Kritik der 7. Berlin Biennale

Immun gegen die Freiheit

Heute beginnt die 7. Berlin Biennale. Ihr Kurator Artur Žmijewski wirbt mit faschistoider Symbolik und betreibt die Verschmelzung von linkem und völkischem Antikapitalismus.

Wer sich das Programm der diesjährigen Berlin Biennale anschaut, dürfte zumindest auf den Namen eines Künstlers stoßen, der wenn schon nicht durch seine Arbeit, so doch durch die von ihr verursachten Skandale prominent geworden ist. Es handelt sich um Artur Žmijewski, der in Deutschland vor allem durch sein Video »Berek« (»Hasch mich«) bekannt wurde, das nackte Erwachsene zeigt, die in der Gaskammer eines Konzentrationslagers Fangen spielen. Sein Kurzfilm »80064« stellt die Nachtätowierung der KZ-Nummer auf dem Arm eines Überlebenden der Shoa dar. (Jungle World 4/2012) In seinem künstlerischen Manifest »Applied Social Arts«, das 2007 in der polnischen Zeitschrift Krytyka Polityczna erschienen ist, fordert Žmijewski die Selbstbefreiung der Kunst von der Schuld, die ihr durch ihre Kolla­boration mit den totalitären Systemen anhafte und ihre vermeintliche ästhetische Selbstbezüglichkeit diskreditiert habe. Sie solle fortan der ästhetizistischen Verantwortungslosigkeit abschwören, die dem Begriff der künstlerischen Autonomie immanent sei, um sich auf ihre »Anwendbarkeit« zu besinnen und sich der »nachhaltigen Lösung« konkreter Probleme zuzuwenden. Doch nicht nur der Anmaßung ästhetischer Autonomie, auch dem, was Žmijewski in Anlehnung an eine Formulierung des polnischen Künstlers Grzegorz Kowalski die »Kunstverschmutzung« nennt – der »Korruption von Talenten« durch den Kommerz, der »Verstrickung des Kunstmarktes in unsauberes Geld« –, möchte Žmijewski ein Ende bereiten. Ermöglicht werden soll diese doppelte Reinigung der Kunst auf der Biennale durch ihre Verschmelzung mit unmittelbarer Politik. Der Kurator zieht als Prophet der neuen »angewandten Kunst« mit der Fackel der Ehrlichkeit und Authentizität in den Kampf gegen das korrupte Kunstestablishment, das die Künstler an der Kette halte, damit sie dem politischen Feuer nicht zu nahe kämen. Von heute an sind alle Kunstinteressierten eingeladen, sich seinem Fackelmarsch anzuschließen. Zu diesem Zweck inszeniert sich die Biennale ganz professionell als »Bewegung« – mit einer eigenen Bewegungszeitung und mit einem Logo, das die Zahl 7 zu einem runenähnlichen Zeichen verändert darstellt und an die aggressive Modernität faschistischer Bewegungssymbolik erinnert.

Potenz und Politik

Die von der Biennale proklamierte »Anwendbarkeit« der Kunst ist ein Aufruf zur real action, welche die hemmenden Diskurse der Kritik und die Zensur durch den Kunstmarkt überwinden soll. Die zum Programm erhobene Verschmelzung von Kunst und Politik löst die Kunst von ihrem konkreten gesellschaftlichen Zusammenhang und setzt sie stattdessen in einem dezisionistischen Akt als Symbol bedingungsloser Radikalität. Diese Radikalität bedarf zu ihrer Selbstdarstellung der von ihr selbst angeprangerten Autoritäten, der Zensur und der Tabus, die ständig behauptet werden müssen, um sich gegen sie auflehnen zu können.
