Über den friedlichen Schlaf

Kein schöner Land

Eine Erinnerung an das vergessene Drittel des Lebens.

Die Wiegenlieder, mit denen wir alle einmal als Kinder in den Schlaf gesungen wurden und die in der Erinnerung der Individuen bewahrt bleiben wie sonst nur der erste Kuss, sind vielleicht die sanfteste Form der Anästhesie. Was später eine ganze Reihe unterschiedlicher Rauschmittel vom Alkohol bis zum Morphium in allen möglichen Stärkegraden besorgen, wurde im Wiegenlied eingeübt: die Linderung des Schmerzes, als den jeder Einzelne das Leben erfährt und der betäubt werden muss, damit sich dennoch leben lässt. Viel zu selten wird darüber nachgedacht, warum Kinder überhaupt Lieder brauchen, um einzuschlummern. Ist nicht der ebenso beruhigende wie monotone Gesang, der das Kind mit einfachen Wiederholungen und spielerischen Assonanzen zugleich einlullt und becirct, die früheste Reflexionsform der Gemeinheit der Welt, die niemanden zur Ruhe kommen lässt, jeden Wunsch durchkreuzt und jeden um das bringt, was ihm am teuersten ist? Nur weil keine Kindheit jemals glücklich ist, sondern ausgeliefert dem Alb der Wirklichkeit, den die Erwachsenen als Realitätsprinzip kennen, müssen alle Kinder Nacht für Nacht aus der Welt hinaus- und in die selige Arglosigkeit des Schlafs hineingesungen werden. »Schlaf in himmlischer Ruhe« oder »Kennt auch dich und hat dich lieb« sprechen von einer Welt so voll Geborgenheit und Glück, dass sie gegenüber dem Tagesleben, das nichts davon bereithält, fast als Totenreich erscheinen muss. Nicht zufällig verschwimmen in Schlafliedern wie »Guten Abend, gute Nacht« die Bilder von Tod und Erfüllung ununterscheidbar mitei­nander. Das romantische Wiegenlied, bei Brentano oder Eichendorff, hat diese noch kunstferne Ahnung zur ästhetischen Erkenntnis geschärft: Der Schlaf, dieser kleine Tod, ist notwendig, damit das wache Leben, das dem Tod ähnlicher ist als der Schlaf, ertragen werden kann.
Der Schlaf gehört zu den wenigen scheinbar unwandelbaren Erscheinungen des menschlichen Lebens. Wie sehr sich die Lebenserwartung und die Wachens- und Schlafensumstände im Laufe der Jahrhunderte auch geändert haben, stets gehörte etwa ein Drittel der menschlichen Lebenszeit dem Schlaf. Noch wo er mit stärkster Willenskraft und medikamentöser Schützenhilfe bezwungen werden soll, scheint er sein Recht mit der Gewalt eines Naturgesetzes geltend zu machen. Wo er aber ausbleibt, macht er krank. Die dem gleißenden Licht der schlechten Welt gehorchenden Menschen empfinden ihn als lästige Notwendigkeit oder Bedrohung, die nicht mehr Schritt fassen können oder wollen, sehnen ihn sich umso stärker herbei, desto seltener sie in ihm Ruhe finden. Glücklicher Schlaf kann nicht erzwungen werden, sondern muss geschehen wie wahre Liebe oder ein sorgloser Tag. Weil immer schon fast alles dem entgegenstand, geben mythologische Darstellungen des Schlafs ihm Wächter an die Seite, die ihn hüten. Als späte Nachfolger dieser Wächter gaukeln die Wiegenlieder dem Kind einen Frieden vor, den es nicht gibt und an den es doch glauben muss, um die Augen zu schließen und das Bewusstsein zu jener Ruhe kommen zu lassen, die nötig ist, um bei Vernunft zu bleiben. Die Stimme, die das Kind in den Schlaf singt, ist der lebendige Statthalter des ewigen Friedens, den alle Menschen kennen, obwohl er niemals Wirklichkeit war.
