Der Streit zwischen Frankreich und der Türkei um den Genozid an den Armeniern

Die Verbrechen der anderen

Die türkische Regierung protestiert gegen ein in Frankreich verabschiedetes Gesetz, das die Leugnung des Völkermords an den Armeniern verbietet.

»Ein Kamel sieht den Höcker des anderen, aber den eigenen vermag es nicht zu sehen«, lautet ein nordafrikanisches Sprichwort. Das gilt auch für Staaten. Gegenseitig halten sie sich ihre jeweiligen Verbrechen vor, um sich selbst dabei tunlichst reinzuwaschen.
Der französische Staat wird in naher Zukunft auf seinem Territorium die Leugnung des Völkermords an den Armeniern, der am 24. April 1915 im Gebiet des damaligen Osmanischen Reichs begann, unter Strafe stellen. So sieht es ein Gesetz vor, das am 22. Dezember von der französischen Nationalversammlung und am Montag voriger Woche auch vom Senat, der zweiten Kammer des französischen Parlaments, verabschiedet wurde. Innerhalb von 14 Tagen sollte es in Kraft treten, nach einer Klage überwiegend konservativer Abgeordneter gegen das Gesetz muss nun das Urteil des Verfassungsgerichts abgewartet werden.
Etwa 25 000 Menschen meist türkischer Herkunft hatten am Wochenende zuvor in Paris dagegen demonstriert. Es handele sich um »ein diskriminierendes Gesetz«, das eine »rassistische Mentalität Frankreichs« verrate, tobte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan am Dienstag voriger Woche bei seiner wöchentlichen Rede vor Abgeordneten der Regierungspartei AKP.

Das neue Strafgesetz sieht vor, dass »die Leugnung oder das übermäßige Herunterspielen« eines »vom französischen Gesetz anerkannten Völkermordes« künftig strafbar ist. Insbesondere die Frage der Anerkennung ist heikel, denn nicht jeder Genozid des 20. Jahrhundert wird vom französischen Gesetzgeber auch als solcher eingestuft. Seit längerem anerkannt ist die Vernichtung der europäischen Juden. Bereits im Juli 1990 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Leugnung des Holocaust explizit unter Strafe stellt. Die Regierung reagierte damals auf eine spektakuläre antisemitische Friedhofsschändung in Carpentras und die darauf folgenden Auseinandersetzungen. Der Genozid an den Armeniern, der während des Ersten Weltkriegs mit aktiver Beteiligung deutscher Armeeangehöriger begangen worden war, wurde Ende Januar 2001 durch ein Votum des französischen Parlaments als solcher anerkannt.
Doch mit anderen Verbrechen, die als Genozid eingestuft werden können, hat sich die französische Legislative nicht befasst. Da die Leugnung des Holocaust ohnehin seit über 20 Jahren unter Strafe steht, ist der neue Text de facto ein Einzelfallgesetz. Normalerweise gilt dies in Demokratien mit rechtsstaatlichen Standards als juristisch untragbar, weil gesetzliche Normen grundsätzlich auf eine nicht vorab feststehende Liste von Situationen anwendbar sein müssen.
Das neue Gesetz stellt einzig und allein das Abstreiten der historischen Realität des Völkermords an den Armeniern unter Strafe. Weder der Genozid an den Herero im damaligen Deutsch-Südwestafrika ab 1904 noch der an den Tutsi in Ruanda im Frühjahr und Frühsommer 1994 werden von dem neuen Gesetz erfasst. In Bezug auf den Genozid in Ruanda war nichts anderes zu erwarten angesichts der Tatsache, dass noch lebende und oft noch aktive französische Politiker und Militär­anghörige an diesem Völkermord zumindest indirekt beteiligt waren, dem Untersuchungsbericht einer ruandischen Kommission zufolge (Jungle World, 33/08) sogar direkt. Die Leugnung der wahren Dimensionen dieses Völkermords kam in Frankreich bis vor etwa drei Jahren einer Staatsdoktrin gleich (Jungle World, 3/12). Es ist wesentlich bequemer, die Leugnung eines Völkermords unter Strafe zu stellen, der sich vor mehr als 90 Jahren auf fremdem Staatsgebiet ereignet hat.

