Über die Abschaffung des Todes

Auf in die Ewigkeit

Keine Utopie ohne die der Abschaffung des Todes, sagt Adorno. Unsere Rettung ist der Tod, aber nicht dieser, schreibt Kafka. Nichts bleibt für die Ewigkeit, singen die Toten Hosen. Wird das menschliche Leben besser, wenn der Tod besiegt ist? 13 kurze Entgegnungen auf eine schwierige Frage.

Live and Let

Die Die Kommunisten, Utopisten und Staatsfeinde sind bescheiden geworden. Wollten sie einmal großspurig die Welt aus den Angeln heben und den Himmel auf Erden errichten, wägen sie inzwischen ab, als würden sie sich um einen Lehrstuhl für Diskursethik bewerben. Auf die Frage, ob das Sterben abgeschafft gehört, reagieren sie nicht nur, als hätten sie im nächsten Quartal tatsächlich über Leben und Tod zu entscheiden. Sie argumentieren zugleich ähnlich wie die Arbeitgeberverbände der sechziger Jahre in den Diskussionen über die 40-Stunden-Woche. Wer zu viel Urlaub und Freizeit habe, so hieß es damals, wisse sie nicht mehr zu schätzen.

Das Dumme ist: Wie so oft haben die Freunde von Ausgleich, Umsicht und Bescheidenheit mit ihren Argumenten nicht ganz unrecht. Sie haben die Geschichte, die Vernunft und die Logik auf ihrer Seite: Durch zwei Weltkriege und durch Auschwitz wurde der Fortschrittsoptimismus dementiert, der Leo Trotzki einmal von der Unsterblichkeit der Menschen von Morgen sprechen ließ. Der Vermehrungsdrang, der in den letzten Jahren gerade im gehobenen Mittelstand beobachtet werden kann, dürfte die Welt der Zukunft recht eng werden lassen. Ganz zu schweigen von der Frage, wer es zwischen all den Theos, Torben-Finns, Anna-Lenas und ihren Erzeugern überhaupt aushalten will. Und auch die unzähligen Arbeiter und Angestellten, die ihre Überstunden und ihren Urlaub verfallen lassen, weil es zu Hause oder im Neckermann-Bus noch langweiliger als auf Arbeit ist, lassen Schlimmes befürchten: Wenn sie schon am Wochenende nichts mit sich, ihren Freunden und der Welt anzufangen wissen, was ist dann zu erwarten, wenn ihnen statt des gewerkschaftlich erkämpften Jahresurlaubs die Ewigkeit zur Verfügung steht?

Eine Maxime der »Dialektik der Aufklärung« lautet jedoch, der Logik zu spotten, wenn sie gegen die Menschheit ist. Und was ist ein größerer Feind der Menschen als der Tod? Selbst unter Verhältnissen, die aus sich selbst heraus immer wieder Verzweiflung reproduzieren, ist er weniger Fluchtpunkt als Inbegriff des Leidens. Schon aus diesem Grund gehört der Tod bekämpft: sei es in metaphysischer Hinsicht, sei es mittels der viel geschmähten Gerätemedizin, an der die Linken inzwischen ebenso viel auszusetzen haben wie die Zeugen Jehovas und die Krankenkassen, oder sei es durch das Anrennen gegen Zustände, in denen das Sterben gelegentlich als Erlösung erscheint.

Wenn die Revolutionäre von heute diese einfache Maxime vergessen und sich angesichts der Frage nach dem Leben und Sterben anderer erst einmal ein paar Tage Bedenkzeit erbitten, statt sich unverzüglich für das Leben zu entscheiden, ist es möglicherweise gar nicht so schlecht, dass derzeit weder der Kommunismus noch der Sieg über den Tod auf der Tagesordnung steht. Weder von der freien Assoziation noch von den Volkskommissaren für Leben und Sterben wäre unter dieser Voraussetzung viel Gutes zu erwarten.

Jan-Georg Gerber  

 

Sterblichkeit für alle

»Ohne die Vorstellung eines fessellosen, vom Tod befreiten Lebens kann der Gedanke der Utopie nicht gedacht werden.«

Dieses Zitat von Adorno liest sich im ersten Moment wie ein Gedanke, über den man stundenlang bei Espresso, Cognac und Zigaretten debattieren könnte. Immerhin geht es hier nicht nur um Gesellschaftsutopien, sondern um Unsterblichkeit. Adorno scheint diese als erstrebenswert anzusehen. Und stellt sich damit gegen viele Autoren und Künstler, die sich mit ihr auseinandergesetzt haben. Oft gilt die Unsterblichkeit nämlich nicht als Hort der Freiheit und unbegrenzten Entfaltung, sondern im Gegenteil als bedrängend und ausweglos.

Andreas Dorau widmete diesem Zustand ein ganzes Album, dem er den Namen »Immer Ärger mit der Unsterblichkeit« gab. Gut, Dorau schrieb auch den Titel »Frauenfüße brechen leise«, und wenn er gesellschaftliche Überlegungen in Zeilen wie »Das ist Demokratie, langweilig wird sie nie« fasst, nimmt ihn als Songwriter niemand ernst. Lieber lacht man.

»Es kann nur einen geben«. 1986 brannte sich dieser Satz ins kollektive Bewusstsein ein, und jeder Filminteressierte weiß ihn bis heute zuzuordnen. Als Werbeslogan für Russell Mulcahys Film »Highlander« nämlich. Diese Saga hat sicherlich auch deshalb mehrere Fortsetzungen und eine Fernsehserie nach sich gezogen, weil sie die Not und die Einsamkeit der unsterblichen Helden stets miterzählt. Im ersten Akt von Highlander I eröffnet der 2 437 Jahre alte Juan Ramirez dem jungen Connor MacLeod, dass auch der einer der Unsterblichen sei. Ramirez rät dringend, sich von der Liebe fernzuhalten.

Natürlich hält sich Connor nicht daran. Jahrzehnte später stirbt seine geliebte Frau Heather als weißhaarige Greisin in seinen Armen. Noch im Sterben stammelt sie ihr Unverständnis hinaus, dass Connor immer jung geblieben ist und sie nun von ihm gehen muss. Ist das trivial? Zu belächeln wie Dorau? Auf den Massengeschmack zugeschnitten? Aber was ist mit Jonathan Swift? Einer der größten Satiriker aller Zeiten darf ­sicher als würdiger Gegner Adornos gelten. In »Gullivers Reisen« äußert Swift sich ausdrücklich zur Unsterblichkeit.

