Ronen Eidelman im Gespräch über sein Projekt der Gründung eines jüdischen Staates in Thüringen

»Thüringen braucht uns!«

Das von dem israelischen Künstler Ronen Eidelman initiierte Projekt »Medinat Weimar« versteht sich als eine Bewegung zur Gründung eines jüdischen Staates in Thüringen und möchte Lösungen für politische Konflikte und Probleme in Israel und in Thüringen bieten. Eidelman, der in New York geboren wurde, in Weimar studierte und zurzeit in Jaffa lebt, hat bereits mehrere Projektbüros in Museen eröffnet.

Wo liegt für Sie die Grenze zwischen Kunst und Politik?
Die Frage der Grenze ist eine Frage der Selbstbestimmung. Zieht man als Künstler eine deutliche Grenze, sichert man sich durch die Autonomie der Kunst ab, geht aber das Risiko ein, ihr die Effektivität zu nehmen. Der andere Weg ist, sein Ding durchzuziehen und zu sehen, was passiert. So kann Kunst zum politischen Akt werden. Wenn ich jetzt einfach so einen Mülleimer anzünde, kommt sicher die Polizei. Sage ich denen, dass ich hier Kunst mache, werden die mich nach meiner Genehmigung fragen. Tue ich es aber aus Protest, werde ich vermutlich verhaftet.
Ich versuche, mir auf beiden Seiten eine Stellung zu bewahren. Wer auf dem Autonomiestatus der Kunst beharrt, macht ihre Rezeption und Bewertung vorhersehbar. Ich versuche, mir der Grenzverläufe bewusst zu sein, die Grenzen aber gleichzeitig zu verwischen, zu überprüfen und zu erweitern – das ist der Balanceakt, auf den es mir ankommt. Wenn Leute mich fragen, ob das, was ich tue, real ist – und ich stelle mir diese Frage selbst –, dann sage ich: selbstverständlich! Es geht um Imagination. Die ist für die Politik so unabdingbar wie für die Kunst.
Sie fassen Ihr Projekt »Medinat Weimar« in einem Prinzipienkatolog zusammen, in dem Sie Nationalismus neu definieren und jüdische Identität hinterfragen. Was bedeutet Ihnen Jüdischsein persönlich?
Heine etwa hat das Jüdische als Liebe zur Freiheit und zur guten Küche beschrieben. Diese Stichwörter sind für mich ausschlaggebend. Die Frage lässt sich ähnlich beantworten wie Ihre erste: Es geht um Selbstbestimmung bzw. um deren Wahl.
Jüdischsein ist eine Frage der Wahl, nicht der Geburt?
Identität ist immer eine Frage der Wahl, lediglich die Diskussion darüber ist unumgänglich. Identität ist etwas sehr Grundlegendes, man sollte sie nicht hintanstellen. Genauso ist sie aber nichts Statisches. Sie kann als Hilfsmittel dienen, die Zukunft auszurichten, einen gemeinsamen Horizont für uns alle zu finden. Das ist auch ein Argument dafür, dass Israelis und Palästinenser als Volk zusammengehören. Das Judentum hat einen interkulturellen Kern, der solch eine Idee von Identität grundiert. In der Bibel gibt es beispielsweise die Episode um Ruth. Sie begründet ihren Eintritt ins Judentum, indem sie sagt: »Wohin du gehst, werde ich gehen, und wo du bleibst, da bleibe ich auch, dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.«
Die Bibel ist eine wichtige Referenz für Sie?
Es ist immer von Vorteil, zu den Wurzeln zurückzugehen, zu den Quellen der Kultur. Wie Sie sehen, findet sich schon dort eine Absage an die Definition des Jüdischen als Blutsgemeinschaft. Sie kennen bestimmt die Aussage, wonach letztlich der Antisemit definiert, wer ­jüdisch ist? Ich möchte darüber hinausgehen. Ich lese diese vermeintliche Andersheit als ra­dikalisierende Kraft. Bernard Lazare sagte: Werde »bewusster Paria«, ein freiwillig Ausgestoßener. Lazare proklamiert keinen passiven Rückzug aus der Gesellschaft, er spricht vom Juden als signifikantem Anderen, als »Dorn im Arsch«. Eine unbestimmte Negativität kann zur progressiven, gesellschaftlichen Kraft werden. Leider wurde diese Rolle in Deutschland einge­ebnet.
