In Nigeria wird ein Bürgerkrieg befürchtet

Der unsichtbare Feind

Am ersten Weihnachtsfeiertag verübten Islamisten in Nigeria Anschläge auf mehrere Kirchen. In Teilen des Landes wurde der Ausnahmezustand verhängt. Nach Angriffen auf Muslime wird nun ein Bürgerkrieg befürchtet.

Die offizielle Reaktion ließ einige Tage auf sich warten. Nach den Bombenanschlägen auf christliche Kirchen im Norden und im Zentrum Nigerias, bei denen mehr als 50 Menschen ums Leben gekommen sein sollen, erklärte der nigerianische Präsident Goodluck Jonathan am Silvesterabend den Ausnahmezustand für vier nördliche Bundesstaaten der Republik. Er kündigte zudem an, die islamistische Sekte Boko Haram zu zerschlagen. Doch schon am Mittwoch vergangener Woche verübten die Islamisten einen weiteren Anschlag. Diesmal traf es eine Kirche in Gombe im Nordosten des Landes. Bewaffnete schossen um sich und töteten mindestens sechs Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes, unter ihnen die Frau des Pfarrers. Zehn weitere Menschen wurden verletzt.
Am ersten Weihnachtsfeiertag hatten die Islamisten eine Kirche in Madalla nahe der Hauptstadt Abuja angegriffen. 35 Menschen wurden dabei getötet. Darüber hinaus gab es Anschläge in Jos, Yobe, Damaturu und Gadaka. An den folgenden Tagen wurden die Sicherheitskräfte im Norden des Landes verstärkt und gingen gegen tatsächliche oder vermeintliche Anhänger von Boko Haram vor. Aus der Stadt Damaturu flüchteten BBC zufolge mehr als 90 000 Menschen vor den Gefechten zwischen der Armee und Islamisten. Vermutlich als Vergeltung für die Weihnachtsanschläge verübten Unbekannte am 27. Dezember einen Angriff auf eine Koranschule in Sapele im südlichen Niger-Delta, bei dem sechs Kinder und ein Erwachsener verwundet wurden. Wie die Website thinkafricapress.com meldete, bekannte sich die Egbesu-Bruderschaft, eine bewaffnete Ijaw-Gruppe aus dem Niger-Delta, zu dem Angriff. Ebenfalls in Sapele attackierten am Freitag vergangener Woche einem Bericht der nigerianischen Tageszeitung Vanguard zufolge über 2 000 Jugendliche, bewaffnet mit Äxten und Macheten, Muslime in deren Wohnquartieren. 50 Menschen sollen dabei verletzt worden sein.
Asari Dokubo, ein ehemaliger Anführer einer militanten Gruppe im Niger-Delta und selbst Muslim, sagte, der islamistische Terror könne dazu führen, dass der Süden gegen den muslimischen Norden zu den Waffen greife. »Wir sind nur Sekunden davon entfernt. Nigeria steht am Rande eines Bürgerkrieges«, kommentierte er. Einzig Präsident Jonathan, der wie Dokubo zur Bevölkerungsgruppe der Ijaw aus dem Niger-Delta gehört, halte die Menschen von diesem Schritt ab.

Drei Jahre nach einer großangelegten Offensive der nigerianischen Sicherheitsbehörden gegen die Islamisten von Boko Haram, bei der deren Anführer getötet worden war, zeigt sich, dass das rein militärische Vorgehen gegen die extremistischen Fanatiker diese nicht stoppen kann. Im vergangenen Jahr machte die Sekte, die unter anderem die Sharia in ganz Nigeria einführen will, durch einen Autobombenanschlag auf ein UN-Gebäude von sich reden und griff Märkte und Polizeistationen an. Nach Schätzungen der Neuen Zürcher Zeitung wurden im Jahr 2011 mindestens 500 Menschen Opfer der islamistischen Gewalt. Angesichts der weitverbreiteten Armut und Perspektivlosigkeit der Bevölkerung im Norden des Landes haben die religiösen Eiferer keine Probleme, Nachwuchs für ihre Operationen zu rekrutieren. Als Reaktion auf die Erklärung des Ausnahmezustandes durch die Regierung forderte Boko Haram alle im Norden lebenden Christinnen und Christen auf, den Landesteil in Richtung Süden zu verlassen. Einige Tage nach dem Auslaufen des dreitägigen Ultimatums explodierten in Maiduguri und Damaturu Bomben, durch die jedoch niemand verletzt wurde.
Über die politischen Hintermänner des islamistischen Aufstandes in Nigeria herrscht weiterhin Unklarheit. Im November des vergangenen Jahres nahm die Polizei Ali Sanda Umar Konduga, einen mutmaßlichen Sprecher von Boko Haram, fest, der behauptete, es gebe Unterstützer seiner Gruppe im nigerianischen Senat. Das führte die Ermittlungsbehörden zum Senator Mohammed Ali Ndume, der für die regierende People’s Democratic Party (PDP) im Oberhaus sitzt. Ndume wird beschuldigt, zu führenden Mitgliedern von Boko Haram telefonischen Kontakt gehabt und diese finanziell unterstützt zu haben. Laut Anklage erhielt Ndume vom Sprecher der Islamisten Anfang Oktober Informationen über geplante Anschläge auf Richter und die Nationalversammlung, teilte seine Erkenntnisse jedoch nicht den Behörden mit. Sollten sich die Vorwürfe als zutreffend herausstellen, drohen dem Senator bis zu 20 Jahre Haft. Inzwischen wurde er auf Kaution auf freien Fuß gesetzt.