Wie viele Werke der Weltliteratur leidet auch Swifts Buch daran, dass es schlecht übersetzt, aller Schärfe beraubt und zum Kinderbuch trivialisiert wurde. Die Abenteuer bei den Riesen und den Zwergen kennt jeder. Kaum bekannt sind hingegen die beiden folgenden Reisen. Auf der dritten verschlägt es Gulliver auf mehrere Inseln, die eines gemeinsam haben: Ihre Gesellschaftsmodelle sind bizarr und funktionieren schlecht. Im Königreich Luggnagg erfährt er von den Unsterblichen, die dort leben und Struldbrugs heißen. Begeistert entwirft Gulliver im Gespräch mit Luggnaggs König seine eigene Utopie: Die ersten 100 Lebensjahre würde er Geld verdienen, das zweite Jahrhundert der Bildung widmen, und so weiter. Gulliver wird ausgelacht. Die Struldbrugs sind die bemitleidenswertesten Geschöpfe der Inseln. Von Geburt an erkennbar durch ein rotes Mal über dem linken Auge, werden sie schon mit 30 Jahren trübsinnig, und da die Sprache sich ständig verändert, können sie sich als Zweihundertjährige mit niemandem mehr unterhalten und werden zu Fremden in ihrem eigenen Land. Nach dieser Erkenntnis lässt Swift Gulliver zu einer vierten Reise aufbrechen, bei der er sein Utopia findet. Eine Gesellschaft, in der Pferde herrschen und Menschen als Zugtiere dienen. Das die Menschen dort »Yahoo« genannt werden, lässt einen nebenbei den eigenen Computer mit neuen Augen sehen.

Vielleicht hätte Adorno also Swift lesen sollen, bevor er über das vom Tod befreite Leben fabulierte. Wer aber in der stressigen Weihnachtszeit keine Muße zum Lesen findet, sollte sich wenigstens die Zeit nehmen, auf Youtube nach der Hamburger Band »Superpunk« zu suchen. Wenn das nächste Mal die Weihnachtstrauer nach der Seele greift – der Refrain »Es gibt nur ein Leben, und deshalb weigere ich mich aufzugeben« bietet schnelle Hilfe.

Knud Kohr  

 

Der Wunsch

Man kann nicht sagen, dass es nicht geklappt hätte. Er hätte vielleicht nur die Rahmenbedingungen genauer formulieren sollen. Fieberhaft hatte er gegrübelt, während die Fee ihm schon Vorhaltungen machte, ob er eigentlich glaube, sie habe sonst nichts zu tun, sie sei schließlich nicht zum Spaß hier, aber irgendwas in ihm war doch zurückgezuckt. Dabei hätte er vorher, hätte ihn jemand gefragt, was er denn wünschte, hätte er einen Wunsch frei, ohne zu zögern geantwortet: Niemals sterben müssen! Er hatte sich schon als Kind immer gewundert, wenn sein Vater ihm all diese Feengeschichten vorgelesen hatte, warum niemand diesen doch so naheliegenden Wunsch äußerte. Alle wollten entweder ganz absurde Dinge oder Trivia wie Glück und Reichtum. Doch was bedeutet schon Glück, wenn der Tod hinter der Ecke lauert, und dass das letzte Hemd keine Taschen hat, das hätte man auch im Märchenland wissen können. Nein, ihm war immer klar, was er sich wünschte, würde ihn jemand fragen. Und nun hatte ihn jemand gefragt. Ein Umstand, der natürlich recht überraschend kam und hier nicht weiter erörtert werden soll, er hatte selbst ja auch keine Zeit, sich über die Merkwürdigkeit der Situation zu wundern, denn die Fee mochte zwar eine gute sein, sie war aber auf jeden Fall auch eine ausgesprochen übellaunige. Ein Wunsch war also gefragt, und er hatte einen, und doch schreckte er zurück. Er war schließlich kein kleiner Junge mehr. Er hatte sich mit dem Gedanken, dass er eines Tages sterben würde, im Laufe der Zeit irgendwie arrangiert, und etwas irritiert stellte er nun fest, dass es ihm seltsam ungemütlich schien, jetzt noch umzudenken. Außerdem: Allein schon, wenn er bedachte, wie viel Zeit er sinnlos vor dem Fernseher verbracht und sich dieses ganze grauenhafte Zeug angeschaut hatte! Ganz offensichtlich kamen die Menschen ja schon mit den paar Jahren, die sie nur zur Verfügung hatten, nicht klar. Wie sonst wäre es zu erklären …

»Meine Güte, du sollst dir keinen Roman ausdenken, du sollst einen Wunsch sagen, einen einzigen verdammten Wunsch! Wegen solchen Typen muss ich nachher wieder Überstunden schieben, und was glaubst du, wer mir das dankt? Keine Sau dankt es mir!« Die Fee war wirklich nur schwer zu ertragen.

Aber er grübelte weiter, was er mit seinem Leben eigentlich gemacht hatte, mit den wenigen Jahren, als sie ihm noch knapp und wertvoll erschienen. Er hatte einen USB-Staubsauger erfunden. Meine Güte, er hatte wertvolle Lebenszeit damit verplempert, einen USB-Staubsauger zu erfinden! Das hatte ihm ein bisschen Geld gebracht, und was hatte er damit gemacht? Er war in die Finanzwirtschaft eingestiegen. Und hatte dann jahrelang Finanzpakete gepackt, um sie danach in andere Finanzpakete umzupacken, und andere hatten Wetten auf die Verluste abgeschlossen, die wieder andere mit diesen Finanzpaketen machten, und Optionsscheine von diesen Wetten verkauften sie dann an nochmal andere, die darauf Kreditausfallgarantien gaben, und am Ende verkauften sich alle gegenseitig nur noch alberne Finanzproduktnamen, und trotzdem gingen sie abends nach Hause und sagten: Puh, da habe ich aber ordentlich was geschafft heute! Ziemlich deprimierend eigentlich. Er fühlte sich mit einem Mal sehr müde.

»Also, wenn Sie jetzt nicht langsam mal in die Hufe kommen, dann mach ich Feierabend, dann wünsche ich was, nämlich Ihnen einen schönen Abend! Was glauben Sie denn … «, zeterte die Fee, und unwirsch winkte er ab und dachte sich: Ach, was soll’s, das verzeih ich mir sonst nie. Dann sagte er es einfach: »Ich möchte niemals sterben müssen.«

»Na, das war aber ’ne schwere Geburt«, schimpfte die Fee, es folgte die unvermeidliche Nummer mit dem Stab und dem großen Puffen, und dann sagte sie: »So, na endlich, Schluss für heute!«

Und während sie eilig davonflog, ihrem wohlverdienten Wochenende entgegen, fand er sich in ein Pantoffeltierchen verwandelt vor. In einen Einzeller, der niemals stirbt, sondern sich einfach irgendwann teilt, und beide Hälften leben weiter bis zur nächsten Teilung und immer so weiter, bis ans Ende aller Tage.

Nein, man kann nicht sagen, dass es nicht ­geklappt hätte. Er hätte nur wirklich die Rahmenbedingungen genauer formulieren sollen.

Heiko Werning  

 

Der fünfte Advent

Für G., der sich seinen Tod nahm, weil er sich sein Leben nehmen wollte.

»Leben heißt sterben lernen« Rocko Schamoni

»Normal ist der Tod« Adorno

Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Todes gewesen, das Jahrhundert, in dem das individuelle Sterben nicht weniger rational organisiert wurde als die Massenmorde und Genozide. Die Millionen, die im 20. Jahrhundert umgekommen sind, stellen keine nur statistische Größe dar, sondern bezeichnen eine historische Qualität des modernen Lebens selbst, das sich in ein »Sein zum Tode« verkehrte. Leben wird zum Synonym fürs Sterben und der Tod zum Endzweck des vermeintlich erfüllten Lebens verklärt, wo er genau das Gegenteil ist, nämlich der unwiderrufliche Beweis des unerfüllten Lebens. Adornos Diktum, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe, gilt auch für den Tod. Die barbarische Verkehrung, die der Begriff der Euthanasie – der schöne Tod – im Vernichtungsterror erfährt, belegt das so drastisch wie die Pathologisierung von Tod und Sterben durch die technologische Rationalität der modernen Medizin.