Solange sie der Gewalt der ersten Natur weitgehend ohnmächtig gegenüberstanden, konnten die Menschen tatsächlich nur schlafen, wenn zuverlässige Hüter ihren Schlaf beschützten. Wer schläft, ist hilflos und ein leichtes Opfer. Deshalb darf der Wachzustand, der noch stets im Bann des Naturzwangs steht, in dem man ständig auf der Hut sein muss, nur suspendiert werden, sofern treue Freunde über den Schlaf wachen. Ein Nachklang davon findet sich heute noch in Horror- oder Abenteuerfilmen, deren Figuren sich angesichts ungeahnter Gefahren ins unmittelbare Naturverhältnis zurückgeworfen sehen. Weil ständig aus der Finsternis die Bestie oder der Feind zu springen droht, sind sie gezwungen, sich beim Schlafen und Wachen abzulösen wie die ersten Menschen oder Pfadfinder beim Geländespiel. Schon seit sie ihre Autonomie zu entdecken begann, legte Kunst Zeugnis von beidem ab, von der Notwendigkeit des Scheins als Anästhetikum gegenüber einer unerträglichen Realität und vom Versprechen einer Welt ohne Angst, das in dieser wie in jeder Betäubung beschlossen liegt. Wie bereits die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht gegen den Tod erzählt sind, kommt fast allen Novellen von Cervantes bis Goethe die Funktion zu, diejenigen, die ihnen lauschen, vorm Tod zu bewahren und zugleich an einen anderen, der Realität entgegengesetzten Ort zu entrücken. Ästhetische Erfahrung ist die sublimierteste Form des Schlafs und dessen Gegenteil, weil sie aufweckt, was im Wachzustand in den Menschen schlafen muss, damit sie funktionieren können. Daher rührt die Affinität der Kunst zum Traum noch in jenen ästhetischen Gebilden, die sich ausdrücklich der dämonischen Logik des Traums entgegensetzen wollen. Die Kunst wie das Spiel sind entwickelte, ihrer selbst bewusst gewordene Formen jener ersten Geste, mit welcher dem Kind ermöglicht wurde, die Vereidigung auf die Tageswelt für die Dauer des Schlummers zu vergessen. Ästhetik ist Anästhetik: Keine authentische Kunst, die nicht in jeder ihrer Konfigurationen dieser untergründigen Verwandtschaft gewahr wäre.
Das bürgerliche Zeitalter hat nicht nur die Autonomie der Kunst proklamiert, sondern auch die Autonomie des Schlafs entdeckt. Vorher war er je nach Standeszugehörigkeit selbstverständ­licher Luxus oder lästiger, aber notwendiger Bestandteil des täglichen Kampfes um die eigene Subsistenz. Erst die bürgerliche Ökonomie, die potentiell jeden nicht nur als Warenbesitzer, sondern als Eigentümer des eigenen Körpers und der eigenen Fähigkeiten setzt, hat auch den Schlaf individualisiert. Indem nun systematisch ergründet wurde, welche Bedeutung ihm beim »Erhalt der menschlichen Maschine« zukommt, wie die frühen Aufklärer den Funktionszusammenhang des menschlichen Körpers und Geistes durchaus unmechanistisch nannten, schwand der Schein seiner Naturhaftigkeit und blinden Determination, und der Schlaf wurde mehr und mehr als je eigener geachtet. Weil man seiner im Sinne der bürgerlichen Ökonomie Herr werden musste, war man zugleich gezwungen, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Norbert Elias hat gezeigt, wie sich die Individualisierung des Schlafs seit der frühen Blütezeit des Bürgertums in der Architektur und Zimmereinrichtung, der Kleidung und den Alltagsritualen der Menschen niedergeschlagen hat. Die Bettstatt, lange Zeit ein in die ohnehin engen Wohnverhältnisse der einfachen Bevölkerung hineinimprovisierter Schlafplatz ohne Autonomie, ohne Abtrennung zum übrigen Wohnraum, wandelte sich zunächst in der bürgerlichen Wohnung, sehr viel später auch in den Wohnungen der Arbeiter zu einer eigenen, von den Räumen des Tageslebens abgetrennten Sphäre. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Schlaf der Kinder zu. Mit der Entstehung des Kinderzimmers, von Kinderspielzeug und Kinderbüchern, schärft sich auch das Bewusstsein dafür, dass Kinder, weil sie von den Zwängen des erwachsenen Lebens freigestellt sein sollen, nicht nur schlafen müssen, sondern auch schlafen dürfen. Darin wiederum entdecken die Bürger den Schlaf als verlockenden Gegenspieler ihres eigenen gesellschaftlichen Daseins: Er ist nun nicht mehr nur Notwendigkeit, sondern Joch und Gunst zugleich. Indem er die bürgerlichen Individuen in ihrem innersten Prinzip in Frage stellt, ist er Statthalter des Glücksversprechens, das sie in ihrem Tagesleben verraten müssen, um sich selbst zu erhalten. Die Freudsche Traumdeutung, welche die imaginäre Produktion des Schlafenden nicht einfach bezwingt, sondern aufschließt und dadurch ernstnimmt, widmet sich einem Gegenstand, der durch die Frühgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt erst als autonom ins Bewusstsein der Individuen getreten ist.
