Israels Skepsis ist berechtigt

Gefährliche Phase

In Israel wurde der »Arabische Frühling« mit Skepsis verfolgt. Zu Recht, wie sich mittlerweile gezeigt hat.

Als Benjamin Netanyahu Mitte Februar auf der Konferenz der Präsidenten großer jüdischer amerikanischer Organisationen in Jerusalem eine Rede hielt, rückte er den »Arabischen Frühling« und dessen Bedeutung für Israel in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. »Ich glaube«, sagte der israelische Ministerpräsident, »Optimismus bedeutet, realistisch zu sein und die Dinge so zu benennen, wie sie sind.« Man habe die Geschehnisse in den verschiedenen arabischen Ländern nüchtern betrachtet und sich gesagt: »Vielleicht setzt sich die ›Google-Generation‹ durch, vielleicht geht das Ganze aber auch in eine islamistische Richtung. Im Großen und Ganzen ist letzteres der Fall.« Dadurch sei die Sicherheit Israels »unter enormen Druck geraten«, resümierte Netanyahu weiter, und das habe Konsequenzen notwendig gemacht: »Die Umwälzungen in unserer Region sind so groß, dass wir erheblich mehr für unsere Verteidigung ausgeben müssen. Und deshalb haben wir unseren Verteidigungshaushalt gerade um etwa 600 Millionen Euro erhöht.«
Diese Maßnahme zeigt vor allem, dass sich Israel letztlich nur auf sich selbst verlässt und verlassen kann – nicht auf seine Verbündeten im Westen und schon gar nicht darauf, dass die Veränderungen im Nahen Osten Entlastung, Sicherheit oder gar Frieden bringen. Als die Aufstände in Tunesien und vor allem in Israels Nachbarstaat Ägypten begannen und sich ausweiteten, sah sich die israelische Regierung teilweise heftiger Kritik ausgesetzt, in Europa und von Seiten libe­raler ägyptischer Aktivisten beispielsweise, aber auch in Israel selbst. Nicht wenige vermissten ein deutliches Zeichen der Solidarität mit den Demonstrierenden und kritisierten vor allem Israels Unterstützung von Hosni Mubarak. Der Sturz arabischer Autokraten, so hieß es vielfach, führe doch zu einer Demokratisierung des Nahen Ostens und müsse daher auch im Sinne Israels sein. Netanyahu aber mochte die Zuversicht, dass die Region sich nun liberalisieren und endlich einen jüdischen Staat in ihrer Mitte akzeptieren würde, nicht teilen. Er wies die Minister seines Kabinetts an, sich mit öffentlichen Äußerungen zurückzuhalten.

In Israel fürchtete man, dass sich der Status quo für das Land nicht nur nicht verbessern, sondern sogar verschlechtern könnte. Dass etwa Mubarak nicht nur ein Diktator war, sondern auch ein veritabler Antisemit ist, war zwar nie ein Geheimnis. Trotzdem hatte er im Interesse des eigenen Machterhalts auf außenpolitische Abenteuer verzichtet, den Friedensvertrag mit Israel nicht angetastet und die Islamisten in Schach gehalten, was ihn für die israelischen Regierungen berechenbar machte und dazu führte, dass es an der israelisch-ägyptischen Grenze jahrzehntelang ruhig blieb. Vor der Unterzeichnung des Friedensvertrages habe »Israel 30 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgegeben, heute sind es nur noch sechs«, bilanzierte Giora Eiland, von 2004 bis 2006 Leiter des nationalen Sicherheitsrats, im Oktober des vergangenen Jahres. »Das konnten wir uns in erster Linie dank des Umstandes leisten, dass Ägypten kein poten­tieller Feind mehr war.« Die daraus resultierende relative Sicherheit war für Israel angesichts der feindseligen, oft kriegerischen Haltung anderer Staaten und Organisationen in der Region ein Gut, das man stets zu schätzen wusste.
Die Umbrüche in Ägypten bergen demgegenüber die Gefahr, dass diese Stabilität schwinden und sich Israel einer weiteren Bedrohung gegenübersehen könnte – insbesondere dann, wenn die säkularen Demonstranten von den erheblich besser organisierten islamistischen Kräften wie der Muslimbruderschaft verdrängt würden. Und tatsächlich waren und sind die Entwicklungen seit dem Beginn des »Arabischen Frühlings« für Israel alles andere als positiv. »Die Halbinsel Sinai, die an Israel und den Gaza-Streifen grenzt, ist zu einer gesetzlosen, von Islamisten beherrschten Region geworden und hat sich zu einem der zentralen Außenposten für den iranischen Waffenschmuggel in den von der Hamas kontrollierten Gaza-Streifen entwickelt«, schrieb der israelische Historiker Benny Morris im November 2011 in der amerikanischen Zeitschrift The National Interest.