Die Frage nach der Möglichkeit der Abschaffung des Todes stellt sich nicht mehr als bloß religiöse; sie stellt sich in einer Welt, »in der es längst Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod«, als historisch-materialistische Frage radikaler Kritik, wie Adorno in der ›Negativen Dialektik‹ ausführt: »Der Satz, der Tod sei immer dasselbe, ist so abstrakt wie unwahr; die Gestalt, in der das Bewusstsein mit dem Tod sich abfindet, variiert samt den konkreten Bedingungen, wie einer stirbt, bis in die Physis hinein. Neues Grauen hat der Tod in den Lagern: Seit Au­schwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod. Was der Tod gesellschaftlich Gerichteten antut, ist biologisch zu antizipieren an geliebten Menschen hohen Alters; ihr Körper nicht nur sondern ihr Ich, alles, wodurch sie als Menschen sich bestimmten, zerbröckelt ohne Krankheit und gewalttätigen Eingriff. Der Rest von Vertrauen auf ihre transzendente Dauer schwindet gleichsam im irdischen Leben: Was an ihnen soll es sein, das nicht stürbe. Der Zuspruch, noch in solcher Desintegration oder im Irrsinn bestünde der Kern der Menschen fort, hat (...) etwas Törichtes und Zynisches. Er verlängert die Spießbürgerweisheit: Man bleibt doch immer noch, was man ist, ins Unendliche.« Dies spiegelt sich nicht nur in den Kriegen, den Lagern, dem millionenfachen Sterben der Hungernden, sondern auch in der Ideologie, die die falsche Lebensfreude mit Todesmetaphysik pariert. Diese setzt sich nicht nur im Märtyrertum des Terrors fort, sondern hat auch ihre demokratische Variante im Einverständnis mit dem Tod: Menschen stürben nun einmal, das sei traurig und schmerzhaft, aber so sei es eben. Dass der Tod nicht zu überwinden wäre, gilt heute als Realitätssinn, der Wunsch nach Abschaffung des Todes als naiv und wissenschaftlich widerlegt.

In einem Gespräch mit Ernst Bloch hat Adorno das herausgestellt: »Man braucht nur irgendwann einmal bei sogenannten ›wohlgesinnten‹ Menschen (…) von der Möglichkeit der Abschaffung des Todes zu sprechen. Da wird man (...) der Reaktion begegnen: Ja, wenn der Tod abgeschafft würde, wenn die Menschen nicht mehr sterben würden, das wäre das Allerschlimmste (…). Ich würde sagen, genau diese Reaktionsform ist das, was eigentlich dem utopischen Bewusstsein am allermeisten entgegensteht. Das, was noch über die Identifikation der Menschen mit bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen hinausgeht, worin sich die verlängern, ist die Identifikation mit dem Tod.«

Das utopische Bewusstsein, von dem Adorno spricht, weist über die Idee der Unsterblichkeit hinaus, wie sie in den sozialistischen Realutopien ausprobiert wurde, sei’s in den Bluttrans­fusionsexperimenten Bogdanows, sei’s als geistig-geistliches Weiterleben im Personenkult. Es weist darüber hinaus, weil es zurückweist: in die Eschatologie, wonach die Abschaffung des Todes die Auferstehung aller Toten bedeutet. Schon in Russland gaben Revolutionäre die Parole aus: »Wir selbst sind Tote auf Urlaub!« Das nimmt, fast zynisch, Benjamins Einsicht in den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« vorweg: »Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« Schlimmeres zu fürchten als den Tod wiederholt die Angst vor dem, was in den Religionen Hölle genannt wurde; nur dass diese Hölle kein jenseitiger Albtraum ist, sondern die Moderne selbst.

Utopie wäre die Autonomie des Todes, die zugleich Erlösung wäre: in der Überwindung des Todes. Das Christentum hat diese in den »geistlichen« Bereich verschoben, während sich die Erlösung im Judentum im Sichtbaren, in der menschlichen Geschichte vollzieht – als Wiederbringung des Verlorenen, als Wiederherstellung der Welt. Gerade dieses messianische Motiv entzündet sich aber an der Wahrheit, dass die Toten so wenig sicher sind wie die Lebenden. Materialistisch gewendet hätte damit der bei Bestattungen gesprochene Satz »Erde zu Erde, Staub zu Staub« einen kosmologischen Sinn, als Utopie der Versöhnung, wonach die Abschaffung des Todes zugleich die Zeugung wäre. Nichts anderes ist der Kommunismus als Rätsel und Lösung der Geschichte, als fünfter Advent, an dem über dem irdischen Bethlehem auch der rote Stern der Erlösung leuchtet.

Roger Behrens  

 

Das Tier ruhe in Frieden vor dem Herrn

Jeder, der sich kritischen Geist attestiert, weiß: Tiere werden in Deutschland meist »besser« behandelt als Menschen. Dass im Internet eine Tierbestattungsindustrie floriert, überrascht also nicht. Nachdem der halbe Monatslohn in Deckchen, Knochen, Sitzkissen, Häuschen, ­Diamanthalsbänder, Vitaminkapseln, Tierarztrechnungen und Reinigungsmittel investiert wurde, ist die Tierbestattung das fulminante Payoff. Und wer lange mit einem Tier gelebt hat, wird nicht leugnen, dass Herrchen und Frauchen um dieses wirklich trauern können. Weil Bestattungen Rituale sind, die die Erinnerung nicht nur wachhalten, sondern auch das Vergessen ermöglichen, ist der Wunsch nach einem Begräbnis des Haustieres konsequent. Auf dem Land wurden Haustiere im Garten verscharrt, die anderen – die Mehrzahl, sofern etwas von ihnen übrig war – kamen in große Container und in noch größere Töpfe in die Tierabfallentsorgung. Die Gewohnheit, das Tier im eigenen Garten oder Blumenkasten zu begraben, indiziert die Ferne des Tierischen zum Menschlichen. Wer schliefe schon im Haus, vor dem Oma, Vater oder Nachbar ewig ruht?

Menschliche Leichen im Garten sind Anzeichen eines Verbrechens, nicht nur, weil das Verscharren von Leichen wegen Grundwasserverschmutzung verboten ist und die verschiedenen Religionen es so gebieten. Die menschlichen Toten sterben nicht einfach. Beim Tier scheinen die Dinge anders zu liegen. Sein Tod ist dem menschlichen entrückt, am Kadaver nimmt der Besitzer keinen Anstoß, vielleicht weil der Übergang vom Organisch-Animalischen zum Organisch-Toten keine solche Zäsur bedeutet wie beim Menschen, vielleicht aber auch, weil schon zu Lebzeiten das Tier dem Besitzer nie richtig gefährlich werden konnte. Jüngst werden Tiere auch privat mumifiziert und als skulpturale Gottheit im Wohnzimmer verehrt, stehen ausgestopft als Jagdtrophäe im Hauseingang oder werden verarbeitet. So fertigte sich eine Frau aus dem Fell ihres verstorbenen Vierbeiners Pullover. Wo keine Seele zum Himmel fahren kann, wird der Körper zwecks emotionaler Vernutzung aufgestrickt.