Dass die französische Regierung überhaupt ein Gesetz gegen die Leugnung des Genozids an den Armeniern verabschiedet, hat politische Gründe. Ende April und Anfang Mai wird das nächste französische Staatsoberhaupt, im Juni dann das Parlament gewählt. Im Unterschied zu Deutschland leben in Frankreich relativ wenige Staatsbürgerinnen und -bürger türkischer, dafür umso mehr armenischer Herkunft. Nach dem Massenmord kamen viele überlebende Armenierinnen und Armenier auf Schiffen in Marseille an. Im Umland der südfranzösischen Metropole leben noch heute überdurchschnittlich viele Menschen armenischer Herkunft. Es dürfte kein Zufall sein, dass Valérie Boyer, eine Abgeordnete der Regierungspartei UMP für den Bezirk um Marseille, den Gesetzesantrag ins Parlament eingebracht hat.
Offiziell kam der Antrag nicht von der Regierung, doch es war klar, dass diese das Vorhaben unterstützen würde. Präsident Nicolas Sarkozy hatte im Oktober bei einem Besuch in Eriwan, der Hauptstadt der seit dem Zerfall der Sowjetunion unabhängigen Republik Armenien, ein solches Gesetz versprochen. In Armenien wurde dessen Verabschiedung mit Begeisterung aufgenommen. Ein neugeborenes Baby wurde vergangene Woche sogar auf den Vornamen »Sarkozy« getauft. Als weiteres Motiv kam bei einer Reihe von konservativen Abgeordneten sicherlich hinzu, dass sie weitere Hürden gegen einen EU-Beitritt der Türkei errichten möchten. Seit Jahren instrumentalisieren sie daher den Vorwurf des Genozids.

In der Türkei gehört es zur Staatsdoktrin, dass es keinen Genozid an den Armeniern gegeben hat. Man ist bereit anzuerkennen, dass bis zu 500 000 armenische Menschen starben – tatsächlich war die Zahl der Ermordeten wahrscheinlich dreimal so hoch. Bestritten wird jedoch, dass es Vernichtungspläne gegeben habe. Die christliche armenische Minderheit, die zum Kriegsgegner Russland gehalten habe, sei vielmehr zum Opfer der Wirren des Ersten Weltkriegs geworden.
Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan erinnerte auch an Verbrechen der französischen Staatsmacht, um die starken Abwehrreaktionen gegen das französische Gesetze zu begründen. So warf er Frankreich einen »Völkermord« während des Kolonialkriegs in Algerien (1954 bis 1962) vor. Im Algerienkrieg wurden zahlreiche Kriegsverbrechen begangen, Folter gehörte zur Routine und Zivilpersonen wurden massakriert. Eine Absicht, die gesamte Bevölkerung zu vernichten, war in diesem Fall aber tatsächlich nicht nachweisbar.
Von Ruanda schwieg der islamistische Regierungschef entweder aus Unkenntnis oder auch, weil nur wenige Menschen in Ruanda muslimisch sind und deswegen keine symbolische »islamische Solidarität« geübt werden kann. Nationalistische Demonstrierende vor der französischen Botschaft in Ankara verwiesen allerdings nicht nur auf den Algerienkrieg, sondern auch auf die Rolle Frankreichs in Ruanda.
Als Reaktion auf die Annahme des Gesetzestextes in der Nationalversammlung drohte die türkische Regierung mit wirtschaftlichen Sanktionen, einer Einstellung der militärischen Zusammenarbeit und einem Überflugverbot für französische Armeeflugzeuge. Allerdings versuchte Erdogan einer Einschätzung der konservativen Tageszeitung Figaro zufolge, die Situation zu beruhigen. Er behauptete, die Sanktionen sollten nur »Schritt für Schritt« greifen, die Türkei müsse noch »Geduld« zeigen und »die Würde« erfordere es, sich nicht »mit Frankreich herumzuzanken«. Die nationalistische Empörung in den vergangenen Wochen in der Türkei dürfte ebenfalls innenpolitischen Zielen dienen. Dennoch könnte der Streit eine Dynamik entwickeln, die die Beziehungen zwischen den beiden Nato-Mitgliedsstaaten auf längere Sicht beeinträchtigt.