Hat sich bei der Protestbewegung gegen die Drogenkartelle in Mexiko umgesehen

Nimm die Bestie

Im Kampf gegen die Mafia ist die mexikanische Regierung nicht in der Lage, die eskalierende Gewalt zu beenden, sondern ist vielmehr Teil des Problems. Eine Protestbewegung gegen Mafia und Regierung formiert sich und einige Dorfgemeinschaften haben das Gesetz inzwischen selbst in die Hand genommen.

Endlich ein wenig Ruhe. Einen Moment lang kann Noel Canales nun einfach durchatmen, muss nicht jede seiner Bewegungen kontrollieren. Spät in der Nacht hat ihn die Bestie hierher gebracht. Er hat noch viel vor sich, denn der Weg in die USA ist weit. Und gefährlich. Immer wieder stürzen mitreisende Migranten von den Waggondächern des Zuges, den alle »la bestia« nennen. Andere werden von der Mafia entführt und tauchen nie wieder auf. Der Honduraner wirkt nicht sehr müde, mit seinen 30 Jahren hat er noch genug Kraft, um die Strapazen durchzustehen. Dennoch weiß er zu schätzen, dass Pfarrer Alejandro Solalinde in der südmexikanischen Kleinstadt Ixtepec im Bundesstaat Oaxaca einen Platz für Menschen wie ihn geschaffen hat. »Hier können wir uns besinnen und ausruhen, bekommen etwas zu essen und sammeln neue Kräfte.«
Etwa 50 Migrantinnen und Migranten sind an diesem Morgen in der Herberge, die der Padre »Brüder auf dem Weg« genannt hat. Die einen waschen ihre wenigen T-Shirts und Hosen, andere nehmen, wie Canales, an einer Messe teil. Am nächsten Abend will der junge Mann wieder auf den Zug springen, um möglichst bald im US-amerikanischen Laredo anzukommen. »In Tegucigalpa wartet meine Frau darauf, dass ich Geld schicke«, sagt er und kramt in seinem Portemonnaie nach dem Foto seiner kleinen Tochter. In ­einem Jahr will er wieder zu Hause in der honduranischen Hauptstadt sein. Wenn alles gutgeht.

Wer als Migrant durch Mexiko reist, hat viele Feinde: Migrationsbeamte, Polizisten, Jugendbanden. »An keinem Ort kann man bessere Geschäfte mit der Ausbeutung von Migranten machen. Die Stadt liegt auf der von den Wanderarbeitern am meisten benutzten Route«, erklärt Solalinde. Mit eigenen Augen hat der Priester gesehen, wie Beamte und Kriminelle zusammenarbeiten, um die Reisenden zu erpressen oder zu entführen. Schon sechs Jahre betreibt er die Unterkunft, doch seit sich in letzter Zeit das Kartell der Zetas unter dem Schutz korrupter Polizisten hier breitgemacht habe, sei alles noch schlimmer geworden. Die Staatliche Menschenrechtskommission zählte allein zwischen April und September vergangenen Jahres 11 300 entführte Migrantinnen und Migranten.
Einer von ihnen ist der Guatemalteke Francisco Martínez. Mit zehn anderen Reisenden wurde er nahe der US-amerikanischen Grenze entführt. Der junge Mann hatte Glück. Nachdem seine Mutter 5 000 US-Dollar Lösegeld gezahlt hatte, kam er wieder frei. Doch wer keine Angehörigen hat, die Geld schicken können, bekommt die ungezügelte Gewalt der Zetas zu spüren. »Einige von uns folterten sie«, erinnert sich Martínez, »andere verschwanden.« Was mit ihnen passierte, weiß er nicht. »Aber wenn die Typen auf Drogen sind und nicht die Wahrheit aus dir herausholen können oder du keine Familie hast, kann es sein, dass sie dich in Stücke schneiden und diese in den Fluss werfen.«
Als die Zetas im vorigen Jahr in Oaxaca vier Migranten entführten, entschloss sich Padre Solalinde zu einem mutigen Schritt: Er erstattete Anzeige gegen das Kartell. Zunächst dachte er, seine Tage seien nun gezählt. Schließlich gelten die Zetas als die brutalste Mafia Mexikos, fast täglich werden Leichen von Menschen gefunden, die von den Killern der Organisation hingerichtet wurden. Viele der Opfer wurden vor ihrem Tod gefoltert. Dennoch wurde der Geistliche nach und nach ruhiger. Er setzt auf das rationale Kalkül der Kriminellen. Die Hintermänner der Zetas säßen in der Politik und hätten kein Interesse daran, ihn zu ermorden. Denn dann würden sie auf nationaler und internationaler Ebene große Probleme bekommen: »Der politische Preis wäre sehr hoch.« Diese Einschätzung ist sicher auch dem Wesen des offenbar immer optimistischen Padre geschuldet, schließlich wird er ständig von Politikern, Sicherheitskräften und Kriminellen angegriffen. Man steckte ihn ins Gefängnis und Schlägertruppen versuchten, die Gebäude niederzubrennen.