Wie genau meinen Sie das?
Wie Sie wissen, wurden die meisten Juden umgebracht. Es gibt aber sicherlich prominente Persönlichkeiten, die diese Rolle heute noch ausfüllen, auch in Deutschland, etwa Daniel Cohn-Bendit oder Marcel Reich-Ranicki. Auch jemand wie Slavoj Zizek übernimmt diese Rolle und ist sich darüber natürlich im Klaren. Man muss kein Jude sein, um in die Rolle des Juden zu schlüpfen.
Von Zizek stammt die Äußerung, Überidentifikation sei heutzutage letztmögliches Mittel der Kritik. Ließe sich das auch für ihr Projekt »Medinat Weimar« behaupten?
Richtig, Überidentifikation eines Systems oder Diskurses kann dessen versteckte ideologische Kehrseite entlarven. Sie finden dafür wunderbare Beispiele, etwa den antisemitischen Cartoon-Contest, den Eyal Zusman und Amitai Sandy 2006 in Tel Aviv ins Leben riefen, als Reaktion auf Holocaust-Cartoons einer iranischen Zeitung. Oder die »Front Deutscher Äpfel«, eine Antwort auf die Agitation der NPD. »Medinat Weimar« überspielt, irritiert und entlarvt.
Würden Sie sich selbst als Postzionisten beschreiben?
Ich bin weder Postzionist noch Antizionist. Wenn Leute zu mir kommen und mir diese Fragen stellen, sage ich: Ich bin Vorzionist! Ich gehe zurück zu den spirituellen und intellektuellen Anfängen, zur Idee der Emanzipation und zu den radikalen Ansätzen. Herzl selbst wollte eine utopische Gesellschaft aufbauen, dafür sammelte er die Gedanken und Ideen seiner Zeitgenossen. Ich bediene mich vieler Ideen der frühzionistischen Bewegung. Wenn Sie aber Israels heutige Politik als Zionismus bezeichnen, in dem Fall bin ich kein Zionist.
Warum haben Sie sich für Weimar entschieden?
Dafür gibt es zwei Gründe. Einmal ist Weimar Symbol deutscher Kulturgeschichte. Denken Sie an Goethe, Schiller, Bauhaus oder an die Weimarer Republik als den Moment, wo die Anbindung von Juden am stärksten war. Thüringen ist tief verwurzelt in der Geschichte der Juden in Deutschland. Und auf der anderen Seite haben Sie Luther, den Mann, der den deutschen Antisemitismus populär machte. Weimar wurde zu einer von Hitlers Lieblingsstädten. Nur acht Kilometer vom Stadtzentrum entfernt stehen Sie vor Buchenwalds »Jedem das Seine«. Es sind diese Ambivalenzen und Extreme – im Guten wie im Schlechten –, die Weimar als Ort interessant machen. In diesem Sinn ist die Entscheidung für Weimar eine Art Tiqqun.
Beziehen Sie sich mit dem Begriff auf das postsituationistische französische Autorenkollektiv?
Auch dort findet Tiqqun Verwendung. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Kabbala, er besagt, dass die Welt im Schöpfungsprozess zu Bruch gegangen ist und es heute an uns liegt, sie aufzuräumen. Tiqqun steht für Reparatur und Wiedergutmachung. Sehen Sie sich die deutsche Geschichte an, und Sie werden verstehen: Weimar ist der richtige Ort dafür. Es geht aber auch um die pragmatische Seite: Thüringen braucht uns! Weimar ist eine aussterbende Stadt. Ohne Einwanderung sinkt die Anzahl der unter 25jährigen innerhalb der nächsten 15 Jahre dramatisch. Unser Vorschlag ist keine Strafe, sondern ein Lottogewinn! Einwanderer würden das Gebiet bereichern. Wir reden von einer Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Wenn nicht wir den Job erledigen, müssten es Afrikaner, Russen oder andere tun. Mit uns bekommt Thüringen aber einen Querschnitt durch die ganze Welt.
