Neues aus der Hirnforschung

Die Gedanken sind frei

Experimente in der Hirnforschung ermöglichen es, durch die Messung von Hirn­aktivitäten Rückschlüsse auf Gehörtes und Gesehenes zu ziehen. Vom Gedankenlesen ist die Forschung jedoch noch weit entfernt.

Seit Magnetresonanztomographen bunte Bilder liefern, die das Gehirn »beim Denken« zeigen, beflügelt die Hirnforschung die Phantasie und die Ängste des Publikums. Überraschende Experimente scheinen den freien Willen in Frage zu stellen, die Werbung träumt von Neuromarketing, das US-Verteidigungsministerium sponsert einen Wettbewerb für wissenschaftliches Gedankenlesen und Philosophen sprechen von einem »Frontalangriff auf unser Selbstverständnis«. Anfang Februar titelte Spiegel Online nun: »Forscher machen Gedanken hörbar«.
Aber was zeigt das Experiment, auf das diese Meldung sich bezieht? Der Forschungsgruppe um Brian Pasley standen für ihre Tests 15 Freiwillige zur Verfügung, die an schwerer Epilepsie litten und denen eine Hirnoperation bevorstand. Ärztinnen und Ärzte hatten ihnen ein Netz von Elektroden direkt auf die Hirnrinde gesetzt, um herauszufinden, wo operiert werden musste.
Die Forscher nutzten diese Gelegenheit, um den Patientinnen und Patienten Wörter und Sätze vorzusprechen und gleichzeitig die Reaktion in einem bestimmten Bereich des Gehirns zu messen, der für die Sprachverarbeitung eine wichtige Rolle spielt. Diese Daten ließen sie von einem Computerprogramm analysieren. Das Programm versuchte, einen Zusammenhang zwischen dem Frequenzbild der gesprochenen Silben und dem Muster der elektrischen Signale an den Elektroden zu finden.

Nachdem die Experimentatoren das Programm mit einigen Wörtern »trainiert« hatten, gingen sie einen Schritt weiter: Nun sollte der Computer aus der Hirnaktivität beim Hören das Gehörte rekonstruieren. Sie spielten den Testpersonen ein Wort vor, das von dem Programm vorher noch nicht analysiert worden war. Aus dem Muster der Elektrodensignale errechnete der Computer nun wieder hörbare Frequenzbilder. Und tatsächlich: Aus den gemessenen elektrischen Signalen ließ sich in etwa rekonstruieren, welches Wort der Patient oder die Patientin gerade gehört hatte. Die korrekte Schlagzeile zu diesem Experiment hätte also heißen müssen: »Forscher machen Gehörtes hörbar.«
Im Internet lassen sich die vom Computer rekonstruierten Wörter nachhören, es klingt alles genuschelt und verzerrt, aber eine Ähnlichkeit ist unverkennbar. Dass sich die Qualität der Rekonstruktion relativ einfach verbessern lässt, ist wahrscheinlich, bereits ein engmaschigeres Elektrodennetz sollte dabei helfen.
Die Forscher hoffen, dass die gleiche Methode auch mit gedachten Wörtern funktioniert. »Es gibt Hinweise darauf, dass beim Hören eines Klangs die gleichen Hirnregionen aktiv werden wie beim Vorstellen eines Klangs«, sagt Pasley. Für Menschen, die wegen einer Krankheit nicht mehr sprechen können, ließe sich dann eine Art Sprachprothese konstruieren. Ein Computer könnte ihre gedachten Sätze hörbar machen.
Können Computer also doch bald unsere Gedanken entschlüsseln? Vielleicht sogar solche, die wir gar nicht aussprechen wollen? Es kommt darauf an, was wir unter »Gedanken« verstehen. Denn aus den Gehirnaktivitäten lässt sich schon längst allerhand »lesen«.
In einem einfachen Experiment am »Center for Advanced Neuroimaging« an der Berliner Charité lässt sich recht zuverlässig voraussagen, ob sich eine Testperson entschließt, mit der rechten oder mit der linken Hand einen Knopf zu drücken – sieben Sekunden bevor der oder die Betreffende überhaupt glaubt, sich entschieden zu haben. Dazu bedarf es noch nicht einmal Elektroden unter der Schädeldecke. Die Testperson muss nur mit ihrem Kopf still in einem Kernspintomographen liegen, einem Gerät, das die meisten inzwischen aus dem Krankenhaus kennen.
In einem anderen Experiment zeigte die gleiche Forschungsgruppe um John-Dylan Haynes den Probandinnen und Probanden im Tomographen Bilder von Autos. Aus den Mustern der Hirnaktivität konnten sie dann mit über siebzigprozentiger Trefferquote vorhersagen, welches Auto die Testperson am liebsten kaufen würde.
An der Universität Kiel entwickelten Sexualmedizinerinnen und -mediziner eine Art Homosexuellentest. Sie zeigten Versuchspersonen erregte weibliche und männliche Genitalien und erkannten unterschiedliche Muster in der Aktivität verschiedener Hirnbereiche je nach sexueller Neigung.
Selbst einen »inneren Film« konnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Berkeley rekonstruieren. Das Verfahren war demjenigen von Pasleys Team recht ähnlich. Das Ergebnis ist noch sehr schemenhaft, aber analog zur jüngsten Erfolgsmeldung könnte man es so zusammenfassen: »Forscher machen Gesehenes sichtbar«.
Bei dem Stand der Forschung kann man sich funktionierendes Neuromarketing oder »Homotests« im Gehirnscanner ausmalen. Der Weg zu einem Apparat, der die Gedanken von Verdächtigen auf der Polizeiwache liest, ist das nicht. Das scheitert allein schon daran, dass die Gehirnaktivitätsmuster individuell verschieden sind. So musste im Experiment von Pasley das Computerprogramm jeweils auf die einzelnen Testpersonen »trainiert« werden, um dann aus den Signalen der Elektroden wieder ein brauchbares Ergebnis zu rekonstruieren.

