Linker Krisenprotest und die spanische Bewegung des 15. Mai

Wo bleibt die Fürstin?

In der linken Debatte um Krisenproteste in Deutschland wird die spanische Bewegung des 15. Mai erstaunlich wenig beachtet. Dabei sind deren Erfahrungen sowohl für die Debatte über »M31« in Frankfurt als auch für die Bloccupy-Kampagne interessant.

Seit Beginn der Euro-Krise wird in der deutschen Linken über Aktionsformen gestritten: »Ums Ganze« und das deutsche M31-Bündnis setzen sich dafür ein, den Moment für eine radikale Kapitalismuskritik zu nutzen. Ihre Reichweite beschränkt sich in der Folge auf das linksradikale Spektrum (Jürgen Masuch in Jungle World 14/2012). Die Interventionistische Linke (IL) versucht über großangelegte Kampagnen mit inklusiver Rhetorik, unterschiedliche Bewegungen zusammenzuführen (Acta-Proteste, Occupy). Das »Wir« und auch die politischen Ziele von Kampagnen wie den vom 16. bis 19. Mai geplanten Bloccupy-Aktionstagen bleiben dadurch häufig etwas diffus. Beide Spektren beziehen sich auf Protestbewegungen in der europäischen Peripherie. Eine systematische und kritische Auseinandersetzung mit den Bewegungen findet hingegen kaum statt. Auch die Linke, so scheint es, verharrt in Deutschland in subkultureller Selbstbezüglichkeit (Peter Nowak in Jungle World 15/2012) und überschreitet den nationalen Rahmen nicht. Die Wahrnehmung der Protestbewegungen anderswo findet in erster Linie über das mediale Spektakel statt (Roger Behrens in Jungle World 26/2011). Dabei böte eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der spanischen Bewegung des 15. Mai für beide Spektren die Möglichkeit, die eigene Praxis in Frage zu stellen. Die spanische Bewegung beruht weder auf kompromissloser kapitalismuskritischer Rhetorik noch auf linkem Kampagnenmanagement. Stattdessen entstand sie aus Alltagskämpfen. Ihr gelang es, private soziale Bedürfnisse in kollektive politische Forderungen zu überführen. Dabei blieb sie einer verkürzten Kapitalismuskritik und einem sozialdemokratischen Reformismus verhaftet. Gleichzeitig entwickelte sie jedoch radikaldemokratische Formen, die implizit sowohl Kapitalismus, als auch etablierte Trennungen zwischen Öffentlichem und Privatem in Frage stellen.
Auf den ersten Blick scheinen die Bloccupy-Aktionstage und die deutschen Occupy-Camps ähnliche politische Herangehensweisen wie die spanische Bewegung des 15. Mai zu entwickeln: Beide zielen auf die gleichberechtigte Einbeziehung unterschiedlicher Gruppierungen, die Form des Zeltens auf zentralen Plätzen wird gewählt, die Bewegung als Teil einer globalen Protestbewegung begriffen. Diese Ähnlichkeiten verdecken jedoch einen Unterschied ums Ganze: Während die deutschen Bewegungen trotz punktueller Annäherungsversuche an Alltagskämpfe im Wesentlichen Kampagnenpolitik betreiben, um bereits etablierte Forderungen zu artikulieren (Kritik an Banken und Finanzmärkten), entwickelt die spanische Bewegung eine Politik der ersten Person. Prekarisierte Jugendliche, Arbeitslose und von Zwangsräumungen Bedrohte artikulieren in den Vollversammlungen individuelle Erfahrungen. Die Bewegung leistet die Aufgabe, aus diesen Erfahrungen in Diskussionsprozessen kollektive Forderungen zu entwickeln. Sie agierte dabei allerdings weitgehend geschichtslos, es gelang ihr nicht, an Debatten und Erfahrungen vorangegangener Bewegungen anzuknüpfen. In den Protestcamps zeigten sich Ausschlussmechanismen und sogar reaktionäre Momente: So wurde in Madrid unter dem Applaus eines Teils der Anwesenden ein feministisches Transparent abgerissen; Migrantinnen waren bei den Besetzungen deutlich unterrepräsentiert. Insgesamt erinnert die Dynamik der Bewegung des 15. Mai trotz der wesentlich breiteren gesellschaftlichen Basis und der deutlich radikaleren gesellschaftspolitischen Forderungen eher an Studierendenproteste in Deutschland als an die von der IL forcierte Politik der linken Großevents.