Wer wäre nicht Teil Ihres Staates?
Unsere Gemeinschaft sollte alle einschließen, die sich beteiligen wollen, wir versprechen Akzeptanz. Das werden wir aber verhandeln müssen. In erster Linie geht es darum, die Idee eines jüdischen Staats durchzusetzen.
Was ist mit Neonazis? Sehen Sie die NPD und andere faschistische Gruppen nicht als Gefahr?
Ich denke nicht, dass Neonazis in Thüringen ein größeres Problem darstellen als in anderen Bundesländern. Das eigentliche Problem, die Quelle des Vorurteils, liegt woanders. Leider ist es mit dem Antisemitismus gewissermaßen wie mit dem Alkoholismus: Die Leute werden rückfällig, wann immer es sich anbietet. Momentan aber bin ich optimistisch und hoffe, dass die Dinge blühen und gedeihen.
Die deutsche Erinnerungskultur definiert sich als »Bewältigung« von Vergangenheit – sie formt ihr kulturelles Gedächtnis nach ­einem bestimmten Bild und bleibt dort stehen. Denken Sie, die deutsche Gesellschaft hat ein Problem mit einer jüdischen Kultur, die nicht ins Narrativ einer Opfergruppe passt?
In unserem Werbevideo spricht Edward Freudman aus Wien. Er sagt, »Medinat Weimar« soll nicht nur Antisemitismus, sondern auch Philosemitismus bekämpfen. Im Allgemeinverständnis sind Antisemiten böse, gemein und in der Minderheit. Der gute Rest der Deutschen aber darf sich seit über 60 Jahren herausnehmen, dich als Opfer zu behandeln. Das eigentliche Problem liegt in der imaginierten Fremdheit. Sicher, es gibt kulturelle Unterschiede, aber Fremdheit als Zuschreibung – positiv oder negativ – muss angegangen werden. Mein Eindruck vom deutschen Mainstream war, dass Diskurse um Juden, Muslime, Deutsche, palästinensische Araber usw. extrem beschränkt sind. Meistens ist schon im Vorfeld scharf abgesteckt, was erlaubt ist und was nicht. Leute aus allen politischen Lagern haben Angst, etwas Neues zu sagen. Selbstverständlich werden solche Fragen auch durch Erinnerungsstrategien beeinflusst. Ich denke, es muss heute darum gehen, die Lücken zu nutzen und Fragen anders zu stellen. Viele haben mich ignoriert oder zurückgewiesen, weil »Medinat Weimar« keine Fragen beantwortet. Allein, dass wir projüdisch sind, ja sogar jüdische Nationalisten, ohne den Staat Israel zu unterstützen, das ist den meisten schon zuviel.
Versteht sich ihr Projekt als Alternative zum Staat Israel?
Nein. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein einsames Einzelkind. Ob Rabbi, Psychologe oder guter Freund, jeder wird Ihnen sagen, das Leiden Ihres Kindes verringere sich, sobald das zweite auf die Welt kommt. Gott verhüte, dass Israel kollabiert. Aber stellen Sie sich vor, dieser Fall tritt ein, dann gäbe es einen Plan B! »Medinat Weimar« schreibt sich nicht »anstatt von«, sondern »im Verhältnis zu« auf die Fahnen. Das ist wie in der Kunst: Etwas Zweites zu machen, annulliert noch lang nicht das Erste.
In den vergangenen Monaten konnte man in Israel die größten Sozialproteste in der Geschichte des Landes beobachten. Viele sahen das Ende der Geschichte vor Augen. Funktioniert Ihr Judenstaat nur innerhalb der Grenzen kapitalistischer Marktwirtschaft?
Unsere Bewegung lässt Spielraum für etwas anderes. Kapitalismus widerspricht ja vielen der spirituellen Ansätze, die für das Projekt bestimmend sind. Er konterkariert die Idee eines Staates, wie der Dichter Asher Ginsberg alias Ahad Ha’am ihn sich vorstellte, ein Staat, der auf alle anderen Staaten abgestimmt ist, ein »Licht der Nationen«. Im Kapitalismus kann von einer egalitären und freien Gesellschaft keine Rede sein. Das passt nicht zusammen.
