Die Rolle der EZB

Baustelle des Systems

Die Europäische Zentralbank ist nicht die Schaltzentrale des europäischen Kapitalismus, wie die linke Kritik oft behauptet. Als Institution der EU spielt die EZB jedoch eine entscheidende Rolle in der Krisenpolitik und ist daher ein geeigneter Ort für politische Proteste.

Die Europäische Zentralbank (EZB) ist ein Produkt der neoliberalen Zeit. Ihre Gründung wurde 1992 im Vertrag von Maastricht beschlossen. Darin regelten vorerst nur die westeuropäischen Staaten nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus ihre Beziehungen neu. Der Sieg des Kapitalismus im Kalten Krieg schien der neoliberalen Ideologie Recht zu geben: Zu viel Kontrolle durch den Staat behindert das wirtschaftliche Wachstum, der freie Markt sorgt für den größtmöglichen Wohlstand. Unter anderem mit Schaffung der EZB als supranationaler Institution wurde diese Ideologie zementiert. In der Krise verliert der Neoliberalismus an Überzeugungskraft. Doch so schnell, wie man ihn sich ins Haus geholt hat, wird man ihn offenbar nicht wieder los. Hierfür ein Beispiel: Ein Sinnbild für die Krise ist die Hyperinflation. Die Angstphantasie, Menschen könnten wieder mit Händen voller Geldascheinen zum Bäcker rennen, um Brot zu kaufen, wird immer wieder beschworen, um währungspolitische Interessen abzusichern. Für Hyperinflation gibt es aus neoliberaler Sicht nur eine Ursache: Sie entsteht, wenn der Staat Geld drucken lässt, um Schulden zu zahlen, und keine Rücksicht mehr nimmt auf ein angemessenes Verhältnis zwischen Geldmenge und kapitalistischer Akkumulation.

Seit 2009 hat die EU dagegen ein Mittel: Um Inflation vorzubeugen, ist es der EZB untersagt, Geld direkt an die Mitgliedsstaaten zu verleihen. Diese sollen Kreditanträge besser bei Privatbanken stellen, die ausschließlich nach Rentabilitätskriterien entscheiden. Die Privatbanken borgen wiederum Geld bei der EZB. Das erhöht nicht nur die Zinskosten für die Staaten, es schützt auch nicht davor, dass neues Geld wild hin und her geschoben wird. Erst im Dezember 2011 hat die EZB 489,2 Milliarden Euro an Banken zu sehr günstigen Konditionen verteilt. Kaum zwei Monate später gab es noch einmal 529,5 Milliarden Euro. Was mit diesem Geld genau geschieht, ist unklar. Die EZB selbst artikuliert öffentlich die Hoffnung, dass ein Teil davon in Staatsanleihen hochverschuldeter EU-Länder gesteckt wird.