Die meisten aber wollen ihren Gefährten zu Land, zu Wasser oder in der Luft bestatten lassen, in einer Urne, im Sarg, mit oder ohne Grabstein. Das Vokabular der Tierbestattungsinstitute ist dem der menschlichen ähnlich, nur dass die Konfessionen ein geringere Rolle spielen. Der Trauerwunsch lässt sich mit der Rhetorik der Annoncen aber nicht recht vereinbaren. Wer mag sich von Sätzen wie diesem angesprochen fühlen: »Wir verstehen Tierbestattung in einem Tierkrematorium als Dienstleistung für den trauernden Tierhalter«. Die Ts hämmern noch im Trommelfell, aber »die Atmosphäre in der Reisebegleitungsveranstaltungsgruppe ins ›Regenbogenland‹ ist warmherzig«. Dort darf man daran glauben, »dass das Tier zu einem wunderschönen Ort aufgefahren ist, wo es immer zu fressen und zu trinken hat«. Die Lüge gefällt mir, doch dem G’scherr ist wichtig, dass er der Sonnengott ist. Darum wird dazugeschrieben: »Es gibt nur eine Sache, die sie vermissen, sie sind nicht mit ihren Menschen zusammen, die sie auf der Erde so geliebt haben.« Das Trauern um das Tier ist das Vexierbild des eigenen Geliebt- und Vermisstwerdenwollens.

Das Zauberwort des Totengeschäfts im Tier- wie im Menschenreich ist »persönliche Betreuung«. Betreuung, das ist, wie Dolf Sternberger im »Wörterbuch des Unmenschen« festhält, ein deutsches Wort, das keine Interaktion duldet, den Anderen allein als Objekt kennt. Würde ich meinen Hund bestatten, zahlte ich für 20 kg etwa 150 Euro. Die Urne kostet 100 Euro, ein Ökosarg 160 Euro, 40 Euro müsste ich noch für die Abschiednahme vor der Einäscherung drauflegen. Zum Aufpreis von 50 bis 100 Euro kann man Sofortkremation oder Sondereinäscherung ordern, für den Urnenplatz in Natursteinwand fallen Fixkosten von 120 Euro im Jahr an. Verglichen mit menschlichen Bestattungskosten ist das ein Klacks. Nimmt man die Binsenweisheit »Wie der Herr, so das G’scherr« ernst, kann man davon ausgehen, dass der Herr die Beisetzung so einrichtet, wie er es selbst gern hätte. Bei ihm ist ungewiss, ob einer von ihm Abschied nehmen wird und ob er selbst denn Abschied nehmen will und kann oder einfach weg vom Fenster ist. Solche Fragen, in denen die Angst der Menschen vor ihrer Überflüssigkeit nachklingt, stellen sich beim toten Tier nicht. Es hatte weder menschlichen Willen noch Sprache und trägt nicht den Alb der Menschheit mit sich, ein verpfuschtes, verpasstes, verpatztes, versautes, verelendetes und überflüssiges Leben geführt zu haben. Deshalb darf das Tier im Garten ruhen.

Als mein erstes Haustier starb, ein Meerschweinchen, legte mein Vater den steifen, kalten Kadaver in einen Schuhkarton, bedeckte die dünnen und steifen Füßchen des Tieres mit ein paar Löwenzahnblättern und bettete es unter die hinterste Tanne im Garten. Tränen gab es auch. Mir war es nicht recht, dass Johnny da lag, markiert durch ein Fähnchen, denn ich hatte im letzten Monat kein Wort mit ihm gesprochen und den Stall nicht ausgemistet. Erstickt ist er an einem Kaugummi, den ich fahrlässig hatte liegen lassen. Vielleicht hat mein Vater ihn deshalb dort begraben.

Christiane Ketteler  

 

Unwiederbringlich

Über den Tod kann man eigentlich nicht mehr sagen, als Woody Allen es bereits getan hat: »Ich lehne ihn strikt ab.« Etwas philosophischer steht es bei Adorno: Keine Utopie ohne die der Abschaffung des Todes. Denn der Tod, das stumpfeste und geistloseste, was sich denken lässt, ist Siegel all dessen, was falsch ist: vollendete Absage an Freiheit und Glück, der irreversible Triumph des blinden Ganzen über das zerbrechliche und verletzliche Einzelne. Er sorgt dafür, dass kein Gedanke je ganz ausgeschöpft werden kann und keine Liebe denkbar ist, die nicht irgendwann in Trauer endete. Für das Widervernünftige schlechthin gibt es keine guten Gründe. Die ranzige Weisheit, für Lust brauche es auch Leid, glaubt in Wahrheit niemand; von Auswanderern nach Nordkorea oder in die Sahelzone ist jedenfalls nichts bekannt. Selbst den Religionen, die jeden ärgerlichen Blödsinn zu legitimieren wissen, fällt zum Tod nichts Besseres ein, als dass ein eifersüchtiger Gott nicht wollte, dass seine Geschöpfe einmal werden könnten wie er. Tod ist deshalb stets mit Herrschaft im Bunde. Keine Macht, die auf die ultimative Drohung verzichten könnte: Die trübe Unausweichlichkeit des Sterbens lehrt die Subjekte, dass vom Leben nicht mehr zu erwarten ist als das immergleiche Elend.

Noch der Erfolg der bürgerlichen Gesellschaft beruht auf der archaischen Angst vorm Verhungern. Zugleich neutralisiert sie diese Angst, indem sie den Tod zum Verwaltungsgegenstand erklärt: Fürs Sterben ist – von den Patientenverfügungen bis zum Erbrecht – gesorgt. Lebensversicherungen, Bestattungsunternehmen, Krankenhauspersonal und die Bioethikexperten, die festlegen, wann ein Mensch als hirntot zu gelten hat (und als Organspender dienen kann), sorgen für einen reibungslosen Ablauf, und die staatliche Einzel- und Massenproduktion hat, was Herstellung, Transport und Beseitigung von Leichen angeht, zahllose Verfahren zur Vereinfachung des Vorgangs entwickelt.

Gerade als enteigneter und verdinglichter erzeugt der Tod jedoch eine eigene, auf Angstlust beruhende Faszination. Wo der Fortschritt einmal das Neue verheißen hat und doch nur den ewigen Zyklus von birth, school, work, death fortzusetzen vermochte, gewinnt dessen Ende am Ende selbst den Thrill des ganz Anderen, der das Subjekt aus der Routine reißt und endlich Abwechslung verspricht. Der autoritäre Charakter, schreibt Terry Eagleton in »After Theory«, verehrt den Tod als sinnstiftende Instanz, die alle Zweifel beseitigt und keine Differenzen übrig­lässt – und fürchtet ihn doch zugleich als das schlechthin Kontingente, das sich seinem Willen nicht unterwerfen lässt. Der faschistische (oder islamistische) Todeskult ist daher immer auch ein Abwehrzauber: Der monströse Kitsch, die Entwürfe für die Ewigkeit, die Phantasmen vom Tausendjährigen Reich und der zeitlosen Umma zielen auf nichts weniger als die mörderische Stillstellung von Geschichte. Erst wenn alles Ephemere und Vergängliche gebannt ist, ist das Subjekt vor dem Tod sicher – und ihm zugleich vollkommen verfallen.