Mit dem Niedergang des Bürgertums und der schlechten Aufhebung des Gegensatzes zwischen einer verkümmerten Privatsphäre und einer heteronomen Öffentlichkeit schwindet auch das Glücksversprechen des Schlafs. Während die Kinderzimmer zu düsteren Nachwuchsabstellräumen werden, wird das Schlafzimmer der Erwachsenen zur Gruft, in der sie ihre Lüste begraben wie ihre Kunst im Museum. Die als Drohung gemeinte Lüge der Nationalsozialisten, dass künftig nur noch derjenige ein Privatleben habe, der schlafe, bringt in Wahrheit zum Ausdruck, dass auch der Schlaf von nun an nie mehr derselbe sei. Diese Drohung besteht auch nach der formellen Abschaffung jener Herrschaft fort, solange die Bedingungen ihrer Möglichkeit gegeben sind. Wo es noch Schlafzimmer gibt, sind sie nicht letzte Residuen des Intimen, sondern toter, überflüssiger und hässlicher Raum in einer Privatsphäre, die sich ihre Geborgenheit selbst nicht mehr glaubt. Wo die Schlafzimmer verschwunden sind, wurden sie durch beliebig transportable Gestelle, Matratzen und Isomatten abgelöst, mit denen die bunt getünchten Patchworkmenschen ihre flexible Einsetzbarkeit in Intimleben wie Beruf zur Schau stellen. Die Schlafstatt ist nur noch ein Sarg oder Teil eines mobilen Pfadfinderlagers, öde oder pompös, vernachlässigt oder aufgemotzt, schaler Nachklang eines Versprechens, das nie eingelöst wurde.
Die Erinnerung an die ganze Freiheit, die in ihrer bürgerlichen Erscheinungsform als formelles Recht schon keine ganze mehr ist, wanderte indessen in den Anachronismus ein. Fortschritt, Befreiung, Revolte werden noch immer mit dem Aufwachen assoziiert und scheinen nicht anders denkbar zu sein denn als Ergebnis eines alles durchdringenden Morgenappells. Der Wachheitswahn durchzieht die Geschichte des Fortschrittsglaubens vom »Völker, hört die Signale« und »Wacht auf, Verdammte dieser Erde« über die herrgottsfrühe Frühstücksmobilisierung in lebensreformerischen Erziehungsheimen bis zum Radiomoderator, der seinen Zuhörern den Fluch, sich allmorgendlich dem Stumpfsinn der Mitmenschen aussetzen zu müssen, als Ausdruck zeitgemäßer Agilität verkauft. Wo Managern die effiziente Nutzung des Sekundenschlafs empfohlen wird und aufgeweckte Dreistigkeit als Ausdruck von Charakterstärke firmiert, wird nicht nur nachhaltig gegessen, sondern auch nachhaltig geschlafen. Erst recht der Beischlaf, den so zu nennen bereits als Symtom von Verklemmtheit gilt, muss ganz und gar nützliche Tätigkeit und hundertprozentiger Lustgewinn sein und darf in nichts mehr an jene einverständige Ruhe erinnern, die im Glücksfall auf ihn folgt und in der vermeintlich euphemistischen Redewendung bewahrt bleibt. Denn keine Stunde darf einfach verschwendet sein. Die Erinnerung an das schöne Leben, das durch solch planvolle Vernutzung vollends unmöglich wird, ist aufgehoben in Zeilen wie »Kein schöner Land in dieser Zeit«, die zwar dem Volkslied entstammen, aber nicht das Land des Volkes, sondern das unteilbare Land der Freiheit meinen. Eine Ahnung davon scheint in der konzentrierten Ruhe auf, die das Gesicht des Schlafenden spiegelt und die zu sehen noch heute zu den intimsten Privilegien gehört, die man anderen gewähren kann. Deshalb können nur Liebende wahrhaft glücklich schlafen. Von der Drohung der Wehrlosigkeit erlöst, ist das Gesicht des Schlafenden Sinnbild jenes Friedensschlusses, mit dem die Menschheit nicht nur den Schlaf, sondern das Leben vom Joch der Angst befreit.

Literatur:Charlotte Beradt: Das dritte Reich des Traums, Frankfurt/Main 1981Alain Corbin: Wunde Sinne. Über die Begierde, den Schrecken und die Ordnung der Zeit im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993Sonja Kinzler: Das Joch des Schlafs. Der Schlafdiskurs im bürgerlichen Zeitalter, Köln, Weimar, Wien 2011Elisabeth Lenk: Die unbewusste Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum, München 1983Christoph Türcke: Philosophie des Traums, München 2008