Žmijewski hat es in seiner künstlerischen Arbeit vorgemacht: Koketterien mit dem Tabubruch wie sein geschmackloser Umgang mit der Shoa sind ein probates Mittel solcher Selbst­inszenierung, jede Kritik daran kann als Zensur durch die Mächtigen, die Medien, die Direktoren sogleich angeprangert werden. Politik wird dadurch als ein existentieller Kampf gegen und um die Macht inszeniert, in dem für Widersprüche und Ambivalenzen kein Platz ist. Žmijewski bedient mit seiner bombastischen politischen Symbolik zunächst einfach nur den kuratorischen Allgemeinplatz jeder beliebigen Biennale der Gegenwartskunst: Er schafft eine temporäre Kunstausstellung mit spektakulärem Eventcharakter und stellt die nach Berlin importierte, vermeintlich dissidente, in diesem Fall in erster Linie osteuropäische Kunstszene in einen politisch aufsehenerregenden Zusammenhang.
Im Unterschied zur 6. Biennale soll es diesmal jedoch nicht nur unmittelbar politisch, sondern vor allem national zugehen. Die damalige Kuratorin Kathrin Rhomberg hatte, mit Unterstützung des US-amerikanischen Kunsthistorikers Michael Fried, noch den angeblich »ideologisch belasteten« Begriff des Realismus rehabilitieren wollen. Während die Kunst für Rhomberg die Funktion übernehmen sollte, die Wirklichkeit statt lediglich sich selbst auszustellen oder sich dem l’art pour l’art hinzugeben, soll die Kunst in diesem Jahr zur unmittelbaren Aktion übergehen, um die Wirklichkeit zu verändern und zu manipulieren.
Žmijewski geriert sich auch im Verhältnis zum Kunstbetrieb als rebellischer Anti-Kurator. Im Unterschied zum traditionellen Kurator, der Kunst vor allem verwalte, ihr Copyright schütze, den Markt bediene und daran glaube, dass das Kunstwerk seine soziale und politische Bedeutung auf gleichsam magischem Wege als Einzelobjekt entfalte, gehe es ihm, so sagt er, um eine unmittelbare Politisierung der Kunst. Diese soll den bloßen »Schein des Politischen in der Kunst« durchbrechen und die Kunst aus ihrer vermeintlichen »Impotenz« befreien. Konzedierte Rhomberg der Sphäre der Kunst ebenso wie der gesellschaftlichen Wirklichkeit immerhin eine gewisse Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit, möchte Žmijewski die durch diese Widersprüchlichkeit entstehende Desorientierung überwinden. Berlin erscheint ihm für sein Vorhaben als der ideale Schauplatz, denn diese Stadt sei, so Žmijewski, von sämtlichen Ideologien »bereinigt«. Hier würden Künstler einem ideologischen Vakuum begegnen, das infolge der Entnazifizierung und Liberalisierung entstanden sei, und hier könnten sie die ideologische Passivität und Leere genießen. Viele flüchteten deshalb hierher, aber was ihnen allen fehle, bedauert er nostalgisch, seien eben große Ideen – Ideen, in deren Namen man Kunst schaffe und durch die Kunst allererst authentisch werde. Žmijewskis Haltung ist »postideologisch«, er proklamiert in apokalyptischer Manier das Ende der Politik, die von ihrer realen und eingebildeten Ratlosigkeit, ihren Wirren, ihrer Unübersichtlichkeit und Selbstbezüglichkeit durch neue Ideen und eine neue imaginäre Identität erlöst werden soll. Žmijewski lehnt die politische Verantwortungslosigkeit der kunstdiskurserprobten kritischen Ästhetik ab, um sie durch absolut gesetzte ästhetische Gewalt zu ersetzen. Politik ist ihm, wie jedem Politikberater und jeder Managementagentur, ein Medium der Manipulation, das sich einer Rhetorik der Überredung, der permanent beschworenen Grenzüberschreitung und Gefahr bedient. Das authentisch Politische wird daher vorzugsweise in der Kunst aus der verlockenden Ferne der Schwellenländer ausgemacht, wo die Zensur strenger, der Alltag härter und der Künstler an Leib und Leben noch richtig bedroht sei. Ganz offen bekennt sich Žmijewski daher zur Propaganda, die im originären Interesse der Kunst liege. Diese streife den weltlichen Tand, die Korruption des Marktes und die Hierar­chien der Institutionen ab, indem sie sich von dieser Welt des Sekundären als primäre Politik befreite, die dem Künstler wie den Zuschauern Wahrheit und Macht verspricht.