Ihr erster Schritt bestünde aber darin, bereits existierende Strukturen zu übernehmen?
Der erste Schritt besteht darin, die Idee zu bewerben. Das ist schon der halbe Weg. Es ist der Gedanke selbst, der zählt. Jemand hat mir mal erzählt, »Medinat Weimar« erinnere ihn an Afro-Futurismus im Sinne von Sun Ras Kosmophilosophie. Auch diese Bewegung entstand aus einer Krisensituation, ihre Vertreter setzten dort an und kreierten diesen Science-Fiction-artigen Raum. Dadurch brachten sie schwarze Ghettokids ihrer Zeit auf ein komplett anderes Level. Das hat mir geholfen zu verstehen, dass utopische Träume Freiheitsräume ermöglichen, auch wenn sie nicht realisiert werden. Ähnlich ist es mit den zionistischen Jugendbewegungen, die im Holocaust kämpften: Sie mussten nicht nach Israel gehen. Schon durch ihren Kampf waren sie freie Leute. Heute existierende jüdische Gemeinden sind sehr etabliert innerhalb kapitalistischer Staaten. Ich möchte diese Verknüpfung von Kapitalismus und jüdischer Kultur in Frage stellen. Ich sehe mich als Teil des signifikanten Anderen, des »Dorns im Arsch«. Dieses verquere Verhältnis von Kapitalismus und jüdischer Kultur spiegelt sich auf absurde Weise auch in Occupy Wall Street. Ein hoher Prozentsatz der Bewegung ist jüdisch, sie feierten Yom Kippur in den Zelten. Die etablierte Gesellschaft Amerikas versucht aber seit Beginn der Besetzung, die Proteste als antisemitisch zu denunzieren.
Welchen Stellenwert besitzen jüdische Traditionen und Rituale in ihrem Projekt?
Wenn Leute das möchten, keine Frage! Mir persönlich würde das gefallen. Jüdische Ritualkultur einzuführen, müsste ja nicht heißen, den Weimarer Zwiebelmarkt abzuschaffen. Ich erinnere mich an unsere Agitation vor Ort: Auf einem der Schilder stand: »Kosher Bratwurst Now!« Eine Weimarer Bürgerin war empört, sie behauptete, das sei dann aber keine Bratwurst mehr. Diese Art Fragen sind essentiell: Wo liegt die eigentliche Bedeutung der Bratwurst, was ist Kultur in ihrer ursprüglichsten Form? Dort müssen wir ansetzen.
Hatten Sie unerwartet gute oder schlechte Erfahrungen oder Reaktionen während Ihrer Agitation in Weimar oder im Zuge Ihrer aktuellen Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin?
In Weimar waren viele extrem aufgeregt! Besonders Teenagern konnte man ansehen, dass der Gedanke ihren Vorstellungsraum anwachsen ließ – sie träumten plötzlich von einer vielseitigeren Heimat. Dazu trägt natürlich auch die Diversität des Judentums selbst bei, Juden würden wie gesagt aus aller Welt kommen. In kleinerem Maßstab sehen sie diese Utopie schon heute in Berlin verwirklicht. Merrill Nisker alias Peaches ist eine ideale Vertreterin, als kanadische Jüdin verkörpert sie ein neues und queeres Berlin.
Was ist Ihr Ziel für die nächsten fünf Jahre? Haben Sie konkrete Erwartungen?
Ich habe Folgendes erlebt: Als das israelische Parlament im Juli ein Gesetz verabschiedete, das jegliche Form des politischen Boykotts Israels verbot, wuchsen schlagartig die Besucherzahlen unserer Homepage. Im Zuge der Sozialproteste verloren die Leute plötzlich wieder ihr Interesse. Ich hoffe also gewissermaßen, dass sich das Projekt letzten Endes selbst überholt und sich die Lage ganz einfach verbessert. Leider halte ich es für wahrscheinlicher, dass »Medinat Weimar« immer wichtiger wird.
»Weimar, das künftige Jerusalem?«
Podiumsgespräch mit Aktivisten des Komitees »Medinat Weimar«. Jüdisches Museum Berlin, 14. Januar, 15 Uhr