Der »Piratenprozess« in Hamburg

Imperiales Theater in Überlänge

Im Hamburger »Piraten-Prozess« zeigt sich immer deutlicher, dass das Verfahren den komplexen Hintergründen seines ­Gegenstandes nicht gerecht werden kann.

Die Luft im Sitzungssaal des Hamburger Landgerichts ist dick, der Tonfall zwischen den Anwälten und dem Richter gereizt. Viele Bänke im Zuschauerraum sind leer. Ein Anwalt kündigt an, einen weiteren Befangenheitsantrag gegen die Richter zu stellen. Es ist Januar, der Richter Bernd Steinmetz zählt den 66. Verhandlungstag. Die Angeklagten sollen im April 2010 das deutsche Containerschiff »Taipan« am Horn von Afrika gekapert haben, ein niederländisches Kommando befreite das Schiff kurze Zeit später. Seit Herbst 2010 stehen die Angeklagten, darunter auch Jugendliche, wegen des Vorwurfs des erpresserischen Menschenraubs und Angriffs auf den Seeverkehr vor Gericht (siehe Jungle World 48/10 und 31/11). Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft, ihre Untersuchungshaft dauert inzwischen fast zwei Jahre.
Der erste »Piraten-Prozess« in der Bundesrepublik hat, nach anfänglich großem Trubel, seinen Reiz für die Medien verloren. Denn das Verfahren gestaltet sich langwierig und komplex und wirft viele rechtspolitische Fragen auf, etwa welche Strafziele verfolgt werden sollen. Immerhin ist es der Jugendgerichtshilfe zufolge wenig wahrscheinlich, dass die Angeklagten in Hamburg, unter weniger lebensbedrohenden Umständen, straffällig würden. Resozialisierung also? Bloß, in welche Gesellschaft – in die deutsche oder in die somalische? Abschreckung? Oder gar Prävention? Weitere offene Fragen betreffen die Zuständigkeit des Militärs, die Wahrung der Menschenrechte und die Anwendung der deutschen Strafprozessordnung bei Ereignissen auf hoher See, aber auch das Handeln von Menschen in existentiellen Notlagen unter ungleichen globalen Eigentums- und Lebensverhältnissen.

Es erscheint immer zweifelhafter, ob der Prozess der komplexen Sachlage gerecht werden kann. Der Vorgang lasse sich nicht in einem deutschen Gerichtsaal verhandeln, sagten bereits zu Beginn des Prozesses Kritiker wie die Anwältin Gabriele Heinecke. Auch wächst die Sorge, mit dem Prozess solle – insbesondere angesichts des teuren Bundeswehreinsatzes an der Küste Somalias – ein Exempel statuiert werden. In vielerlei Hinsicht scheinen dabei imperiale Herrschaftsverhältnisse eine Rolle zu spielen, die zur Benachteiligung und Herabwürdigung der somalischen Angeklagten führen – etwa durch ein willkürliches, in der Sache unreflektiertes Vorgehen der Staatsanwaltschaft, der Richter, der Pressefotografen und der Altersgutachter.
In dem Prozess geht es im Grunde darum, inwieweit eine Wahrheitsfindung über verschiedene Kontinente, Sprachen, Rechtskulturen und Staatsformen hinweg, zumal angesichts der zerrütteten Verhältnisse in Somalia und der Abschottung der Grenzen Deutschlands, überhaupt möglich ist – und wie gewissenhaft sie vom Gericht betrieben wird. Die Kammer hat bislang fast alle Anträge der Verteidigung zurückgewiesen, etwa auf Einstellung des Verfahrens und auf Haftverschonung oder -entlassung der Jugendlichen. Auch die Ladung von Zeugen der Verteidigung wurde abgelehnt. Es sei ein »erheblicher zeitlicher und organisatorischer Aufwand« damit verbunden, begründete der Richter Anfang Januar diese Entscheidung. Hintergrund ist, dass wichtige Zeugen aus Somalia und Indien keinen Pass und keine Adresse im deutschen Sinne – mit Straßenname und Hausnummer – hätten, dem Gericht zufolge »unauffindbar« seien und womöglich gar kein Einreisevisum erhalten würden.
»Es erstaunt sehr, dass die Kammer alles tut, um Belastendes zu sammeln, aber entlastende Zeugenaussagen nicht zuzulassen«, sagte Anwalt Oliver Wallasch Anfang Dezember im Gerichtsaal. Für ihn stelle sich die Frage, ob die Kammer »ergebnisoffen« vorgeht. »Dass der Angeklagte unschuldig sein könnte, wird kaum mehr gesehen«, so der Pflichtverteidiger. Wallasch hatte für seinen Mandanten erfolglos beantragt, mögliche Entlastungszeugen zu laden und einen Lagebericht des Bundesnachrichtendiensts (BND) einzusehen. Immerhin soll ein Zeuge vor dem strittigen Überfall von seinem Mandanten, einem Hochseefischer, angerufen worden sein: Er und sein Boot seien in der Hand von Piraten; er werde bald freigelassen, wenn er kooperiere. Ansonsten werde er getötet. Das Gespräch sei, so Wallasch, vom BND aufgezeichnet worden.

