Alles schon dagewesen. Zur Geschichte von Retro als kulturellem

Same same, but different

Gegenwart ohne Ende. Retro und die Abschaffung der Vergangenheit.

»Aber das ist ja alles schon dagewesen.« – »Ja, aber nicht so.« Mit diesem kleinen Dialog beschrieben die Literaturwissenschaftler Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe 1985 die Postmoderne in der Einleitung ihres gleichnamigen Sammelbands. Sie fügten hinzu: »Die Analyse des ›nicht so‹ freilich ist es, die die größten Schwierigkeiten bereitet.« Das wäre auch eine mögliche Definition des aus der Debatte über Postmoderne hervorgegangenen Begriffs des Retro.
Die Achtziger sind das Jahrzehnt, in dem Retro erstmals als Phänomen modischer Wiederholungen diskutiert wird, nämlich als Wiederkehr der Fünfziger und frühen Sechziger: Caprihosen und Pastellfarben, Beat und Rock’n’Roll, Revitalisierung von Ikonen wie Marilyn Monroe (Madonna) oder James Brown (James Brown). Die Neunziger indes entfalteten sich zum Retro-Jahrzehnt schlechthin, in dem erstmals eine auf Wiederholung basierende Kultur wiederholt wird. Seitdem befinden wir uns in der kulturellen Wiederholungsschleife: Heute erleben wir Retro doppelt und dreifach, mindestens als Retro vom Retro, und das Jahre nach der selbst schon müden These von der postmodern gewordenen Postmoderne. Tatsächlich scheint sich heute die Behauptung des Endes der Meta-Erzählungen – eines der zentralen Postulate der Theorie der Postmoderne von Jean-François Lyotard – bewahrheitet zu haben. Kaum noch werden Großthesen über neue Zeitalter und Epochenumbrüche proklamiert, wie es einmal üblich war, von »Generation X« bis zur »Generation @«, und selbst Diagnosen oder Visionen vom »Empire« oder Web 2.0 wirken heute eher banal.

Die Retro-Achtziger und die Retro-Neunziger sind jedenfalls wieder da, die Nuller sind einfach geblieben und auch die Fünfziger, Sechziger und Siebziger waren nie wirklich weg. Ein riesiger Müllberg aus Modulen, Elementen, Dispositiven unterschiedlichster Zeichensysteme schiebt sich so unter dem Universalvorzeichen »Kultur« durch die Gegenwart. Und diese selbst hat ihren »Angriff auf die übrige Zeit«, auf Vergangenheit und Zukunft, längst gewonnen. Das alte Prinzip, wonach die Mode wenigstens den Schein des Neuen, Noch-nie-Dagewesenen oder auch nur Extravaganten wahren muss, ist ausgehebelt. Ob schrille Farben oder gedämpfte Töne jetzt wieder »in« sind, ob lange oder kurze Kleider, ob der Hosenbund über oder unter die Hüfte rutscht, ob alles eng oder »loose fit« getragen wird – alles wirkt gleich, gewohnt und bekannt. Das »anything goes« konvertiert mit dem »rien ne va plus« in der Wahrheit des Retro, so dass sämtliche Überraschung eines Nicht-für-möglich-Gehaltenen suspendiert ist.
Dass Anna Wintour 1988 als Chefredakteurin der Vogue ihr erstes Cover mit der relativ unbekannten Michaela Bercu in einer verwaschenen 50-Dollar-Jeans und einem mit Juwelen geschmückten T-Shirt von Christian Lacroix in Wert von 10 000 Dollar und dem Titel »The real cost of looking good« inszenieren ließ, war schon damals bloß ein kalkulierter Skandal. Heute gehören solche vermeintlich gewagten Kombinationen zum Standardprogramm. Jede weitere Wiederholung schleift die Signifikanz der Restbedeutungen und Sinnrudimente, bis nur noch ein Rauschen übrigbleibt, das allerdings viel zu leise ist, um in irgendeiner Weise auffällig, gar provozierend zu sein.
Gerade dort, wo die moderne Kultur es sogar noch in ihrer postmodernen Phase vermochte, laut, aggressiv und irritierend zu sein – Jazz, Disco, Punk, HipHop, Industrial, sogar Metal –, ist heute nur noch schreckliche Langeweile festzustellen. Immer mehr tritt sie als Charakter des Retros hervor: die Langeweile – deren immanente Verbindung mit der Wiederkehr übrigens schon Walter Benjamin erkannte und auf das 19. Jahrhundert datierte. Er beschrieb dies als Zerfallsprozess eines noch gar nicht wirklich emporgekommenen Bürgertums, und Friedrich Nietzsche war mit seinem Nihilismus und der Idee der ewigen Wiederkunft sein Kronzeuge. Entscheidend blieb bei Benjamin allerdings der Zusammenhang mit der Kritik der politischen Ökonomie. In seinem »Passagen-Werk« notiert er: »Der Gedanke der ewigen Wiederkehr kam auf, als die Bourgeoisie der bevorstehenden Entwicklung der von ihr ins Werk gesetzten Produktionsordnung nicht mehr ins Auge zu blicken wagte.« (GS Bd. V·1, S. 175.) Und: »Die ›ewige Wiederkehr‹ ist die Grundform des urgeschichtlichen, mythischen Bewusstseins. (Es ist wohl eben darum ein mythisches, weil es nicht reflektiert.)« (GS Bd. V·1, S. 177.)
Das heißt zum einen: Die Wiederholung, die sich heute als Retro wiederholt, beschränkt sich auf die Kultur und tangiert mithin überhaupt nicht die sozialen Verhältnisse im Kapitalismus. Die Produktionsordnung verschwindet in ihrer abstrakten Struktur aus dem gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsbereich und wird durch allgegenwärtige Kultur ersetzt. Mit anderen Worten: Während der kapitalistische Realalltag immer brutaler voranschreitet, bleibt die Kultur retardierend auf der Stelle und verspricht unablässig einen Alltag, bei dem alles so bleibt, wie es ist. Ab und zu gibt es neue Kandidaten, die Jury ändert sich, ansonsten bleibt alles, wie Roger Willemsen über Heidi Klums Show »Germany’s Next Topmodel« 2009 bemerkte, eine allgemeine Kultur, welche die »hochgerüstete Belanglosigkeit zum Maßstab humaner Seinserfüllung hochschwindelt«. Benjamin meint zum Zweiten: Die Wiederholung, die sich heute als Retro wiederholt, ist eine in der Haltung der Abgeklärtheit getarnte Gegenaufklärung. Während das Bürgertum auf die Sinnkrise um 1900 mit Verzweiflung reagierte, wird heute das Zusammen- und Wegbrechen identifikationsstiftender Bedeutungssysteme mit einem fröhlichen Defätismus quittiert.