Unterstützung bekommt Solalinde von der »Bewegung für Frieden in Gerechtigkeit und Würde«. »Kein weiteres Blutvergießen«, forderten die rund 700 Aktivistinnen und Aktivisten, als sie im September mit einer Karawane durch den Süden Mexikos zogen und in der Herberge Halt machten. Die Bewegung kämpft jedoch nicht nur gegen den Terror der Zetas und der anderen Kartelle. Sie kritisiert auch den Präsidenten Felipe Calderón. Denn seit dieser Anfang 2007 das Militär gegen die Mafia mobilisiert hat, eskaliert die Gewalt. Über 60 000 Menschen sind gestorben, mindestens 10 000 Personen verschwanden, viele von ihnen in der Gefangenschaft von Polizei und Militär.
Ist also vor allem die Regierung Schuld an der exzessiven Gewalt, mit der das Land zu kämpfen hat? »Nein, wir alle tragen Verantwortung, weil wir dem Staat einen Blankoscheck für sein Vorgehen geben«, sagt der Dichter Javier Sicilia (Jungle World, 10/12). Doch in erster Linie seien Korruption, Straflosigkeit, fehlende Sozialprogramme und ein unfähiger Sicherheitsapparat verantwortlich, stellt der Mittfünfziger klar, der zu einer Art Leitfigur der Bewegung geworden ist. Seit sein Sohn im März vergangenen Jahres von Killern der Kartelle ermordet wurde, widmet er sein ganzes Leben dem Kampf gegen den alltäglichen Terror. »Wir haben die Schnauze voll«, schrieb der stark gebaute, meist unrasierte Mann damals den »Herren Politikern« und den »Herren Kriminellen« und setzte damit ein Fanal. Inspiriert von der Befreiungstheologie konnte er unterschiedliche gesellschaftliche Schichten ansprechen: Konservative und Linke, Gläubige und Atheisten, Wohlhabende und Arme.
Mit Karawanen, Schweigemärschen, Kundgebungen und Kunstaktionen macht die Bewegung seither auf sich aufmerksam. Sie zog in den Süden und auch in den Norden des Landes. Dorthin, wo der Krieg zwischen Soldaten, Polizisten und den Killern der Mafia die meisten Opfer fordert. Zuletzt sorgten Kulturschaffende im Februar für Aufmerksamkeit. In der Kampagne »Ponte en los zapatos del otro« – sinngemäß: »Versetz’ dich in den anderen hinein« – übernahmen berühmte mexikanische Schauspieler in einem Fernsehspot die Rolle der Angehörigen von Verschwundenen und Ermordeten und sprachen über das Leid der Menschen, in deren Haut sie schlüpften.
Selbst mit dem Präsidenten haben sich Vertreter der Bewegung getroffen. Sie hatten sich erhofft, ihn zu einer Abkehr von seiner Kriegsstrategie zu bewegen. Und er sollte erklären, was mit den unzähligen verschwundenen Menschen passiert ist. Doch die Mühe war vergebens. »Keiner der Verschwundenen ist aufgetaucht«, kritisiert Julia Alonso, deren Sohn vor vier Jahren verschleppt wurde. Bis heute weiß sie nicht, was mit ihm ­geschehen ist. Lebt er noch? Wird er an einem geheimen Ort festgehalten? Immer wieder ist die 54jährige zur Polizei gegangen, doch die hat sich nie um den Fall gekümmert. »Auch Calderón hat von allem, was er versprochen hat, nichts eingehalten.« Nun sammelt sie mit ihren Mitstreitern die Daten der Verschwundenen.
Hunderte von Angehörigen der Opfer seien ­allein während der Karawane auf sie zugekommen und hätten ihr Schicksal erzählt, berichten Mitglieder der Dokumentationsgruppe der Bewegung. Die Aktivisten wollen die Wahrheit ans Licht bringen, die Erinnerung wachhalten und vor allem dafür sorgen, dass das Morden und Entführen eines Tages ein Ende hat. »Auf unseren Karawanen wurde der ganze Dreck sichtbar, der in unserem Land existiert und den regionale, bundesstaatliche und föderale Behörden verschleiern wollen«, resümiert Julia Alonso.