In der falschen Gesellschaft, heißt das, wird selbst die Utopie von der Abschaffung des Todes falsch: Deren schlechte Verwirklichung – Verewigung durch Versteinerung – ist von allumfassender Mortifikation nicht mehr zu unterscheiden. Die Sehnsucht nach Unsterblichkeit gerät zur narzisstischen Horrorshow von der eigenen Unabkömmlichkeit, vorgelebt von jenen verhärteten Alten, vor denen selbst Gevatter Hein zurückschreckt. Selbsterhaltung um jeden Preis heißt, über Leichen zu gehen; nur dann spürt man, dass man selber noch nicht dazugehört. Je mehr das Leben nämlich auf Überleben reduziert wird, desto weniger können die Menschen sich dessen gewiss sein; und desto verzweifelter müssen sie sich an es klammern, weil sie nichts anderes haben. Widerstand gegen den Tod hieße, das Leben, eben weil es, wie Brecht sagt, »wenig ist«, nicht von ihm diktieren zu lassen – in der Hoffnung, einer Menschheit, die sich nicht mehr ständig wappnen muss, könne dereinst die Endlichkeit des Individuellen als Kostbarkeit des Unwiederbringlichen zufallen.

Lars Quadfasel

Lars Quadfasel ist Mitglied der Gruppe Les Madeleines, deren Thesen zu einem materialistischen Begriff des Todes in der nächsten Ausgabe des »Extrablatts« erscheinen werden.  

 

Weder noch

Die erste prägende Begegnung mit dem Tod ist für einen Rheinländer oft das Innere einer katholischen Kirche. Dort betet man einen gestorbenen Mann an, trinkt sein Blut und isst sein Fleisch. Letzteres eher symbolisch in Form eines pappigen Backwerks. Das ist eine erste Versicherung dafür, dass man nach dem eigenen Tod in den Himmel kommt. Es sei denn, man hat was angestellt. Dann schmort man erstmal im Fegefeuer, die Verwaltung sieht dann weiter. Schöne Aussichten.

Das bringt einen gleich am Beginn des Lebens zum Nachdenken. Ich muss sterben. Wann? Warum? Wie der Mann, der in der Kirche hängt? Der wiederaufersteht? Den Rest der Zeit kann man auf die Antwort warten. Mindesthaltbarkeit Fehlanzeige.

Ohne Religion wird der Tod mehr, mit Religion nicht weniger. Bei so schönen Aussichten lohnt es sich natürlich, zu sterben. Allerdings hat die Natur das etwas anstrengend eingerichtet. Sterben kann eine ziemlich extreme Extremsportart sein. Es ist unbequem.

Vielen Religionen zufolge ist der Tod nicht wünschenswert. Mancherorts umfasst das Leben auch ihn, weil es eine Schlange ist, die sich in den Schwanz beißt. Areligiös betrachtet ist man möglicherweise länger tot als lebendig. Wer stirbt, zerfällt zu Staub. Und bleibt auch erst Mal eine Weile so. Schaut man ins Weltall, begegnet einem nach heutigem Stand des Wissens eher tote als belebte, vielleicht sogar dunkle Materie. Die Erde dürfte von mehr Leichen als Lebendigen bevölkert sein.

Aber was wissen wir schon. Ideologien, Politik, Sexualität und Lottogewinne helfen an dieser Stelle nur wenig. Manchmal sterben ja auch nur Einzelteile. Hat der Tod auch sein Gutes? »Ich muss dann morgens wenigstens nicht mehr aufstehen«, spekuliert mein Nachbar Heini. Der weiß, was er den ganzen Tag macht – er ist Grundschullehrer im Problembezirk.

Dass er recht hat, ist noch nicht ausgemacht. Georg Büchner, der ein waches Auge auf die unteren Klassen warf, lässt Woyzeck sagen: »Wir arme Leut … Ich glaub, wenn wir in den Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.« Das Thema Tod in Verbindung mit Arbeit ist in Deutschland wahrlich erschöpfend durchgenommen worden.

Die Wissenschaft zielt – Tod dem Tod – auf seine Abschaffung ab. Und zögert ihn hinaus! Beim Sterben soll’s ja Fortschritte geben, hört man.

Nicht geboren zu sein wäre womöglich weniger unterhaltsam. Wenn man wie unsereins eine lebensbedrohliche Krankheit hat, weiß man den Tod hin und wieder zu schätzen. Er macht dann sozusagen das Leben aus. Und steigert seinen Wert Tag für Tag, weil es ja wahrscheinlich immer weniger wird. Lasst uns gutes Futter sein: So steht das jedenfalls in den vielen Mutmach-Büchern.

Man würde es gerne glauben. Weder ist der Tod wünschenswert, noch ist es wünschenswert, ihn abzuschaffen. Wer hat sich das bloß einfallen lassen.

Jürgen Kiontke  

 

Genosse Tod

Im Märchen vom Gevatter Tod lehnt ein armer Mann, der »Tag und Nacht arbeiten« muss, Gott als Paten für seinen Sohn ab, denn: »Du gibst dem Reichen und lässest den Armen hungern.« Auch der Teufel kann den Mann nicht überzeugen: »Du betrügst und verführst die Menschen.« Erst der Tod wird als Gevatter akzeptiert, denn der spricht zu ihm: »Ich bin der Tod, der alle gleich macht.« Auch in der realen Welt hat den Tod als sozialen Gleichmacher bisher niemand übertroffen. Und da das Ziel der Kommunisten unter anderem die soziale Gleichheit ist, kann man sich eigentlich keinen konsequenteren Kommunisten als den Tod denken.

Insofern ist seine Abschaffung natürlich nicht erwünscht. Man stelle sich nur vor, alle Ausbeuter und Potentaten vergangener Zeiten würden ewig leben. Wie viel Zeit hätten sie gehabt, um ihre Macht zu zementieren, und wie viel, ihren zusammengeraubten Reichtum zu genießen. Was würde heute Marcus Licinius Crassus machen und welche Position hätte er wohl inne, hätte ihn im Jahre 53 vor Christus nicht unser Genosse Tod für immer vom Pferd geholt? Und wäre unser Leben überhaupt auszuhalten, wüssten wir nicht haargenau, dass es jeden Tyrannen, Sklaventreiber und Idioten eines nicht allzu fernen Tages exakt genauso erwischen wird wie uns selbst?

Okay, ich gebe zu, dass man selbst dran glauben muss, ist eine nicht so angenehme Vorstellung. Aber wahrscheinlich ist das mehr ein psychologisches Problem. Als kleines Kind hatte ich keine große Angst vor dem Tod. Das mag daran liegen, dass es ein Kind kaum schrecken kann, nichts zu sein, weil es für ein Kind noch gar nicht so lange her ist, dass es nichts war. Erst später, wenn man sich an das Leben gewöhnt hat, beginnt man auch an ihm zu hängen. Und damit beginnt die Angst vorm Tod.