Žmijewski hat die auf der Biennale versammelten Arbeiten nach einem Setzkastenprinzip angeordnet, aufgeteilt in die Fächer »Occupy«, Bund der Vertriebenen und palästinensische Befreiungsfront. Das große Fach im Herzen des Spektakels, dem Erdgeschoss der Berliner Kunstwerke, trägt den Namen »GlobalSquare«. Es versteht sich als Sammlungsort für Veranstaltungen der unter dem Label »Occupy« firmierenden weltweiten Protestbewegungen und soll dazu beitragen, »die globalen organisatorischen Bestrebungen radikal zu demokratisieren« sowie »kollektive Aktionen« und »gemeinsame Ziele zu formulieren«. Auch hier halluziniert sich der Kurator gleich eine ganze Bewegung zusammen, deren Stifter und Gönner er selbst werden will. Das Kuratorenteam der Biennale, zu dem außer Žmijewski und der russischen Gruppe Voijna die Kuratorin Joanna Warsza gehört, verlautbarte in einem Willkommensbrief an die »Aktivisten«, dass man sich über die Zusammenarbeit mit »GlobalSquare« freue und ihnen garantiere, dass jede »Einflussnahme« der Organisatoren der Biennale auf die Platzbesetzer ausgeschlossen bleibe. Die Teilnehmer dürften »autonom« über ihren »Raum« und dessen Nutzung verfügen und würden nicht der Logik der Institution folgend »ausgestellt«.
Doch was soll in einem Ausstellungsgebäude mit einer versprengten Gruppe »Aktivisten«, die vor einem internationalen Fachpublikum Demokratie performen sollen, denn eigentlich anderes geschehen? Man kann nur hoffen, dass die Eingeladenen den Raum entweder verwaisen lassen oder seine institutionellen und materiellen Grenzen aufzeigen.

Im Namen der Gemeinschaft

Die Großzügigkeit der Kuratoren gegenüber den »Aktivisten« in ihrer Mitte ist Ausdruck des Unwillens der Biennalemacher, sich überhaupt ernsthaft mit der politischen und gesellschaft­lichen Funktion ihrer eigenen Veranstaltung auseinanderzusetzen, und spiegelt das Unvermögen, internationale »Bewegungen« anders als mittels Casting mit in Berlin ansässigen künstlerischen und politischen Gruppen zusammenzubringen. Doch diese Unfähigkeit habe, so ereifert sich Žmijewski, ihren schlimmen Grund: Die Künstler im »postpolitischen« Berlin hätten vergessen, »dass nur das Wirken für die eigene Gemeinschaft einen Sinn hat, ohne sie geht jeder Sinn verloren«. Der Begriff der Gemeinschaft wird auf der Berlin Biennale ausdrücklich ethnisch, religiös, vor allem aber national bestimmt. In ihrem Appell reproduziert die Biennale die üblichen Appelle an Gott, Nation und Staat als Garanten der Vergemeinschaftung und bemüht reaktionäre Stereotype einer repressiven Massenkunst, die den gemeinschaftlichen Zusammenhalt ihres Pub­likums durch affektive Überwältigung sicherstellen soll: »Ich habe mich«, erklärt Žmijewski, »gefragt, ob sich Menschen mittels der Sprache der Kunst in einen ideologischen oder religiösen Erregungszustand versetzen lassen. Könnten Künstler dieselben manipulativen Fähigkeiten erwerben wie Politiker?«
Im Licht dieser Aussage gewinnen zwei ­Aspekte der Biennale besondere Bedeutung. Žmijewskis erste Handlung als Kurator war ein »Open Call« an Künstler weltweit, die er dazu aufrief, sich ausdrücklich politisch zu »positionieren«. Während die Radikalität der Kunst in den Schwellenländern durch die dort existierende staatliche Zensur bewiesen werde, müssten sich die Tabubrüche hierzulande gegen das »PC-Establishment« mit seinem Primat politischer Korrektheit und gegen das globalisierte »postideologische« Berlin richten. Immerhin hat Žmijewski es mit dieser simplen Logik geschafft, dass sich weder politische Gruppen noch ernstzunehmende Künstler, die politisch arbeiten, zur Kooperation mit ihm bereit erklärten. Gerade Žmijewskis Umgang mit der deutschen Erinnerungspolitik, in der seine Ästhetik des autoritären Tabubruchs zu sich selbst kommt, war ein wichtiger Grund für diese Ablehnung.