Aus dem Gaza-Streifen kamen auch die Attentäter, die Mitte August 2011 im Süden Israels mehrere Terroranschläge verübten, bei denen acht Israelis ums Leben kamen und über 30 verletzt wurden. In Kairo stürmten Tausende Demonstranten im September vergangenen Jahres die israelische Botschaft, Israels diplomatisches Personal musste mit einem Militärflugzeug außer Landes gebracht werden. Bei den ägyptischen Parlamentswahlen erhielten islamistische Parteien wie die Muslimbruderschaft und die Salafisten fast zwei Drittel der Stimmen.
»Ähnliches geschieht in Marokko und Tunesien«, stellte Eldad Beck fest, der Deutschland-Korrespondent der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth. Eine Islamisierung und Hinwendung zur Religion sei überall in der Region festzustellen. »Die Islamisten nutzen die neu gewonnene Freiheit«, so Beck weiter, »und auch, wenn es noch unterschiedliche politische Ansätze gibt, haben sie einen gemeinsamen Nenner: Hass auf Israel.« Die Revolution habe sich ins Gegenteil verkehrt. Nach der Flucht des tunesischen Diktators Ben Ali, dem Sturz Hosni Mubaraks und der Tötung Muammar al-Gaddafis sei eines immer deutlicher geworden: »Die Arabellion wird von den islamistischen Kräften missbraucht.« Und was diese sagten, meinten sie auch: »Der Jihad, der Heilige Krieg, ist nicht Teil der Geschichte der Muslimbruderschaft, sondern vielmehr Gegenwart und Zukunft. Hauptaufgabe aller Muslime sei in diesen Tagen die Befreiung ›ganz Palästinas‹«, urteilt Beck, der im vorigen Jahr während der Revolten als Reporter im Maghreb war.
In diesem Sinne äußerte sich auch Benny Morris: Der »Arabische Frühling« habe »sowohl Islamisierung als auch Chaos gebracht«, wobei die Islamisierung »stark von dem Übergangschaos profitiert«. Die Schwarzmärkte für Waffen seien »überflutet mit Grad-Raketen und relativ fortschrittlichen Flugabwehrraketen«. Israelische Geheimdienstquellen hätten berichtet, »dass viele dieser Waffen ihren Weg über die Sinai-Halbinsel in den Gaza-Streifen gefunden haben«. All diese Entwicklungen deuteten, so Morris weiter, »auf einen Trend im Nahen Osten hin, der weit von dem entfernt ist, was sich viele westliche Idealisten erhofft haben, als sie den Begriff ›Arabischer Frühling‹ prägten«.

Es ist möglich, dass diese Islamisierung nur eine Übergangserscheinung ist, dass die arabischen Gesellschaften also, wie der Leiter des Auslandsressorts der Tageszeitung Die Welt, Clemens Wergin, in seinem Blog »Flatworld« anmerkte, eine »islamistische Phase durchlaufen« müssen, »nachdem ihnen dieser Weg von den Islamisten über Jahrzehnte als der eine Ausweg aus der Krise der arabischen Welt verkauft wurde«, und dass »nur die Entzauberung der Islamisten die Bürger von dieser Illusion befreien« könne. Denkbar wäre zum Beispiel, dass sich die Muslimbrüder angesichts der parlamentarischen Notwendigkeit, Kompromisse einzugehen, heillos zerstreiten. Über ein wirtschaftspolitisches Konzept verfügen sie ohnehin nicht, was sich in der in den Aufstandsländern bevorstehenden Wirtschaftskrise auf dramatische Weise bemerkbar machen dürfte und für neuerliche Proteste sorgen könnte. Doch darauf, dass der »Arabische Frühling« auf lange Sicht auch dem Staat Israel nutzt, kann und will sich die israelische Regierung begreiflicherweise nicht verlassen – zumal der im Nahen Osten durchaus nicht nur bei den Islamisten tief verwurzelte Antisemitismus sich in dem Maße weiter radikalisieren wird, wie sich die wirtschaftliche und soziale Lage verschlechtert.

Zudem sorgt man sich in Israel um die Entwicklung in Syrien, wo immerhin die Gefahr besteht, dass das israelfeindliche, mit dem Iran und der Hamas eng verbundene Assad-Regime nicht etwa durch ein demokratisches System, sondern vielmehr durch eine islamistische Diktatur abgelöst wird, die al-Qaida einen Tummelplatz bietet. Zum anderen bereitet natürlich auch nach wie vor – und immer mehr – der Iran Sorgen. Dort ist der Aufstand des Jahres 2009 zwar vorläufig beendet worden, doch die Machthaber sind deutlich angeschlagen und haben weiter an Legitimität eingebüßt, weshalb ihre Neigung zu außenpolitischen Verzweiflungstaten zunimmt. Und dann sind da noch die Palästinenser, deren Führungen – die Hamas im Gaza-Streifen und die Fatah im Westjordanland – nach wie vor keine Anstalten machen, sich auf eine friedliche Koexistenz mit dem jüdischen Staat einzulassen.
Benjamin Netanyahu rechnete denn auch schon im November 2011 mit jenen ab, die ihm vorgeworfen hatten, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen. »Viele haben mich zu schnellen Konzessionen gedrängt«, sagte er vor der Knesset. »Aber ich werde die israelische Politik nicht auf Illusionen aufbauen, sondern weiterhin auf dem Fundament von Stabilität und Sicherheit – mehr denn je.« Etwas anderes kann Israel sich um des eigenen Überlebens willen auch nicht leisten.