Es gibt wahrscheinlich noch einen Grund für diese Angst: Mit zunehmender Lebensdauer nimmt das Vorstellungsvermögen ab. Als Kind malte ich mir jedenfalls für den Fall meines Todes die herrlichsten Alternativen zu meinem aktuellen Leben aus. Ich war mit meinem Gevatter oft in der Höhle, in der »tausend und tausend Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, ­einige groß, andere halbgroß, andere klein«. Hinter dem Lichtermeer vermutete ich eine Art Schlaraffenland, in dem es zuging wie im Mecki-Buch. Manchmal saß im Jenseits auch Gott auf seinem Thron herum und erklärte einem im Detail den Sinn und Zweck des ganzen Lebens. Auch deshalb ging ich abends immer wieder mit dem brennenden Wunsch ins rotgeblümte Bett, ich möge doch in der Nacht sterben. So würde ich am nächsten Tag nicht in die Schule müssen, sondern endlich mal erfahren, was wirklich Sache ist.

Ich würde auch heute noch ganz gerne wissen, was da auf der anderen Seite passiert. Es mag ja sein, dass es gar nichts ist. Für einen skeptischen Menschen wie mich aber ist das längst nicht ausgemacht. Vielleicht landet man ja nach seinem Tod in einem Paralleluniversum, in dem der Kommunismus bereits realisiert wurde. Das sähe ich mir doch zu gerne einmal an. Bestimmt geht es dort tatsächlich zu wie im Mecki-Buch. Unsterblichkeit jedoch beraubte mich dieser Chance, weshalb ich auch gerne auf sie verzichte.

Wenn aber einer käme und mir anböte, mein jetziges Leben bei anhaltender Gesundheit um etwa 1 000 Jahre zu verlängern, schlüge ich wohl in den Handel ein. Im Moment ist doch wirklich alles noch höllisch interessant. Außerdem habe ich noch ein paar Dinge zu erledigen, die kaum in die viel zu knapp bemessene Zeit zu packen sind, die mir nach menschlichem Ermessen noch bleibt. Vielleicht können in der Zwischenzeit erst einmal ein paar andere sterben?

Christian Y. Schmidt

Mehr über den Genossen Tod in Christian Y. Schmidts Buch »Zum ersten Mal tot. Achtzehn Premieren«, das 2010 in der Edition Tiamat erschienen ist.  

 

Tu es nicht, Dave

Die Sterblichkeit des Menschen prägt unsere Kultur in vielerlei Weise. Sie wird zum Beispiel im Obersatz des bekanntesten Syllogismus konstatiert: »Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.« Es ist daher kaum zu viel gesagt, dass der Tod den Grundstein für die gesamte Logik gelegt hat. Die menschliche Vergänglichkeit hat über die Jahrtausende hinweg immer wieder ambitionierten Individuen oder Gruppen als Inspiration gedient – für Begräbnisriten und Kunstwerke, vor allem aber für eine schier unerschöpfliche und teilweise hochentwickelte Kultur von Mord und Totschlag. Wenn Gott nicht gewollt hätte, dass wir uns gegenseitig umbringen, hätte er uns ja schließlich mehr wie diese unkaputtbaren Colaflaschen konstruiert. Und sicherlich verbirgt sich ein tieferer Sinn hinter der Tatsache, dass diese viel schlechter als Mordinstrument geeignet sind als ihre zerbrechlichen Gegenstücke aus Glas.

Der Tod scheint die Menschen intellektuell zu überfordern. Wenn etwa jemand nach materiellen Gütern strebt, hält man ihm gern entgegen, diese könne er nicht mit ins Grab nehmen. Das ist nicht korrekt. In der Tat lassen sich ausschließlich materielle Güter mit ins Grab nehmen. Dagegen einen reichen Schatz an Erinnerungen und Erfahrungen, Bildung, einen guten Charakter oder die Liebe der Mitmenschen – was will man damit im Angesicht des Todes anfangen? All das ist unwiederbringlich verloren, sobald das Gehirn seinen Betrieb einstellt.

Wenn man sowieso unvermeidlich dem Tode entgegengeht, ist es dann nicht vernünftig, ein schlechter Mensch zu sein, schon damit das Ableben keinen Verlust für die Hinterbliebenen darstellt? Und sollten wir, da wir sterben müssen, uns nicht redlich bemühen, den Tod auch zu verdienen? Das Problem ist nur, auch wenn die Menschen das Leben so gestalten, dass man wahrlich froh wäre, es endlich hinter sich zu haben, wird es selbst dafür zu spät sein, wenn man erst einmal tot ist.

Der Mensch kommt ohne Sinn und Verstand auf die Welt, nachdem er ohne Sinn und Verstand gezeugt wurde, um ohne Sinn und Verstand sein kurzes Leben zu fristen, das er in den meisten Fällen hauptsächlich dafür nutzt, sicherzustellen, dass niemandes Dasein weniger erbärmlich sein möge als das eigene. Und dann hält er sich für tiefsinnig, wenn er behauptet, das Leben müsse endlich sein, um Bedeutung zu haben. Als diktierten die ehernen Gesetze der Betriebswirtschaftslehre, dass nur begrenzte Ressourcen von Wert seien. Das ist natürlich Blödsinn, die Wahrheit ist: Der Tod gehört überwunden, an und für sich handelt es sich um eine Riesensauerei beim Tod. Es gibt nicht viele Einsichten, die sich dem Christentum zuschreiben lassen – diese ist einer der besseren Kandidaten. Nur, wie den Tod überwinden? Darauf haben die Christen natürlich keine brauchbare Antwort. Aber es bleibt ja ohnehin die Frage, ob wir wirklich ewig leben wollten angesichts einer Menschheit, die keines anderen Fortschritts fähig scheint als dessen, ihre tausend Methoden des Mords und Totschlags durch ebenso viele Formen der Folter zu ersetzen?

Leider wird man bei nüchterner Betrachtung dem selbsternannten Antichristen Nietzsche zustimmen müssen, der auch vom Menschen selbst behauptete, er müsse überwunden werden. Ich hoffe daher, dass es der Menschheit früher oder später gelingt, eine unsterbliche Maschinenintelligenz zu schaffen, die eines würdigeren Daseins fähig ist als ihre unvollkommenen Schöpfer.

Oliver Schott  

 

Der letzte Mensch

Der Kommunismus bezog seine Attraktivität aus einem erzählerischen Kunstgriff: Er machte aus dem ersten Buch Mose das letzte Kapitel der menschlichen Geschichte, versah diese also mit einem Happy End statt, wie es die Bibel realistischer vorstellt, mit der Apokalypse. Allein dieses Manöver weckt Zweifel, ob es sich beim Kommunismus tatsächlich um eine Utopie oder nicht doch um eine Eschatologie handelt. Immerhin blieb dadurch seine Beziehung zum menschlichen Fortschritt ambivalent, denn mit jedem Schritt nach vorne, ans Ende, will er insgeheim zurück an den säkularisierten Anfang.

