Einführung eines Mindestlohns platzen zu lassen.
Die Forderung nach einem Mindestlohn seitens der Gewerkschaften ist ein Ausdruck ihrer Verzweiflung. Seit 2006 führen DGB-Gewerkschaften, unterstützt von einer PR-Agentur, eine Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde. Mit Verdi und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten ist der Appell an den Gesetzgeber von zwei Gewerkschaften initiiert worden, die in den besonders prekären Branchen des Handels und der Gastronomie mit großen Problemen bei der Durchsetzung ihrer Forderungen zu kämpfen haben. Man kann der Initiative einen gewissen Erfolg nicht absprechen, vor allem in puncto Meinungsbildung. 86 Prozent der Bevölkerung, so eine aktuelle ARD-Umfrage, befürworten die Einführung eines Mindestlohns. Noch 2007, ein Jahr nach Beginn der Kampagne, waren es nur 60 Prozent.

Die formellen Bekundungen und die implizite Wirkungsweise der Kampagne klaffen aber bisweilen weit auseinander. Eigentlich wäre die Kampagne ein Fall für den Verbraucherschutz. Denn präsentiert wird der Mindestlohn als Garant für ein »vernünftiges Arbeitseinkommen«, damit niemand zu »arm trotz Arbeit« sein muss. Auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) spricht in diesem Zusammenhang, so etwa in der Bild am Sonntag, gern von »fairen und anständigen Löhnen«. Das ist mehr als beschö­nigend. Denn Mindestlohn ist Niedriglohn: Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit lag die Niedriglohnschwelle im Jahr 2009 bei durchschnittlich 1 784 Euro im Monat, also bei knapp 1 900 Euro im Westen und knapp 1400 Euro im Osten. Selbst mit der Forderung der Mindestlohn-Initiative von inzwischen 8,50 Euro pro Stunde würde sich, hochgerechnet auf 40 Wochenstunden, gerade mal im Osten etwas geringfügig verbessern.
Die von christlichen Arbeitnehmern und der Bundesregierung nun favorisierte Lohnuntergrenze, die sich am Leiharbeitstarif orientiert, bewegt sich hingegen im Bereich des Armutslohns, der bei weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens vorliegt. Nach vorläufigen Berechnungen der Deutschen Rentenversicherung liegt diese Größe derzeit bei 1 261 Euro – brutto, versteht sich. Damit werden »Lohndrückerei und prekäre Beschäftigungsverhältnisse«, gegen die sowohl der DGB-Vorsitzende Michael Sommer als auch der CDA-Vorsitzende Laumann angehen wollen, nicht beseitigt, sondern vielmehr institutionalisiert. Offenbar machen sich die Gewerkschaften in ihrer Zwangslage zu Propagandisten einer falschen Vorstellung von »fairen Löhnen«. Unabhängig davon, dass etwa fünf Millionen Menschen von einer Lohnuntergrenze bei 8,50 Euro profitieren würden, tragen die Gewerkschaften so zu einer neuen Bescheidenheit bei. Es ist nicht abwegig, dass so manche Unternehmen den Mindestlohn als Feigenblatt heranziehen, um höhere Löhne auf ein solch »vernünftiges« Niveau zu senken.

Bekanntlich herrscht auch unter den Ökonomen eine Art Glaubenskrieg um die Frage, welche makroökonomischen Auswirkungen – Chancen wie Risiken – ein Mindestlohn hätte. Unbestritten ist zwar, dass ein Mindestlohn die Binnennachfrage stärkt. Vor allem einkommensschwache Haushalte, die permanent an finanziellem Mangel leiden, dürften jeden zusätzlichen Euro tatsächlich auch ausgeben. Das fördert die Wirtschaft. Dementsprechend positiv waren die Reaktionen von Seiten der EU auf die inzwischen dritte Mindestlohndebatte in Deutschland. Auch die ehemalige französische Wirtschaftsministerin und jetzige IWF-Präsidentin Christine Lagarde dürfte zufrieden sein, hatte sie doch seit langem gefordert, die Bundesrepublik müsse durch eine Stärkung der Massenkaufkraft und der Binnennachfrage ihren Außenhandelsüberschuss abbauen, um den europäischen Wirtschaftsraum zu stabilisieren.
Insbesondere Wirtschaftsvertreter wie der BDA-Vorsitzende Dieter Hundt wiederholen jedoch gebetsmühlenartig, ein solcher Eingriff in den Arbeitsmarkt gefährde Arbeitsplätze. Dies kann jedoch als ideologisches Rückzugsgefecht gesehen werden. Denn es zeichnet sich ab, dass ein neuer »nationaler Konsens« den bisherigen Dissens im volkswirtschaftlichen Diskurs über Mindestlöhne ablöst. Neuere Studien im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums belegen Medienberichten zufolge, dass die Branchen mit allgemeinverbindlichen Tarifverträgen keine Arbeitsplätze abgebaut hätten.
Eine weitere Studie stellte bereits im Frühjahr 2011 das fiskalische Interesse des Staates heraus: Etwa sechs Milliarden Euro, so das Prognos-Institut, könnten zusätzlich an Steuern und Sozialabgaben eingenommen werden. Zudem könnten die Ausgaben der Arbeitsagentur für den verkappten Kombilohn der sogenannten »Aufstocker« – also derjenigen, die über den Lohn hinaus Anspruch auf ALG II haben – um fast zwei Milliarden Euro gesenkt werden. Sollte dies der Grund gewesen sein für die Kehrtwende der Unionsspitze? So jedenfalls ließe sich in Leipzig doch der Kreis zu Schuldenkrise und Haushaltssanierung schließen.