Die Differenzen in den Wiederholungen des Retros bleiben dabei unbedeutend. Dass in den wiederkehrenden oder bleibenden Moden irgendetwas anders ist, also modifiziert wird, kann zwar die Mode zur Mode machen, reicht aber an echte Aktualisierung nicht heran. Im Gegenteil: Je mehr die Retro-Mode auf Novität oder auch Authentizität, auf »realness« und »credibility« setzt, desto unstimmiger oder unsinniger nimmt sich die faktisch-historische Geltung dieser Mode aus. Alles kann zum Potpourri zusammengefügt werden. Im Retro vollzieht sich damit ein grundsätzlicher Bruch mit der Ästhetik, wie sie sich mit dem Aufstieg des Bürgertums in aller Vielfalt entwickelt hat. Sie diente – sei es als Schulung der Wahrnehmung, sei es als Lehre vom Schönen, sei es allgemein als Kunsttheorie – der Stabilisierung des Geschmacks, um mit dem Geschmack wiederum Gesellschaft zu stabilisieren. Diese – letzthin wenigstens Gemeinschaft stiftende – ästhetische Ideologie wird mit dem Fortschreiten des Retro zersetzt. Gerade in der Kunst zeigt sich, dass es ästhetisch wie ideologisch kaum noch Verbindlichkeiten im Geschmack, beziehungsweise Geschmacksurteil, gibt, an denen sich, dem emphatischen Begriff der Kultur gemäß, die Individuen orientieren könnten, beziehungsweise aus dem Zusammenspiel von subjektivem und objektivem Geist sich so etwas wie Zeitgeist bildet. Genau das ist es, was Adorno in Bezug auf den Jazz als zeitlose Mode bezeichnet hat.
Jedenfalls gilt erst heute der berühmte Satz »de gustibus non est disputandum«. Hatte Kant noch übersetzt: »Über den Geschmack lässt sich streiten (obgleich nicht disputieren)«, so hat sich heute auch der Streit über den Geschmack erübrigt. Die Ordnung des eigenen Wohlgefallens nach likes und dislikes ist arbiträr und kann sich kaum noch den Gesetzen des Marktes entziehen. Das Ergebnis ist paradox, nämlich dass Geschmack zu haben, und guten noch dazu, unter dem Vorzeichen des Retro umso leichter fällt. Wo alles vom Sinnüberschuss erfüllt ist, gibt es zwar viel Unsinn, aber tendenziell keinen Nonsens mehr – auf noch die beiläufigste Banalität kann sich der geschmacklose Geschmack applizieren. Im großen Retro-Gemenge kann alles potentiell von irgendjemandem als »gut«, »gut gemacht« oder wenigstens »gut gemeint« goutiert werden.