Die Choreographie dieses sinnlosen Rituals entspricht dem Vertrag von Lissabon, der 2009 nach jahrelangen Verhandlungen als Kompromiss zwischen verschiedensten nationalen Interessen verabschiedet wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Krise Europa aber bereits erfasst. Dass jetzt wieder heftig über die Rolle der EZB diskutiert wird, wundert daher nicht. Als politische Institution der EU ist die Zentralbank auch ein passender Ort für politische Proteste. Sie ist kein »heimliches Werkzeug zur Herrschaft des Finanzkapitals« bzw. »zur Durchsetzung deutscher Interessen« – um es mit gängigen linken Phrasen zu formulieren –, sie ist aber auch keine vollkommen neutrale technokratische Einrichtung, in der Geldpolitik nach Logarithmen betrieben wird. Sie ist nicht einfach nur ein Symbol für das abstakte Kapitalverhältnis, an dem sich linke Aktionisten »aus purer Ratlosigkeit« abarbeiten, wie Felix Baum an dieser Stelle formulierte (Jungle World 11/12). Die in Frankfurt am Main beheimatete Behörde ist nicht irgendeine Bank, sondern ein zentraler Akteur in der gegenwärtigen Krisenbewältigung.
Felix Baum zieht in seinem Disko-Beitrag einen Vergleich zwischen der geplanten Demonstration am 31. März an der Baustelle der EZB in Frankfurt und den Protesten gegen den Bau der Startbahn West. In den achtziger Jahren richteten sich die Proteste gegen einen Militärflugplatz. Baums Bemerkung läuft auf folgende Schlussfolgerungen hinaus: In den achtziger Jahren demonstrierte man gegen einen Militärflugplatz, ohne den auch keine Militärflugzeuge starten konnten. Die EZB hingegen ist auch ohne neuen Bürokomplex arbeitsfähig und der Kapitalismus kommt locker ohne die EZB aus. Er wäre ohne sie um keinen Deut besser, die Forderung nach »Stilllegung der Baustelle« sei somit Unsinn. Das ist einleuchtend. Doch auch bei den Protesten gegen die Startbahn lag der Erfolg ja nicht darin, dass ein bestimmter Armeestützpunkt verhindert wurde, sondern darin, die Aufrüstungspolitik im Kalten Krieg in der breiten Öffentlichkeit in Frage zu stellen.
Linksradikale konnten ihre Unterstützung für die damaligen Proteste in zweifacher Weise begründen. Zum einen boten die sozialen Bewegungen und die Friedensbewegung Raum, um eine grundlegende, auch revolutionäre Gesellschaftskritik zu formulieren. Zum andere stellte das Wettrüsten der Systeme eine reale Gefahr dar. Bleibt man bei dem Vergleich, ist ein wichtiger Unterschied festzustellen: Gegen die Gefahr eines Krieges mitten in Europa wäre eine breite Öffentlichkeit heute nach wie vor zu mobilisieren. Gegen den Kapitalismus allerdings nicht. Darum springen den Antikapitalisten bei ihrem ureigensten Thema auch die zuverlässigsten Bündnispartner ab.