Außerdem hatte Žmijewski vor gut einem Jahr bereits einen ebenso breit wie wahllos angelegten Versuch unternommen, die sich politisch verstehenden Teile der Berliner Kunstszene in sein Vorhaben einzubeziehen. Mit der heute bereits fast vergessenen Publikation »P/Act for Art« hatte er 2011 versucht, sich in die damals noch virulente Diskussion um die Bemessung und Verteilung kultureller Fördergelder durch den Berliner Senat einzuschalten. Er lud unzählige Kunstproduzenten, Künstler und Autoren für die »kostenneutrale« Produktion eines Halbseiters zur Berliner Kulturpolitik ein. Rund 50 folgten der Einladung, doch in der Folge erklärte sich nicht ein einziger von ihnen bereit, Žmijewskis Bemühungen zu unterstützen. Sogar die Berliner Künstlerinitiative »Haben und Brauchen«, deren kunstpolitisches Engagement Žmijewski für sich in Anspruch nehmen wollte, mochte nicht als Identifikationsfigur zur Verfügung stehen. Im Gegensatz zu Žmijewski ging es ihnen, wie auch anderen Angesprochenen, um die Herstellung und den Ausbau selbstorganisierter Produktionsformen, nicht um die Spektakularisierung von Žmijewski zum politisch-ästhetischen Erlöser.
In diesem Zusammenhang sind Žmijewskis Selbstinszenierung sowie das Auswahlverfahren, das ihm seinen Job bescherte, zu beurteilen. Ein wesentliches Moment seiner Selbstdarstellung auf der Website der Biennale ist der exhibitionistischer Sozialautismus, mit dem er vor allem in Interviews kokettiert, eine ganz spezielle Form der Subversion, eine beleidigt und motzig zur Schau getragene Unangepasstheit gegenüber dem verhassten Galerie- und Ausstellungsbetrieb, deren fester Bestandteil er allerdings ist. Žmijewskis vermeintlich radikale ­Politik ist die abgeschmackteste und zugleich modernste Form von Stellvertreterpolitik. Die Stellvertreter sind diesmal nicht die Steineschmeißer, die Hausbesetzer, die verheerten Säufer, Kabelbrenner und Drogenopfer, sondern radikale »Denker« und »Hedonisten«, die der Kunstbetrieb besonders gern gerade wegen ihrer ostentativen Politikferne als »politisch« labelt und romantisch überhöht. Auch Žmijewski bleibt mit Vorliebe »ganz weit draußen« und holt sich tagespolitische Schützenhilfe von engagierten afrikareisenden Videofilmern, interkulturellen Kunstgärtnern und Deputierten der Vertriebenenverbände. Dazu passt, dass die Berlin Biennale sich ohnehin gern als dezentral darstellt, als freie Assoziation engagierter Einzelner und autonom agierender Bewegungen. Dieses Selbstverständnis findet in Žmijewskis Auffassung von Ästhetik seine angemessene Form.