Exemplarisch lässt sich der Unterschied an Umgangsweisen auf Vollversammlungen verdeutlichen. Bei der Vorbereitungskonferenz zu Bloccupy vom 24. bis 26. Februar in Frankfurt kam fast keine Vertreterin ohne den Verweis auf ihre – mehr oder weniger große – linke Organisation aus, in Spanien wurden in zahlreichen Versammlungen Aktivisten darauf hingewiesen, stets für sich und in der ersten Person zu sprechen. Während politische Auseinandersetzungen sich in Spanien oft bis in die Nacht hinzogen, wurde in Frankfurt die Vollversammlung über geplante Aktionsformen von der Vorbereitungsgruppe straff moderiert. Individuelle Erfahrungen kollektiv zu reflektieren, war so gar nicht erst möglich. Ziel war offenbar in erster Linie die Akklamation des geplanten Protestprogramms.
M31 und »Ums Ganze« scheinen auf den ersten Blick weniger mit der Bewegung des 15. Mai zu tun zu haben. Beide stehen für eine rhetorisch radikale Kapitalismuskritik. Die Bewegung des 15. Mai stellt hingegen die interpretationsoffene Forderung nach »echter Demokratie« in den Mittelpunkt und entwickelt ein sozialdemokratisches Reformprogramm: Prekarisierung der Arbeitswelt stoppen, würdige Wohnverhältnisse für alle, Banken und Konzerne stärker besteuern, öffentliche Dienstleistungen verteidigen, Korruption bekämpfen und neue Formen demokratischer Partizipation vorantreiben.
Dieser scheinbare Gegensatz verdeckt jedoch die zum Teil enge Kooperation der spanischen Bewegung mit Teilen der radikalen Linken. Die spanische Hausbesetzerbewegung etwa öffnete sich im Kontext der Bewegung des 15. Mai gleichberechtigten Diskussionsprozessen mit Menschen, die zuvor kaum Berührungspunkte mit der radikalen Linken hatten. Folge war ein wechselseitiger Lernprozess: Während radikale Linke lernten, ihre subkulturelle Selbstbezüglichkeit aufzugeben und abweichende Positionen ernst zu nehmen, näherte sich der Rest der Bewegung linksradikalen Aktionsformen an. Sowohl für die erste Besetzung des Platzes Puerta del Sol in Madrid am 15. Mai 2011, die als Gründungsmythos der Bewegung gilt, als auch für die Organisation von Vollversammlungen oder spätere Hausbesetzungen stellte die radikale Linke Expertise zur Verfügung, ohne jedoch einen (Allein-)Vertretungsanspruch für die Bewegung zu formulieren. Der Verzicht auf identitäre Milieupolitik und abgrenzende Rhetorik ermöglichte in Spanien eine radikale Politik, die über Kapitalismus und etablierte Trennungen zwischen Öffentlichem und Privatem hinauswies. M31 in Frankfurt beschränkte sich hingegen wesentlich auf die eigene Subkultur und erwies sich durch unreflektierte Militanz als wenig einsteigerinnenfreundlich. Die radikale Rhetorik blieb im Kern symbolisch.
Mit dem kanadischen Politikwissenschaftler Stephen Gill kann die Bewegung des 15. Mai als postmoderne Prinzessin bezeichnet werden (bzw. – etwas klassischer übersetzt – als »postmoderne Fürstin«). Gill greift damit auf eine Begrifflichkeit zurück, die der italienische Marxist Antonio Gramsci in Anschluss an Niccolò Machiavelli entwickelt hat. Wie der Fürst bei Gramsci bilde die Bewegung des 15. Mai »keine wirkliche Person«, sondern »ein komplexes Gesellschaftselement, in welchem ein Kollektivwille schon konkret zu werden beginnt, der anerkannt ist und sich in der Aktion teilweise schon bewährt hat«. Die Bewegung ist dabei insofern postmodern, als sie nicht auf einer einheitlichen politischen Identität beruht, sondern ähnlich wie die globalisierungskritische Bewegung unter relativ deutungsoffenen Forderungen (»echte Demokratie«) verschiedene gesellschaftliche Konfliktdynamiken zu einem (stets prekären) Bündnis (oder »Kollektivwillen«) verknüpft. Sie unterscheidet sich damit ebenso grundlegend von M31 und »Ums Ganze« wie von der IL.

Ob die Bewegung ein Vorbild für linke Krisenproteste in Deutschland sein kann, lässt sich jedoch nicht eindeutig beantworten. Zu deutlich unterscheiden sich die politische Situation und die Klassenzusammensetzung in Deutschland und Spanien: In Deutschland findet Sparpolitik große Zustimmung, Teile der Bevölkerung profitieren etwa über Arbeitsplätze in der Exportindustrie vom Ungleichgewicht in der Euro-Zone zwischen Zentrum und Peripherie. Auch die Prekarisierung und soziale Deklassierung der Bevölkerung ist weniger drastisch und wird zum Teil durch die Familie aufgefangen (vgl. Felix Baum in Jungle World 11/2012). In der Folge sind Alltagskämpfe in Deutschland derzeit wesentlich schwächer ausgeprägt als in Spanien. Sehr plastisch wird die daraus resultierende Diskrepanz in einem im Magazin der Süddeutschen Zeitung dokumentierten Interview (Heft 45/2011) mit internationalen Protestaktivistinnen. Wogegen eigentlich in Deutschland protestiert werde, fragt Kristen, Aktivistin bei Occupy Wall Street. »Gegen einen neuen Bahnhof und gegen Atomkraft«, bekommt sie zur Antwort. »Gegen einen Bahnhof? Davon hab ich noch nie gehört.« Darin, dass sie in einer schwierigen Situation zumindest versuchen, diese Ausgangslage zu verändern, liegt das emanzipatorische Potential sowohl von M31 als auch von Bloccupy. Dass sie dabei nur annähernd den Erfolg der Bewegung des 15. Mai in Spanien haben werden, erscheint mehr als fraglich. Eine Bewegung, die als postmoderne Prinzessin verschiedene Alltagskämpfe zu einem gesellschaftsübergreifenden emanzipatorischen Projekt verknüpft, ist in Deutschland nicht in Sicht.

Nikolai Huke forscht zu Alltagskämpfen und deren Repräsentation durch Gewerkschaften und soziale Bewegungen in Spanien im Kontext der Euro-Krise und ist im Krisenbündnis Marburg aktiv.