Verbindungen zwischen militanten Gruppen und hohen Politikern auf nationaler oder regionaler Ebene sind in Nigeria nichts Neues. Im Fall des inzwischen abgeflauten Widerstands gegen die Ölfirmen im Süden des Landes verfügten die bewaffneten Gangs des Niger-Deltas über ihre jeweiligen ideologischen und finanziellen Sponsoren in den Bundesstaaten, die sich hin und wieder dieser Gruppen in Auseinandersetzungen mit politischen Konkurrenten bedienten und vom Öldiebstahl der Aufständischen profitierten.
Doch anders als die Aufständischen im Niger-Delta verfügen die Islamisten im Norden Nigerias nur über verschwindend geringen Rückhalt in der Bevölkerung. Sind die Probleme, die der Sekte immer neue Rekruten zutreiben, auch hausgemacht, bezieht sie ihre militante Ideologie vor allem von internationalen Vorbildern wie den afghanischen Taliban oder al-Qaida. Das macht es den Sicherheitsbehörden schwer, anders als militärisch auf den Terror der Islamisten zu reagieren.
Allerdings kündigt sich nach der neuerlichen Weihnachtsoffensive von Boko Haram eine Veränderung im Umgang mit dem islamistischen Terror in Nigeria an. Informelle Gespräche mit vermeintlich moderaten Vertretern werden nicht mehr ausgeschlossen. Doch mit wem diese Gespräche geführt werden sollen, ist unklar. Über die Struktur der Gruppe ist wenig bekannt und es gibt keine Anführer, die öffentlich in Erscheinung treten. Der dem Präsidenten unterstellte Berater für Nationale Sicherheit, General Owoye Andrew Azazi, sagte in einem Interview mit Reuters, Boko Haram sei ein »unsichtbarer Feind«: »Man hat keine identifizierbare Person, mit der man sprechen könnte.« In den Konflikten im Niger-Delta habe »die Regierung jederzeit jemanden anrufen und sagen können: Wir kommen, um zu sprechen. Doch niemand hat sich öffentlich bekannt und gesagt: Wir sind Boko Haram.« Außerdem hofft die Regierung auf eine Verbesserung der ökonomischen und sozialen Bedingungen im weitgehend agrarisch geprägten Norden. »Jemand, der erfolgreich beschäftigt ist, wird weniger leicht der Gruppe beitreten. Sie sagen, westliche Bildung ist ein Tabu – wenn du zur Schule gehst und keine Arbeit findest, wirst du den Wert von Bildung auch nicht sehen«, kommentierte Azazi.
Dem Terror seine sozialen Grundlagen zu entziehen, wird für die nigerianische Regierung allerdings keine leichte Aufgabe sein. Seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1960 haben sich die Einkommensunterschiede zwischen einer sehr vermögenden Oligarchie und der breiten Masse der Bevölkerung rasant vergrößert. Das Regierungssystem ist geprägt von Klientelwirtschaft und Korruption, die Landwirtschaft und das verarbeitende Gewerbe wurden zugunsten der Rohölförderung sträflich vernachlässigt. Nicht einmal ausreichend Raffinerien gibt es in dem erdölreichen Land, den Großteil seines zu Kraftstoffen weiterverarbeiteten Erdöls muss Nigeria daher wieder importieren. Bislang blieben die Preise im Land wegen hoher Subventionen niedrig. An Neujahr beschloss die Regierung, diese zu streichen, angeblich um stattdessen Investitionen in die Infrastruktur zu ermöglichen und von Korruption im Ölsektor zu vermeiden. Die Entscheidung löste landesweit Proteste aus, Gewerkschaften riefen zu einem Generalstreik auf, der am Montag begann. Die Verdopplung der Kraftstoffpreise als Folge der Streichung der Subventionen belastet insbesondere die arme Bevölkerung. Günstiges Benzin ist in der völlig auf fossile Kraftstoffe ausgerichteten Infrastruktur und Ökonomie ihre einzige Teilhabe am Ölreichtum. Entwicklungsalternativen gibt es kaum. Viele Schulabgänger suchen vergeblich nach einem Job, mit dem sich eine Familie ernähren ließe.
Der Norden ist von all dem besonders hart betroffen. Zwar heißt es immer wieder, dass der ölreiche Süden des Landes die schlechtesten Entwicklungsdaten aufweise, doch das ist vor allem die Propaganda der Politiker aus dem Niger-Delta, die eine höhere Beteiligung an der Ölrendite fordern. Solange sich an diesen Gegebenheiten nichts ändert, wird auch der Terror der Islamisten kein Ende finden. Schon deutet sich an, dass sich das Agieren Boko Harams weiter internationalisiert, und es wird über direkte Verbindungen zwischen der Gruppe und den im Maghreb angesiedelten Anhängern al-Qaidas spekuliert. Wenn sich hier eine feste Zusammenarbeit etablieren sollte, wird auch das militärische Vorgehen des Staates – vielleicht wie im Niger-Delta dann und wann gepaart mit einer Amnestie – das Problem des islamistischen Extremismus nicht lösen können.