Nach Auffassung einiger Verteidiger hat sich die Staatsanwaltschaft nicht um die umfassende Aufklärung des Geschehens bemüht. Nun haben sie selbst Zeugen und deren Kontaktdaten ermittelt. Diese sollen bestätigen, dass drei der Angeklagten mit Waffengewalt zur Piraterie gezwungen wurden. »Kein Mensch darf verurteilt werden, wenn – selbst durch einigen Aufwand – seine Unschuld bewiesen werden kann«, so der Anwalt Arne Timmermann, der mittlerweile sogar die Erlaubnis beantragt hat, selbst eine Zeugenvernehmung in Somalia und eine Videoübertragung zu organisieren.
»Es kann nicht sein, dass die Angeklagten aus Somalia hierher verfrachtet werden und ihnen dann ihre Herkunft ständig zum Nachteil gereicht«, sagt Michaela Goedecke von der Gruppe »Kein Mensch ist illegal« in Hamburg, die den Prozess beobachtet. Als Beispiele dafür nennt sie, »dass die Jugendlichen nicht aus der Untersuchungshaft entlassen werden, mit der Begründung, sie hätten hier keine Familie, dass Dokumente aus Somalia nicht anerkannt werden, dass bekannte Entlastungszeugen nicht geladen werden, mit dem Hinweis, sie hätten keine Ausweisdokumente und seien unerreichbar, weil es in Somalia kein Meldewesen gebe«.
Womöglich ist das Landgericht mit der Sache überfordert – die Angeklagten sind es sowieso. Mindestens zwei bekommen seit längerer Zeit Psychopharmaka ohne weitere Behandlung. »Ich kann nicht mehr. Machen Sie Schluss! Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich bin sehr gealtert«, sagte ein junger Mann mit grauen Haaren am 66. Verhandlungstag. Ein anderer, einer der Jüngsten, fügte hinzu: »Bitte verurteilen Sie mich, so schnell es Ihnen möglich ist. Ich bin schon zwei Jahre in Haft. Ich lebe schon nicht mehr. Ich habe schon gesagt, inwieweit ich an der Sache mitgewirkt habe.« Man werde das berücksichtigen, sagte der Richter, wies aber auch darauf hin, dass Haftprüfungen, Befangenheitsanträge und ein ordnungsgemäßes Vorgehen Zeit benötigten.

Mehrere Angeklagte haben bereits ihre Tatbeteiligung gestanden und sich beim Kapitän entschuldigt. Andere haben sich nicht zur Tat geäußert, aber ihre Lebensverhältnisse, etwa als somalische Fischer, geschildert. Sie berichteten von den großen Fangflotten, die das Meer leerfischten, und vom Tsunami, der 2004 viele Boote, Generatoren und Kühlcontainer zerstörte. Sie gaben an, aus finanzieller Not oder aus Angst gehandelt zu haben, etwa weil sie erpresst oder mit Waffengewalt zur Teilnahme an dem Überfall gezwungen worden seien.
Ein Antrag des Verteidigers Tim Burkert betont die Unzumutbarkeit des Prozesses für seinen Angeklagten angesichts der existentiellen Not in Somalia. »Es gehört zur Menschenwürde, dass nicht nur die materielle Existenz, sondern auch die moralische und emotionale Existenz bei jeder staatlichen Handlung berücksichtigt wird.« Eine existentielle Notlage kenne das deutsche Strafrecht zwar nicht, doch Burkert weist darauf hin, dass es Verfahren gegeben habe, in denen die Verurteilungen auf übergesetzliche Rechtsprinzipien gestützt worden seien, etwa in Verfahren gegen NS-Täter, die sich auf nationalsozialistisches Recht berufen hatten. Es finde sich aber keine Rechtssprechung zu der umgekehrten Frage, nämlich »wann gesetzliches Unrecht aus übergesetzlichen Gesichtpunkten heraus nicht gesühnt werden darf«, so Burkert. Sein Antrag wurde – wie fast alle Anträge der Verteidigung – abgelehnt. Diese Aspekte könnten allenfalls beim Strafmaß berücksichtigt werden, so das Gericht. Das Urteil soll im Frühjahr gefällt werden.