Mittlerweile hat der Krieg auch in den Reihen der Bewegung Opfer gefordert. So traf es den 56jährigen Nepomuceno Moreno aus dem nordmexikanischen Bundesstaat Sonora. »Don Nepo«, wie ihn alle nannten, war auf der Suche nach seinem Sohn, der 2010 von Unbekannten verschleppt worden war. Beim Treffen mit Calderón hatte er den Präsidenten gebeten, sich um seinen Schutz zu kümmern, da er bedroht werde – vergeblich. Unbekannte schossen den Mann auf offener Straße nieder. Mindestens zwei weitere Mitstreiter wurden seither ermordet. Norma Andrade, die sich für die Aufklärung der unzähligen Frauenmorde in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez einsetzt, überlebte durch Glück zwei Mordanschläge.
Fast ein Jahr gibt es die Bewegung nun schon. Interne Debatten, ständige Überlastung und die gewalttätigen Angriffe zehren bereits an den Kräften ihrer Mitglieder. In den kommenden Monaten werden sie sich einer weiteren Herausforderung stellen müssen: Am 1. Juli finden Präsidentschaftswahlen statt. Befürchtungen werden laut, dass die Kartelle durch gewalttätige Aktionen den Wahlkampf beeinflussen könnten, um ihnen nahestehende Politiker zu stärken. In der Friedensbewegung traut man keinem der Kandidaten, die jetzt die Nachfolge Calderóns antreten wollen. »Keine politische Partei hat auf unseren Appell gehört, aus ihren Reihen die Korrupten und Kriminellen auszuschließen«, heißt es in einer Erklärung, die im Januar verabschiedet wurde. Auch die Forderung nach einer Reform, die den Einfluss der Bürger etwa durch Plebiszite stärken könnte, sei von keiner Partei aufgegriffen worden. »Diese Wahlen sollen nur die Wirklichkeit verschleiern«, spitzt Sicilia die Kritik zu und spricht von »kafkaesken, surrealen« Zuständen. »Ich habe noch kein Land gesehen, in dem demokratische Wahlen stattfinden, während Krieg herrscht.«
Wegen solcher Sätze hat sich Sicilia jüngst Ärger mit Andrés Manuel Lopéz Obrador, dem Präsidentschaftskandidaten des gemäßigt linken PRD, eingehandelt. »Wer nicht wählen geht, spielt das Spiel derer, die keinen Wechsel wollen«, kritisiert der Politiker, der bei der Wahl 2006 wahrscheinlich durch Betrug ums Amt gebracht wurde. Doch dieses Mal stehen die Chancen für ihn nicht gut: Während er 2006 gleichauf mit seinem Konkurrenten Calderón war, versprechen ihm die Prognosen derzeit mit 15 Prozent der Stimmen nur den dritten Platz. Doch auch die konservative Partei PAN des amtierenden Präsidenten kann sich wenig Hoffnung darauf machen, weiterhin die Geschäfte des Landes zu führen. Deren Kandidatin Josefina Vazquez Mota liegt weit abgeschlagen hinter dem Favoriten der ehemaligen Staatspartei PRI, Enrique Peña Nieto.
Dass der PRI, der das Land über 70 Jahre lang autoritär regiert hat, wieder an die Macht kommen könnte, beunruhigt viele, die sich gegen Korruption, Kartelle und die Gewalt der Sicherheitskräfte stellen. Bis ins Jahr 2000 hatte die Partei mit einem Konglomerat von Unternehmern, Militäroffizieren, Politikern und Gewerkschaftsführern in enger Kooperation mit der Mafia die Regierungsgeschäfte geführt. Durchgängig korrupte Strukturen, die vom PRI kontrolliert wurden, vermieden unnötiges Blutvergießen. Angesichts der in den vergangenen Jahren eskalierenden Gewalt erhofft sich nun offensichtlich eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, dass der PRI durch eine neue »pax mafiosa« die Gewalt einzudämmen vermag, indem er die Kriminellen wieder enger an die Regierung bindet. »Man vergleicht eine idealisierte Vergangenheit mit einer frustrierenden Gegenwart«, charakte­risierte der ehemalige brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso diese Entwicklung.