Vor diesem Problem steht auch der »European Day of Action Against Capitalism«. Am 31. März soll wieder mit gewöhnlichen Demonstrationen gegen die Ungerechtigkeit des Kapitalismus protestiert werden. Felix Baum schreibt von »verdrängter Ratlosigkeit« und »hilfloser Aktionshektik« und sieht in dem Protest vor allem eine »Ersatzhandlung«. Seine Kritik ist einseitig. Denn gerade weil Kapitalismus und Staat dem Alltagsbewusstsein auch der Lohnabhängigen so selbstverständlich sind, muss man an wichtigen Orten gesellschaftlicher Herrschaft dafür sorgen, dass antikapitalistische Kritik überhaupt wahrnehmbar wird. Ein solcher Ort ist die EZB allemal. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie sich derzeit mit der deutschen Regierung darüber streitet, wie der ordnungspolitische Widerspruch zwischen Liquiditätssicherung und Geldwertstabilität zu lösen sei. Ein »Rammbock der Austerität« (Baum) ist die EZB so oder so.

Was wäre die Alternative zum antikapitalistischen Protest? Wirtschaftsexperten mit marxistischem Hintergrund lassen diesen Widerspruch einfach aus. Sahra Wagenknecht zum Beispiel weist häufig auf die generelle Krisenhaftigkeit des Kapitalismus hin. Das hält sie nicht davon ab, jede Menge Vorschläge zu dessen Rettung zu unterbreiten. Konkrete Krisensituationen erklären sie und andere linke Talkshow-Promis recht kompetent, indem sie auf die neoliberale Politik der vergangenen Jahre hinweisen. Daraus wird in aller Regel der Umkehrschluss gezogen, dass es keine Krise gäbe ohne die Politik, die sie verursacht hat. Nicht berücksichtigt wird, dass die Krise unter anderen Bedingungen lediglich einen anderen Verlauf genommen hätte. Als linke Konjunkturstütze werden neue Gesetze vorgeschlagen, etwa der Mindestlohn oder gelegentlich das Existenzgeld, beziehungsweise die Rücknahme neoliberaler Gesetzesänderungen (Hartz IV, Senkung des Spitzensteuersatzes). So wird sozialdemokratische Politikmacherei mit sozialistischem Gewissen versöhnt. Doch Mindestlohn und Existenzgeld haben keinen direkten Einfluss darauf, wie sich mit ihnen leben lässt. Höhere Steuern auf hohe Einkommen führen auch nicht automatisch zu einer gerechteren Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
Die größte Schwäche dieser Analysen, die auch bei den bisherigen Krisenprotesten vorherrschten, ist, dass sie auf die staatliche Politik fixiert sind, nach dem Motto: Es geht jetzt nicht um antinationales Naserümpfen! Schwach sind sie, weil sie die politische Vorstellungskraft zugunsten von wahltauglichen und umsetzbaren Positionen freiwillig so beschränken, dass sie selbst hinter jener des international agierenden Kapitals zurückbleibt.
Die EZB wird meist dafür kritisiert, dass sie die staatliche Souveränität der Mitgliedsstaaten beschneide. Ihre Sparvorgaben würden die Demokratie abschaffen und stattdessen direkt Wirtschaftsinteressen umsetzen. Doch die EZB ist selbst ein Ergebnis demokratisch legitimierter Verfahren, die auch von den stärksten Verhandlungspartnern nicht gänzlich kontrolliert werden können. Wirtschaftsinteressen sind wiederum etwas Spekulatives. Sie widersprechen sich auch untereinander, andererseits bilden sich gemeinsame Interessen verschiedener Kapitalfraktionen heraus. Das muss mitgedacht werden.
Das wurde neulich bei einer Mobilisierungsveranstaltung des »M31«-Bündnisses in Berlin deutlich, als der Athener Ökonom Jannis Milios zeigte, welche Vorteile für das heimische Kapital sich mit der Bevormundung Griechenlands durch die EZB, den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank verbinden. Er bezeichnete Lohnabbau und Privatisierung im Interesse griechischer Unternehmen als wesentliche Anliegen des Sparprogramms. Das stieß in der anschließenden Diskussion auf Verwunderung. Milios stellte die hierzulande geltende These in Frage, dass der Zwang zum Schuldenabbau insbesondere den deutschen Privatbanken zugutekommen soll, denen Griechenland Geld schuldet. Wie genau materialistische Kritik zuzuspitzen ist, ergibt sich eben auch aus dem jeweiligen Standpunkt in sozialen Kämpfen. Um dennoch gemeinsame Ziele und eine gemeinsame Praxis zu finden, muss man international diskutieren und zusammenarbeiten.
Das versucht das »M31«-Bündnis. Die Krisenproteste sind bislang national gespalten und entsprechend wenig wirksam. Das soll sich ändern. Am Bündnis sind überwiegend anarchosyndikalistische, Antifa- und anderen emanzipatorisch-kommunistische Gruppen beteiligt. Zuallererst wurde ein »einwandfrei staatsfeindlicher Aufruf«, wie Baum ihn genannt hat, verfasst. Darin wird zwar der Anschluss an jeden sogenannten politischen Diskurs verweigert. Doch genau das stellt sich derzeit als bester Ausgangspunkt für revolutionäre Praxis heraus.
Beim europäischen Aktionstag geht es nicht nur um die EZB. Die Demonstration in Frankfurt wird sich nicht nur unmittelbar gegen diese konkrete Baustelle des Systems richten. Sie wird alle möglichen Zumutungen des kapitalistischen Alltags anprangern. Demonstrationen wird es an diesem Tag in ganz Europa geben.

Die Autorin ist in Berlin im Bündnis »M31« organisiert.