Außerdem sind die Experimente im »Gedankenlesen« bisher auf spezielle Situationen im Labor zugeschnitten. Zum Beispiel entwickelten Forscherinnen und Forscher um Daniel Langleben an der University of Pennsylvania eine Art Lügendetektor. Sie steckten dazu zwei Spielkarten in einen Umschlag und gaben ihn einer Versuchsperson. Ihr wurde dann im Tomographen liegend eine Reihe von Karten präsentiert. Bei einer der beiden Karten aus dem Umschlag sollte sie leugnen, dass sie sie gesehen hatte, bei der anderen wahrheitsgemäß antworten. Nach einer Trainingsphase konnte das Computerprogramm in 88 Prozent der Fälle richtig zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden. Das klingt interessant, aber nicht wirklich zuverlässig. Man fragt sich, ob die restlichen 12 Prozent anders lügen oder nur die Methode noch nicht ausgereift ist.
Zwei Firmen in den USA versuchen trotzdem, das Verfahren zu vermarkten. Sie bieten ihre Dienste zum Beispiel Angeklagten an, die ihre Unschuld beweisen wollen. So behauptet die Firma »No Lie MRI«, eine Software wie in Langlebens Experiment entwickelt zu haben, und nun mit über neunzigprozentiger Sicherheit Wahrheit von Lüge unterscheiden zu können. Auf ihrer Website sind Gehirne mit roten und blauen Flecken abgebildet. Darunter steht: »Blau = Wahrheit«, »Rot = Lüge«. Die Flecken stehen für eine erhöhte Aktivität in den markierten Bereichen.
Die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit solchen Tests befassen, halten das Angebot für unseriös – unabhängig von rechtlichen oder moralischen Fragen. Die Lügen bezögen sich dann ja auf »komplexe, emotional besetzte Episoden aus dem eigenen Leben«, schreibt Haynes. »Niemand weiß, ob die damit verbundenen Hirnprozesse denen der Spielkartenexperimente überhaupt ähneln.«
Kurz gesagt: Wie man beliebige Gedanken einer beliebigen Person lesen könnte, dafür gibt es bisher keine annähernd realistische Idee. Schon deshalb nicht, weil die Instrumente, mit denen bisher Signale aus dem Gehirn aufgezeichnet werden, immer noch sehr grob sind.
Die beliebteste Messmethode ist die sogenannte funktionelle Magnetresonanztomographie. Sie misst nicht die Aktivität der Nervenzellen, sondern Änderungen der Sauerstoffversorgung im Gehirn. Daraus schließen die Forscherinnen und Forscher, in welchem Gehirnareal es zu einer verstärkten Aktivität kommt. Das Gehirn wird dazu in kleine Quader aufgeteilt, typischerweise zehn Kubikmillimeter groß. Ein Kubikmillimeter Großhirnrinde enthält etwa 40 000 Neuronen und gut 800 000 000 synaptische Kontakte. Und diese synaptischen Verschaltungen können wiederum verschiedene Zustände annehmen.
Bei der bisherigen Art des Gedankenlesens wird nicht berücksichtigt, wie ein Gedanke in diesem neuronalen Netz entsteht. Das Gehirn wird als eine Ansammlung von leuchtenden Würfeln behandelt. Das Vorgehen ist vergleichbar mit dem eines Soziologen, der aus 100 Metern Entfernung jede Stunde ein Foto eines Hochhauses macht und dann aus dem An- und Ausgehen der Lichter hinter den Fenstern etwas über die Lebensgewohnheiten der Bewohnerinnen und Bewohner herausfinden will. Wenn er lange genug beobachtet, wird er aus dem Muster Wochenenden von Werktagen unterscheiden können.
Wie jeder Vergleich hat auch dieser seine Grenzen. Denn in dem Leuchtkörpermodell des Gehirns lassen sich erstaunlich viele, stark verpixelte Muster finden, die mit bestimmten Denkprozessen korrelieren. Und je besser die Auflösung der Geräte wird, desto mehr solcher »neuronaler Korrelate« werden die Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aufspüren. Die Forscherinnen und Forscher werden also auch in nächster Zeit noch allerhand Fortschritte bei der Interpretation der Signale aus dem Gehirn melden.
Vielleicht wird manches Experiment gängige Vorstellungen über unser Denken in Frage stellen. Aber auf absehbare Zeit muss niemand Angst vor der totalen Gedankenüberwachung haben. Und wer nicht an einen vom Körper unabhängigen Geist glaubt, hat keinen Grund beleidigt zu sein, wenn Forscherinnen und Forscher »neuronale Korrelate« für bewusste und unbewusste Hirnleistungen entdecken. Eher ist es eine Beleidigung vernünftiger Gedanken, schon das Hörbarmachen von Gehörtem als »Gedankenlesen« zu bezeichnen.