Die »No Tav«-Proteste in Italien weiten sich aus

Monti tunnelt die Bewegung

Seit die italienische Regierung unter Mario Monti mit Hilfe von Polizei und Justiz die Proteste gegen den Bau einer Hoch­geschwindigkeitstrasse im Susa-Tal bekämpft, dürfte es mit der linken Euphorie über den »neuen Stil« des Ministerpräsidenten endgültig vorbei sein.

Der Widerstand im italienischen Piemont gegen einen geplanten Streckenabschnitt des transeuropäischen Korridors, der eines Tages Lissabon mit Kiew verbinden soll, währt bereits 20 Jahre. Zwar wurde das ursprüngliche Projekt wegen der Proteste mehrfach verändert, am umstrittenen Bau eines neuen, über 50 Kilometer langen Tunnels durch die Alpen für die Hochgeschwindigkeits­trasse Turin-Lyon (TAV) wird aber weiter festgehalten. Längst wird die Protestbewegung »No Tav« nicht mehr nur von den betroffenen Berggemeinden des Val di Susa getragen, sie wird ebenso von Umweltorganisationen, linken Splitterparteien, der Metallgewerkschaft Fiom und der Commons-Bewegung unterstützt, die 2011 erfolgreich gegen die Privatisierung der Wasserversorgung kämpfte. »No Tav« ist eine gesellschaftliche Gegenbewegung geworden, die für sozialen und ökologischen Fortschritt kämpft.

Deshalb fühlten sich auch alle antagonistischen Bewegungen Italiens angegriffen, als die Turiner Staatsanwaltschaft Anfang des Jahres landesweit zwei Dutzend Haftbefehle erließ und weitere 15 »No Tav«-Aktivisten unter Hausarrest stellte. Ihnen wird vorgeworfen, im vergangenen Sommer an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei beteiligt gewesen zu sein. Damals war in Maddalena di Chiomonte im oberen Susa-Tal ein größeres Gebiet gegen den Widerstand der Bevölkerung zur »strategischen Zone« erklärt und abgeriegelt worden. Die damalige Regierung des Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi wollte sich damit die Millionenzuschüsse der Europäischen Union sichern, die zur Finanzierung von Vorarbeiten bereitgestellt werden. Mit dem angekündigten Bau eines Erkundungstunnels wurde jedoch bis heute nicht begonnen.
Durch die Kriminalisierung einiger bekannter Aktivisten ließ sich die »No Tav«-Bewegung allerdings nicht einschüchtern. Ende Februar kamen 80 000 Menschen zu einer der größten Demons­trationen in das Val di Susa, um sich mit den Gefangenen zu solidarisieren. Vor allem aber hoffte die Bewegung, dass die Technokraten der Regierung ihre wissenschaftlich begründeten Einwände gegen das Großprojekt ernst nehmen würden. In einem von mehreren Hundert Universitätsprofessoren unterzeichneten offenen Brief wurde die Regierung aufgefordert, das Bauvorhaben noch einmal grundsätzlich zu überdenken.
Der Güter- und Personenverkehr habe sich nicht wie ursprünglich angenommen verdoppelt, er sei vielmehr rückläufig und könne von dem bereits vorhandenen Schienennetz bewältigt werden. Da ein Alpentunnel nicht mit Hochgeschwindigkeit durchfahren werden könne, sei die Bohrung einer weiteren Galerie unnötig und berge wegen der zu erwartenden Freisetzung von Asbest und Uranstaub erhebliche gesundheitliche Gefahren. Die Kosten für das Milliardenprojekt seien unkalkulierbar, außerdem bestehe nachweislich die Gefahr einer Infiltration durch mafiöse Subunternehmer. Letztlich habe die Regierung bereits deutlich gemacht, dass angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise des Landes die Prioritäten anders gesetzt werden müssten.