In den vergangenen 20 Jahren, mit dem Aufstieg der Biennalen als staatlich oder – im Namen zivilgesellschaftlichen Engagements – auch privat finanzierte Tauschplätze für »politische Kunst«, haben sich die Biennalen zugleich in immer direktere Abhängigkeit von ihren regionalen Produktionsmitteln und politischen Zwecksetzungen begeben. Darin unterscheiden sie sich nicht von dem kapitalistischen Kunstmarkt, den Žmijewski so verachtet. Die stereotypen, zum Politikum stilisierten Großevents sind also in gewisser Weise tatsächlich politisch – doch eben nicht im Sinne eines Wagnisses und gar einer Erlösung. Ihr einziger Zweck, ihre einzige Existenzberechtigung liegt in der Affirma­tion der jeweiligen, vorweg beschlossenen gesellschaftlichen Übereinkunft. So promoten sie die bekannten Themen des Postkolonialismus, etwa Ökologie bei den Biennalen in den Emiraten oder vermeintliche kulturelle Exzellenz, wie in Istanbul oder Sao Paulo, oder eben, wie nun auf der Berlin Biennale, die nationale Brauchbarkeit einer sich kritisch verstehenden Kunst. Žmijewski wurde, wie bei allen Biennalen üblich, von einer für die Region politisch und ökonomisch repräsentativen Jury ausgewählt, darunter die Gründungsdirektoren der Kunstwerke sowie Vertreter der Bundeskulturstiftung. Da er zuvor bereits durch seine eigenen künstlerischen Arbeiten für genau das bekannt war, was er jetzt in Berlin auslebt, dürfte sein unverschämter bis alberner Umgang mit der Shoa, der dem autoritären Exhibitionismus deutscher Erinnerungspolitik entgegenkommt, für seine Wahl von entscheidender Bedeutung gewesen sein.

Auf die Plätze, fertig, los

Der Großteil der von der diesjährigen Biennale präsentierten Arbeiten reduziert Kunst darauf, eine Art stolzes Schimpfwort zu sein: eine ständig übersteuerte Bild- und Performancemaschine, deren Ästhetik ohne die als reaktionär denunzierten Momente von Schönheit, Poesie und Kontemplation auskommt. Dabei entkommt sie allerdings dem Spektakel nicht, sie inszeniert vielmehr ein neues: Sie möchte die Sphäre des Ästhetischen durchbrechen, um ins authentische Draußen zu gelangen – zu den echten Widerständigen, in die Zeltcamps der Occupisten und die Flüchtlingslager der Vertriebenen. In der dabei entstehenden Abfolge von »Erregungszuständen« und »Ereignissequenzen«, wie Žmijewski diese Ausbruchsversuche nennt, kehren altbekannte politische Feindbilder und Projektionen wieder. In der neuen Ausgabe der östrreichischen Kunstzeitschrift Camera Austria International, die der »Occupy«-Bewegung gewidmet ist, prangern die Aktivisten denn auch die »außer Rand und Band geratenen Finanzmärkte« an, die »globale Gesellschaftsordnung, die den Gewinn Einzelner über das Gemeinwohl, über die Menschlichkeit stellt«, sowie einen »Kapitalismus, der den Einsatz von Geld deutlich überbewertet gegenüber dem Einsatz von Ideen und menschlicher Arbeit«, weil »Wachstum, Profit und Produktivität« für ihn »die einzigen Maßstäbe sind«. Es wird ein staatlich in menschliche Bahnen gelenkter Kapitalismus gefordert, der die Arbeit gegen das Geld, den Einzelnen gegen das »Gemeinwohl« ins Feld führt. Für die Düsseldorfer »Occupy«-Bewegten dominieren »die Ökonomisierung und die entsprechende materialistische Wertgrundlage alle Bereiche unseres Lebens. (…) Von Werten wie Mitmenschlichkeit und Solidarität, Integrität, Vertrauen und Ehrlichkeit ist keine Rede mehr. Stattdessen haben sich Wörter wie Konkurrenz, Gewinne, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit fest in unsere Köpfe eingebrannt. Wir haben es im Land der Dichter und Denker mit einer intellektuellen und emotionalen Heimatlosigkeit zu tun, die in der Geschichte ihresgleichen sucht.« Nation, Heimat und moralischer Anstand sollen kompensieren, was durch den Missbrauch Einzelner korrumpiert worden sei.