Retro – das ist die Verselbständigung eines Präfix, aber auch die Verselbständigung von Geschichte und Zeit in der Mode, häufig und zunächst in Kombination mit Vintage und Revival (das Wort rétro etablierte sich im Französischen in den siebziger Jahren und wurde erstmals durch die Adaption des Stils Eva Peróns in der Mode Ende der sechziger Jahre eingeführt.
»Retro« heißt »rückwärts« oder »hinter«. Geläufig ist die Vorsilbe in Wörtern wie »retrograd«, »retroaktiv« oder »retrospektiv«. Retro ist keine wirkliche Bewegung, sondern eine bestimmte Perspektive von der Gegenwart auf die Vergangenheit, nämlich eine Art Nullperspektive. Retro verliert im Laufe der Zeit seine Dimensionen, es ist schließlich nicht einmal mehr Wiederholung eines Schon-einmal-Dagewesenen, sondern bloß dessen banales Zitat: entweder das Zitat ohne Zitatsinn oder die Banalisierung des Zitatsinns durch das Immer-und-immer-wieder-Zitieren (und eben das ist das Retro in der Kultur: das sinnbefreite Immer-und-immer-Wieder). Reste einer Dialektik wirken hier nach. Retro gehört historisch zur Popkultur und schaltet innerhalb dieser die Geschichte ab.
Geschichte heißt, dass Vergangenheit entsteht oder entstehen kann, dass also etwas »war«. Doch schon mit dem Anfang des Pop in den fünfziger Jahren wird deutlich, dass eine solche Vergangenheit nicht mehr sein wird, dass nichts mehr vergeht, was nicht vergehen soll. Das betraf in den Fünfzigern freilich nur ein einziges Jahrzehnt, nämlich die Zwanziger, die als »Goldene Zeit« revitalisiert werden sollten – unter anderem auch, um die Dreißiger und Vierziger vergessen zu machen. Historisch eliminiert wurde die Vergänglichkeit. Retro und der Befund der Posthistorie fallen in diesem Punkt zusammen: Es fehlt der Verlust, der die Bedingung dafür wäre, dass etwas Neues kommt. Es fehlt das faktische Ende, nach dem etwas wirklich Anderes kommen könnte. In der Matrix des Pop wird Retro nunmehr zur Kultur, die nie aufhört. »Alles macht weiter«, heißt es bei Rolf Dieter Brinkmann. »Nichts mehr wird kommen«, hat Ingeborg Bachmann geschrieben.

Das Prinzip ist die Serie, und zum historischen Rest wird die Episode. Vorbild dafür sind die seriellen Verfahren der Massenproduktion: Mode, Alltagskonsum und Massenkunst verschmelzen hierbei zu einer Einheit. Retrokultur wird zum Design der Welt, wie sie ist und auch bleiben soll. Sie ist Synonym mit Reklame. Sie funktioniert allerdings nur, wenn das Design sich auf die Oberflächengestaltung der Produkte beschränkt. Der Überbau wird damit hermetisch vom Unterbau abgeriegelt. Das ist aber erst vollends im Pop möglich, der sich seine kulturellen Existenzbedingungen untergrübe, wenn er mit seinen Mitteln einem anderen Leben Zeit und Raum gäbe als demjenigen, welches die Logik des Kapitals erfordert.
Das Retro realisierte sich darin schließlich total zu dem Zeitpunkt, an dem Pop schlussendlich den Kapitalismus in seiner gesamten Macht und Gewalt schlechterdings als Kultur deklariert hatte, damit aber der Kapitalismus als brutales und lebensbedrohliches Verwertungsverhältnis ausgeblendet wurde.
In diesem Zustand lässt die Kultur des Retro keinen avantgardistischen Eingriff mehr zu, und auch eine klassisch-avantgardistische Strategie wie »Camp« ist, obwohl Retro ja antizipierend, durch die hermetische Perfektion des Retro mittlerweile zu dem geworden, was Susan Sontag in ihren »Notes on Camp« 1964 schon monierte: Camping.
Die Differenzen sind so banal wie die Wiederholungen egal. In der Werbung, die in den letzten Jahren in einer regelrechten Manie von Retrophänomenen zehrte, verblassen bereits die Bilder der Wiederholungen, so wie ohnehin bei den zu bewerbenden Produkten die Differenzen nivelliert werden. Im Retro wird die Welt keineswegs totalitär gleich, sondern demokratisch gleichgültig.
»Aber das ist ja alles schon dagewesen.« – »Ja, aber nicht so.« Huyssen und Scherpe leiteten damit exemplarisch ihr Buch ein, das sie im Untertitel »Zeichen eines kulturellen Wandels« nannten. Ihr Minimaldialog taugt als Definition für Retro. Was Retro dann aber doch, bei allem diagnostizierbaren Signifikanzverlust, von der Postmoderne abhebt, ist eben dies: Mit einem kulturellen Wandel ist im Retro nicht mehr zu rechnen. Dafür fehlen die Zeichen.