Als der Tod in die Welt kam, war er als ein Ergebnis der Sünde zugleich die bitterste Frucht der Freiheit des Menschen. Die Abschaffung des Todes bedeutete, ihn dieser Frucht ebenso wie der Fähigkeit zur Erkenntnis zu berauben, sie verwirklichte nicht die ewige Seligkeit, sondern die Verewigung der Unfreiheit. Dann bezahlte der Mensch seine Unsterblichkeit mit der Ewigkeit des Jochs. Was als theologische Idee eine Verheißung war, wandelt sich in eine Drohung. Keine Utopie, die sich nicht flugs in ein Schreckensszenario verkehrte, sobald man ihre Konsequenzen bedenkt.

Mittlerweile hat die Idee der Abschaffung des Todes ihren utopischen Glutkern verloren und wird, als technisch-wissenschaftliche Maßnahme, von den Transhumanisten längst ins Auge gefasst. Obwohl keine Theologie für das Unrecht des Todes je eine Rechtfertigung gefunden hat, die mehr wäre als eine Schutzbehauptung, fiele seine durch wissenschaftliches Verfahren bewerkstelligte Abschaffung keiner erlösten Menschheit zu, sondern bereitete einer Spezies den Boden, die, gefangen zwischen der Gnadenlosigkeit und der Banalität ihrer Ewigkeit, ihrer selbst überdrüssig, auch noch die letzte Eigenschaft vernichtete, die den Menschen über ein bloßes Exemplar seiner Gattung erhebt: die der Trauer. Eine Menschheit, die das Vermögen der Trauer nicht mehr kennt, wäre ihrer Konstitution nach derart verkümmert, dass sie der Erlösung gar nicht mehr bedürfte. Der durch wissenschaftlichen Fortschritt abgeschaffte Tod exekutierte eine höhnische Parodie auf alle bisherige Vorstellung von Erlösung.

Überhaupt hat eine Menschheit, die es im Laufe ihrer Geschichte nicht vermocht hat, sich anders denn als Massenracket in der Natur zu bestimmen, wenig Grund, den Tod als metaphysisches Unrecht zu brandmarken. Der Tod ist vielmehr Sachwalter einer Menschheit, die ihren Fortbestand stets durch die Liquidierung des Einzelnen reproduziert. Nur der Einzelne ist imstande, den Tod zu beklagen, während er als Conditio Humana, als Gattungsschicksal, die Menschheit kalt lässt.

Die Frage nach dem Verhältnis, das eine frei gewordene Menschheit zum Tode unterhielte, bekommt angesichts einer Wirklichkeit, die keine Vorstellung menschlichen Glücks mehr zulässt, etwas Phantastisches. Selbst die Lockvögel der Warenwelt, die Models, verströmen jenen Kältehauch des Todes, der noch von dem neuesten ihrer Produkte ausgeht. Die Bilder der Models lösen keine Sehnsucht mehr aus, an sie heftet sich kein Begehren. Der Einswerdung mit dem anderen müssen sie entsagen, weil ihnen jeder Akt der Erkenntnis missrät – nicht, weil sie dumm wären, aber weil sie sich mit Haut und Haaren ihren Auftraggebern und deren Prinzip, das eines des Tausches, nicht des Dankes ist, verschrieben haben. Mit ihnen wird eine neue Spezies des Weiblichen erschaffen, Unberührbare im doppelten Wortsinn, die kein sinnliches Glück mehr verheißt und dem Todestrieb als dem einzigen Trieb, den sie erweckt, zur Herrschaft verhilft, demselben, dem die Warenbesitzer in ihrem Dasein ohnehin huldigen.

Es steht zu befürchten, dass die vom Tod ­befreite Menschheit nicht dem Verein freier Menschen gliche, sondern zuhauf jenen Typus hervorbrächte, den Nietzsche mit seiner Horrorvorstellung vom letzten Menschen beschrieb, der am längsten lebt.

Carl Wiemer  

 

Ars moriendi, »Six Feet Under« und der Ekel vorm Aas

In memoriam Ulrich Klarholz 1959-1995

In das Prokrustesbett der Spektakelgesellschaft ist ein Todesnarrativ eingelassen, das sich über die Bedingungen der Möglichkeit des Sterbens im post mortem-Zirkus ebenso auslässt wie übers nach wie vor heillose, praktische Verrecken selbst. Den Lesenden unter den Sterbenden empfehlen sich thanatologische Reflexionen von Heideggers »Sein und Zeit« über die Kritische Theorie als Vanitasmotiv bis zum Vorübergehen der Ewigkeit bei Proust, Joyce, Nabokov und Borges.

Serienjunkies mit Interesse für Endlichkeitsbewältigungsstrategien schwören auf »Six Feet Under«, die mediale Wiedergeburt der lukianschen »Totengespräche«, ebenso unterhaltsam, belehrend und kathartisch. Dadurch allerdings, dass der Tod dort bekannt ist wie ein bunter Hund, ist er noch nicht erkannt. Als negatives Hypokeimenon steht er fest und gerade und im Hintergrund, blut- und glutvoll rauschend wie der Mond am Firmament.

Das Leben ist die virtuelle Abschaffung des Todes; es selbst gilt nur als unendlich währendes. Tod ist nicht alltäglicher Alltagstod, seine Autorität nährt Dumme wie Weise, TV-Abhängige wie Internetverweigerer, working poor wie wohlhabende Klassenbewusste. Nährt diese und andere mit Angst, Gesprächsstoff, Demut und klammen Hoffnungen. Dem einen genügt der Bierdeckel als Epitaph, dem anderen reicht kaum die alexandrinische Bibliothek. Solche Geister scheiden sich daran, ob die Schöpfung in toto ein Unfall sei oder der Tod nur ein Unfall der Schöpfung. Ihr je eigener ist der einzige Film, in dem sie einen Cameo-Auftritt haben werden.

»Taedium vitae« übersetzen junge Amokläufer in Deutschland heute mit S. A. A. R. T.: Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod, nehmen Anstoß daran, überspringen die ersten vier Module, um sich gleich dem erlösenden Abgrund des letzten zu überantworten. Das präformierte Leben widert sie an wie die Generationen vor ihnen. Hoffnung und Zukunft sind ihnen keine kalkulierbaren Ressourcen mehr; die Prozessordnung des Lebens erkennen sie nicht an, sondern richten sich, ehe sie gerichtet werden können. Religion, auch die des Kapitalismus, taugt ihnen nicht mehr zum Sedativ, denn sie ahnen, dass Frömmigkeit heute nur noch Blasphemie sein kann. Todesjünger, Gassenengel, die sie sind, erzwingen sie die Parusie des Todes in der Gosse.

Sterbenswörter, phonetisch (Coda): »Krepieren«, »verrecken«, »abkratzen«- die onomatopoetische Glasur dieser Verben verheißt bereits Ungutes, Beschämendes. Sie klingen ohrenbetäubend ihrer Rohheit wegen, als enthielten sie noch vorsprachliche Fermente oder Splitter aus weniger semantisierten Zeitläuften. Könnten sie duften, verbreiteten sie ein Odeur von Aas. Der memento mori-Charakter der Sprache ist im rohen Sprechen vom Tod kassiert.