Zu Beginn des Jahres hatte der neue Ministerpräsident Mario Monti ein anderes Prestigeprojekt gestoppt, den geplanten Bau einer Brücke über die Meerenge zwischen dem italienischen Festland und Sizilien. Stattdessen sollen die für den Brückenbau vorgesehenen Milliardenbeträge in wichtigere Infrastrukturprojekte in Süditalien investiert werden. Außerdem hat sein Kabinett Roms Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2020 aufgrund der Staatsverschuldung für »nicht verantwortlich« erklärt und zurückgezogen.
Von allen Aufrufen, auch das Schnellbahnprojekt aufzugeben, zeigt sich die Regierung hingegen unbeeindruckt. Nur zwei Tage nach der imposanten Demonstration im Val di Susa rückten Polizisten in gepanzerten Fahrzeugen aus, um eine Mahnwache im benachbarten Clarea-Tal zu räumen und eine weitere Sperrzone zu errichten. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit »No Tav«-Aktivisten, in deren Verlauf der ortsansässige Landwirt Luca Abbà für eine demonstrative Protestaktion auf einen Strommast kletterte. Verfolgt von einem Polizisten stieg er so hoch, dass er mit den Hochspannungsleitungen in Berührung kam, einen Stromschlag erlitt und in die Tiefe stürzte. Abbà lag mehrere Tage im Koma, ist nun aber außer Lebensgefahr. Da er während der Aktion mit dem freien Radio Blackout aus Turin live verbunden geblieben war und Filmaufnahmen vom Unfall rasch im Internet abrufbar waren, kam es unmittelbar nach seinem Sturz zu spontanen Protesten. Landesweit wurden Schienen oder andere Straßenverkehrsknotenpunkte für mehrere Stunden blockiert.
Im Val di Susa besetzten die Talbewohner die Autobahn zum Fréjus-Tunnel. Drei Tage lang kam es wiederholt zu Zusammenstößen mit der Polizei, die Tränengas und Wasserwerfer einsetzte, um die Fahrbahn vorübergehend zu räumen. Doch die Demonstranten nutzten jeden Schichtwechsel des Polizeiaufgebots, um erneut Barrikaden zu errichten. Als auf dem Internetportal der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera ein Video veröffentlicht wurde, in dem ein »No Tav«-Aktivist einen Polizisten im Kampfanzug über sein Schutzschild hinweg als willfähriges »Schäfchen« einer politischen Lobby beschimpft, interpretierten insbesondere die rechten Medien die Provokation als terroristischen Akt und als Hinweis auf die Entstehung »neuer Roter Brigaden«. Aber auch in liberalen Medien wurde das Gespenst der »bleiernen Jahre« heraufbeschworen und über eine anarchosyndikalistische »Unterwanderung« der »No Tav«-Bewegung spekuliert. In Rom stürmten daraufhin Studierende die Internetredaktion von La Repubblica, um gegen die einseitige, diffamierende Berichterstattung der Tageszeitung zu protestieren. Der Polizist, der die »Beleidigungen« erdulden musste, wurde derweil für seine Tapferkeit von offizieller Seite gelobt.

Die Eskalation macht deutlich, dass die »No Tav«-Bewegung einen Konflikt austrägt, der über den konkreten Streitfall hinausweist. Sie vereint soziale Proteste, denen jede politische Wirkungskraft fehlt. Das Bauprojekt wird von einer parteiübergreifenden Mehrheit getragen, ebenso die Notstandsregierung Montis. Dieser stellte deshalb klar, das nicht nur seine neoliberalen Deregulierungen, sondern »selbstverständlich« auch das Bahnprojekt gegen alle Widerstände umgesetzt würden. Schließlich dürfe Italien den Anschluss an Europa nicht verlieren.
Doch auch jenseits der Alpen gibt es Kritik an dem Bauprojekt. Aus Solidarität mit dem verunglückten Abbà warfen französische »No Tav«-Aktivisten in Lyon Sandsäcke auf die Gleisanlagen und unterbrachen damit den Zugverkehr. Die Internationale Alpenschutzkommission CIPRA vermeldet, dass es mittlerweile auch im französischen Umweltministerium Zweifel am wirtschaftlichen Nutzen und der ökologischen Verträglichkeit des Unternehmens gibt.
Gefährdet scheint die Süd-Ost-Magistrale des europäischen Schienennetzes aber vor allem in ihren ersten Streckenabschnitten: Die portugiesische Regierung musste die Investition in den Bau des ersten Teilstücks von Lissabon nach Madrid wegen des ihr von der EU-Kommission auferlegten Sparprogramms verschieben, und in Spanien haben sich bereits gebaute Schnellbahntrassen als so unrentabel erwiesen, dass sie stillgelegt werden mussten.