»Nein zu den Wahlurnen, Schluss mit den politischen Parteien«, wird auf einem Transparent gefordert, das die Bürger von Cherán in ihrem Dorf aufgehängt haben. Nachdem ein Politiker des PRI vor vier Jahren das Bürgermeisteramt der Gemeinde im Bundesstaat Michoacán übernommen hatte, begann für sie ein Albtraum. Von dem Ortsvorsteher geschützt, zerstörten illegale Holzfäller in enger Zusammenarbeit mit der Mafia-Organisation »La Familia Michoacana« die Wälder rund um Cherán. 20 000 von 27 000 Hektar Gemeindewald seien zerstört worden, etwa 24 Millionen Bäume, rechnen die Bürger des Dorfes vor. Um die Ware auf die nächstgelegene große Straße zu transportieren, mussten die Holzräuber das Dorf passieren. Oft seien Hunderte von Lastwagen täglich gekommen, erinnern sich die Einwohner, von denen die meisten den indigenen Purépecha angehören. »Sie trugen Waffen, und wenn du dich umgedreht hast, um sie anzuschauen, haben sie auf dich gezielt«, berichtet »Maria Rosa« – hier im von der »Familia« kontrollierten Bundesstaat Michoacán möchte niemand, dass sein wirklicher Name in der Öffentlichkeit erscheint.
Doch seit dem 14. April vorigen Jahres ist in der 15 000 Einwohner zählenden Gemeinde alles anders. An diesem Tag griffen mehrere Dutzend Frauen des Dorfes mit Steinen und Knüppeln drei der Lastwagen an, zerstörten die Fahrzeuge und nahmen vorübergehend fünf Holzfäller gefangen. Die Kriminellen gingen daraufhin zwar gegen die Einwohner vor, diese konnten sich jedoch erfolgreich verteidigen, verjagten gleich noch den Bürgermeister samt seinen Mitarbeitern und nahmen ihnen die Waffen ab. Inzwischen regieren die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Gemeinde selbst nach indigenen Regeln, die Landeswahlen im vergangenen November boykottierten sie. Jeden Abend treffen sie sich an Lagerfeuern, um Informationen auszutauschen und zu erörtern, welche Aufgaben für die nächtliche Wache anstehen. Seither gibt es in Cherán keine Übergriffe mehr.
»An dem Tag, an dem wir alle unsere Polizisten auf Versammlungen ernennen, wird das Verbrechen enden«, meint der indigene Aktivist Bruno Plácido Valerio. Eine etwas optimistische Einschätzung, schließlich stehen in der Nähe von Cherán Soldaten, um das Dorf zu schützen, und die sich selbst verwaltenden Zapatisten in Chiapas mussten zuschauen, wie sich die Mafia im Lakandonischen Regenwald breitmachte. Dennoch kann Plácido Valerio auf gute Erfahrungen verweisen. Er ist in der Verwaltung autonomer Kommunen im Bundesstaat Guerrero tätig, die eine seit 1995 aktive »Policia Comunitaria« – die »Gemeindepolizei« – organisiert. Rund 700 Freiwillige sorgen dort für Sicherheit, jedes der 65 beteiligten Dörfer stellt zwölf Männer und Frauen. Wer das ist, bestimmt die Gemeindeversammlung. So werde verhindert, dass die Polizisten korrumpierbar würden, argumentiert der Indigene. Greifen sie Gesetzesbrecher auf, werden diese zu gemeinnütziger Arbeit oder anderen Strafen verurteilt, die auf die Wiedereingliederung der Täter in die dörflichen Strukturen zielen. Plácido Valerio hält das System für eine Alternative zu herrschenden Sicherheitskonzepten: »Obwohl man uns hier wirtschaftlich und rechtlich komplett im Stich gelassen hat, leben wir in Ruhe. Hier wurden weder abgeschnittene Köpfe gefunden noch in Plastiksäcke verpackte Leichen oder gefolterte und gefesselte Körper.«
Padre Solalinde kann nicht auf solche Strukturen bauen. Auch seine Hoffnung, man werde ihn als bekannten Kirchenmann nicht angreifen, beruhigt ihn nicht mehr, zumal die Angriffe weitergehen. In den letzten Dezembertagen hielten ihn bewaffnete Männer fünf Stunden fest, weil er sich für eine indigene Gemeinde stark gemacht hatte. Deshalb werden er und seine Migrantenunterkunft in Ixtepec nun von vier bewaffneten Leibwächtern geschützt. Verlässt der Priester das eingezäunte Gelände, folgen sie ihm auf Schritt und Tritt.
So auch an diesem Abend. Gerade ist der Zug aus dem Süden in den Bahnhof eingefahren, ­Solalinde und seine Mitarbeiter machen sich auf den Weg, um die Reisenden aus Guatemala, Honduras oder El Salvador zu empfangen. Die Migrantinnen und Migranten, die sich in den letzten Tagen in der Herberge ausgeruht haben, packen indes ihre kleinen Rucksäcke. Auch Noel Canales will nun aufbrechen. »Mir geht es sehr, sehr gut. Ich bin physisch gut auf die Reise vorbereitet«, sagt er und lacht, bevor er im Dunkel der Nacht auf den Gleisen verschwindet. Die Bestie steht zur Weiterfahrt gen Norden bereit.