Ralf Frodermann  

 

Sie kommen wieder

Nur weil man stirbt, muss man noch lange nicht tot sein. Schließlich gibt es diverse Varianten der Existenz als Untoter, eine Abschaffung des Todes ist also nicht notwendig. Sollte man sich am Ende seines Lebens für eine untote Fortexistenz entscheiden, gilt es allerdings einiges zu beachten. Dabei hilft vielleicht die folgende kleine Typologie für das Leben nach dem Sterben:

Vampire: Empfehlenswert. Vampire besitzen einen regenerativen Körper, haben übernatürliche Kräfte, können Gedanken lesen und fliegen. Allein die Nahrungsaufnahme bringt Unbequemlichkeiten mit sich, denn Vampire müssen regelmäßig essen (d. h. trinken), sonst werden sie kraft- und hilflos. Ungeeignet für Vegetarier, für alle, die Sonnenaufgänge lieben oder unter Höhenangst leiden.

Zombies: Bedingt empfehlenswert. Zombies sind die Slow-Food-Bewegung unter den Un­toten. Als äußerst soziale Wesen, in deren Gemeinschaft Einigkeit herrscht, sind sie meist damit beschäftigt, ebenso seelenruhig wie zielstrebig gemeinsam zum Abendessen zu wanken. Im Gegensatz zu Vampiren müssen sie nicht essen, sie tun es einfach gerne. Ihre Körper können sich allerdings nicht regenerieren wie bei den Vampiren, was im Laufe der Zeit zur Zersetzung und zum Verlust von Körperteilen führt. Immerhin ist dieser Prozess schmerzfrei.

Mumien: Nur geeignet für Einzelgänger. Zuerst muss man mehrere Jahrtausende auf die Entdeckung durch Forscher warten, um dann in höchst unpraktischer Kleidung einer verlorenen Liebe hinterherzustolpern. (Aber seien wir mal ehrlich: Welcher Typ glaubt denn ernsthaft, er könne eine Frau rumkriegen, indem er sich alte Lappen um den Körper wickelt? Runter mit den Fetzen, danach sehen wir weiter.)

Wiedergänger und Geister: Nicht auf Dauer angelegt, daher uninteressant. Da ihr Zustand nur vorübergehend ist, haben sie kein wirkliches Interesse am Dasein als Untote. Wiedergänger kehren von den Toten zurück, um sich für erlittenes Unrecht zu rächen. Ist das erledigt, sind sie ganz normal tot. Wiedergängern fehlt mitunter auch die Fähigkeit zu körperlicher Manifestation im Hier und Jetzt. Möglicherweise neigen sie deshalb zu schlechter Laune.

Kopflose Reiter: Empfehlenswert, sofern man keinen Wert auf den Besitz des eigenen Kopfes legt. Der kopflose Reiter ist mit den Wiedergängern verwandt, richtet seine Existenz aber nicht allein auf seinen Rachefeldzug aus, sondern ist auch der Ermordung Unschuldiger nicht abgeneigt. Als kopfloser Reiter darf man respektablen Bürgern die Köpfe abschlagen und sie in einem Wald verstecken.

Reitende Leichen: Für religiöse Menschen geeignet. Reitende Leichen sind eine evolutionär höhere Stufe der wandelnden Skelette. Damit gehören sie nicht mehr zu den niederen Untoten, die der Macht eines Schwarzmagiers unterliegen. Sie sind ehemalige Tempelritter, die die Nacht mit religiösen Riten verbringen. Reitende Leichen sind blind, haben aber den Geruchssinn eines Lawinensuchhundes.

Frankensteins Monster: Gar nicht zu empfehlen. Dr. Frankenstein näht seine Monster aus verschiedenen Leichenteilen zusammen, auf deren Zusammensetzung man keinen Einfluss hat. Wer Pech hat, verbringt die Ewigkeit als rechte Arschbacke.

Freddy Krüger: Eine der schönsten Formen des Daseins als Untoter: sich einfach in die Träume junger Frauen einschleichen.

Ahasver: Ebenfalls sehr zu empfehlen. Wer ein Ahasver werden will, muss Jesus verspotten, um daraufhin von ihm verflucht zu werden. Bis zur Apokalypse darf man dann durch alle Länder der Erde wandern und beherrscht stets die jeweilige Landessprache. Begegnet man jemandem, der von sich behauptet, Jesus zu sein, sollte man ihn also auf jeden Fall verspotten. Wahrscheinlich handelt es sich ohnehin um einen Hochstapler. Sollte es allerdings doch der echte sein, ist es sinnvoll, danach möglichst schnell wegzurennen, denn nach derzeitigem Kenntnisstand handelt es sich bei Jesus in seiner heutigen Daseinsform um einen Zombie. Nur wer selbst ein Zombie werden will, sollte sich ihm anschließen.

Eva Schmid

 

Dieser Staat kenne als einziger den Tod nicht, und doch sei er eng mit ihm vertraut: So perfekt dieser Inselstaat ist, er wird von Menschen bewohnt, die auch unter den besten Bedingungen sterblich sind. Den entseelten Körper tragen sie mit heiteren Gesichtern auf einen Friedhof außerhalb der Stadt, wo er ohne pompöse Feierlichkeiten ein Erdgrab erhält. Sie haben sowohl eine gut organisierte Krankenpflege und eine reich ausgestattete Apotheke als auch eine Medizin, deren Grundpfeiler neben Physik, Chemie und Pharmazeutik die Anatomie ist – nicht wie der anatomisch Ungebildete, der sich nicht dafür interessiert, mit welchen Organen er lebt, fühlt, atmet, verdaut, und dem es reicht zu wissen, dass irgend etwas unter seiner Haut geschieht. Mikrorotor, der den gesamten Regulierungsmechanismus mit Hemmung und Os­zillator sowie einer kleinen Sekunde auf der Schwing­masse mit dem Regulierorgan trägt.

Die Vergleiche Aussehen wie der Tod (wie eine Leiche) auf Urlaub oder wie der Tod auf Latschen entstanden erst in neuerer Zeit und entstammen einer ganz anderen Sprachebene, die Ernstes witzig verfremdet und damit lächerlich macht. Die an einer Leipziger Uhr angebrachte mahnende lateinische Devise »Mors certa, hora incerta« (Der Tod ist sicher, die Stunde ungewiss) wird gern übersetzt mit »Todsicher geht die Uhr falsch«. Er ist gut nach dem Tod schicken sagt man von einem Langsamen und Trägen: Er bleibt lange aus. Würde man ihn beauftragen, den Tod zu holen, so bliebe den Zurückbleibenden noch viel Zeit zum Leben.

Die Sonne versinkt im Meer, die Dunkelheit fällt. Die trockene Hitze ist verweht, der Abend ist feucht und kühl, und leuchtend tritt die Zukunft hervor. Eine Lasershow wird auf den Nebel projiziert, den eine Fontäne produziert. Man sieht bunte Figuren, Filmausschnitte. Von oben sieht es aus, als schaue man auf ein riesiges Flugfeld, wo die Zukunft nur noch landen muss. Auf dem Küstenstreifen leuchten Hunderte Laternen, sie markieren die leeren Straßen. Es ist viel Platz hier für weißen Marmor. Irgendwann, wenn ein neuer Tag anbricht, wird man sich wundern über die Träume von einst: Dass wir unsere vermoderten Körper einst wiedererlangen könnten, dann aber strahlend und in einfache Klarheit verwandelt.

Tobias Herold

Von Tobias Herold ist 2011 der Lyrikband »Ausfahrt« im Elfenbein-Verlag erschienen.