Die neuen Fürsprecher dieser Anständigkeit werden auch gleich empfohlen: Die Künstlerin Marina Naprushkina aus Weißrussland etwa wird als Nachfolgerin Alexander Lukaschenkos empfohlen. Sie hat kleine Comiczeichnungen in Umlauf gebracht, die Slogans von Demonstrationen, deren genauer Herkunftsort ungenannt bleibt, bildlich darstellen. »We decide«, lautet einer von ihnen, oder auch: »The president is for the people not the people for the president«. Ein starker Staat soll entstehen, der die regionale Wirtschaft fördert und nicht nur die Künstler vor der »wilden« Preisbildung des globalen Marktes schützt. Wer genau das ständig angerufene »Wir« ist, bleibt selbstverständlich unklar, obgleich es sich erschließen lässt aus dem Reversbild der Feinde, der globalisierten, profitgierigen Individualisten und Taugenichtse, die sich nicht in den Dienst der das Volk einigenden großen Idee stellen. Es geht vor allem darum, dieses »Wir« einer Bewegung erst performativ zu erzeugen, wobei der Rahmen der Nation nie verlassen wird.
Die Affirmation nationaler Kollektive zieht sich durch all jene Beiträge zur 7. Biennale, die sich indirekt oder direkt mit den Konsequenzen des Nationalsozialismus befassen. Die Biennale präsentiert sich als idealdemokratisches Künstlerkabinett, in dem Begriffe wie »Vertreibung« heterogene historische Prozesse derart amalgamieren, dass eine Geschichte der subalternen europäischen und internationalen ­Opfergemeinschaft des globalen Kapitalismus entsteht. Alle Opfer fungieren dabei als »Vertriebene«: Vertriebene, das sind zeit- und gesellschaftsübergreifend die Palästinenser in Israel, die verfolgten und ermordeten polnischen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus und die ehemaligen Sudetendeutschen in Polen. Alle sind sie Opfer, und alle Opfer sind Volk, ob sie sich selbst als solches verstehen oder nicht.
Die Interessen sowohl der Kulturstiftung des Bundes, als maßgeblichem Finanzier der Biennale, wie auch der Berliner Kunstwerke als ihrem Hauptaustragungsort, aber auch der üb­rigen Sponsoren, vor allem des Goethe-Instituts, des British Council, der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und des Österreich­ischen Kulturforums konvergieren in diesem Punkt: Es wird national gefördert. Um die Geschichte des Nationalsozialismus und des Antisemitismus geht es dabei jedoch niemals explizit. Vielmehr inszeniert sich die Hauptstadt mit der auf der Biennale betriebenen nationalen Identitäts- und Befriedungssuche als universale Bühne potentiell aller Kriege und internationaler Konflikte in der Welt.
Deshalb verwundert es nicht, dass Yael Batanas fiktive, durch Videoarbeiten, Erzählungen und Konferenzen simulierte Bewegung »Jewish Renaissance Movement«, die für die Rückkehr von 3 300 000 Jüdinnen und Juden nach Polen wirbt, in friedlicher Koexistenz mit dem Bund der Vertriebenen und dem Deutschland-Haus am selben Ort ein Forum findet. Die Parallelisierung der deutschen »Vertriebenen« mit den verfolgten polnischen Juden wird von Erika Steinbach seit langem propagiert, nur weiß bei ihr jeder, mit wem er es zu tun hat. Wenn nun Polen und sogar Juden selbst diese Geschichtsfälschung betreiben, wird die alte Ideologie als politisch korrekte Praxis wiedergeboren, obgleich sich an der Sache nichts geändert hat.
Während Yael Bartana eine unfreiwillige Parodie des Zionismus als vermeintlich austauschbares Gemeinschafts- und Bewegungsprojekt unter Berufung auf Leni Riefenstahl inszeniert, spenden die deutschen Vertriebenen, die sich als »Betroffene von Zwangsmigrationen und deren Nachfahren« verstehen, persönliche Gegenstände für das Deutschland-Haus, »die an erzwungenen Heimatverlust erinnern«. So wie die Israelis mit polnischem Hintergrund Bartana zufolge nach Polen zurückkehren sollen, sollen auch die Palästinenser selbstverständlich nach Israel zurückkehren dürfen. Aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Aida ist ein Tonnenschwerer Schlüssel, der »Key of Return«, angeblich der größte Schlüssel der Welt, eigens für die Biennale nach Berlin transportiert worden. »Seit dem Massenexodus in den Jahren 1948 und 1967«, heißt es dazu auf der offiziellen Website der Biennale, »warten Generationen von Paläs­tinensern in zahlreichen Flüchtlingslagern in Palästina und dem Nahen Osten auf die Erfüllung eines ›Rückkehrrechts‹.« Mit der eigenen künstlerischen Intervention wolle man einen »Neunanfang setzen, jenseits aller biographischen, nationalen und sozialen Konflikte«.
Die unnaiv auftrumpfende Naivität und der ihr korrespondierende Friedenswille machen sich blind gegen Politik, sie verleugnen nicht nur alle subjektiven Interessen, Ängste und histo­rischen Zusammenhänge, sondern auch die antisemitischen, reaktionären und menschenfeindlichen Ressentiments der zum Opferkollektiv zusammengeschweißten Individuen selbst. Dass neben dem »Key of Return« auch ein Hinweis darauf angebracht sein wird, dass der Palästinensische Legislativrat 1995 einstimmig die Todesstrafe für Araber befürworte, die ihre Haustürschlüssel an Juden übergeben, ist nicht anzunehmen. (1)
Niemand jedenfalls wird durch den »Key of Return« irgendeine neue ästhetische Erfahrung machen, das Werk ist die Monumentalbebilderung einer stereotypen Meinung, die sich den Anschein des mühsam Erkämpften, des Märtyrerhaften gibt. Es ist zu vermuten, dass der Schlüssel die einzige künstlerische Arbeit zum israelisch-palästinensischen Konflikt auf der Biennale bleibt, wie schon zahlreiche Arbeiten vor ihm auf internationalen Staatskunstshows. Die politische Situation der Israelis und Paläs­tinenser, die Frage, ob sich unter diesen überhaupt alle eine Rückkehr wünschen und welche Gründe sie dafür haben, spielt bei all dem ebenso wenig eine Rolle wie die jüngst ausgerechnet von Norman Finkelstein geäußerte Kritik, wonach die Forderung internationaler Ak­tivisten nach einem Rückkehrrecht für Palästinenser nicht anderes als ein Plädoyer für die Zerstörung Israels sei.

Schwache Juden, starke Juden

Immerhin hat bisher noch niemand ein Rückkehrprojekt der Deutschen nach Polen vorgeschlagen. Allerdings liegt der Grund dafür liegt wohl eher darin, dass Deutschland als Nation und Staat anerkannt wird, Israel jedoch als ewiger Sonderfall und angemaßtes Staatsgebilde gilt. Bartana legt mit ihrem »Renaissance«-Projekt nahe, dass die polnischen Juden in Israel den Wunsch verspüren sollten, in das Land ihrer ermordeten oder geflohenen Großeltern oder Eltern zurückzukehren. Vom Antisemitismus in Polen ist so wenig die Rede wie von der polnischen Kollaboration mit dem nationalsozialis­tischen Deutschland. Die Stunde Null soll endlich schlagen, die Geschichte zu Ende sein, wer dabei nicht Schritt hält und den ästhetischen Uno-Generalsekretären nicht folgt, ist verbohrt, verkorkst, ja vielleicht gar bösartig. »Forget Fear«, lautet die konsequente Parole, die auch den Titel des zur Biennale erschienen Readers abgibt, und Žmijewski verkündet im Katalog der sich selbst als kritisch und subversiv bewerbenden Veranstaltung ausdrücklich, dass er sich in der »deutschen Debatte« nun endlich den Schlussstrich wünsche.
Bartana schließlich parallelisiert Israel mit dem »Dritten Reich«, wenn sie behauptet, die Araber in Israel seien heute, was damals die Juden in Europa waren. Israel habe als Staat versagt, da es den Juden keine Sicherheit bieten könne, deshalb müsse über Alternativen nachgedacht werden. Bartana macht sich mit ihrem Rückkehrprojekt zur Prophetin einer neuen Völkerwanderung, die von dem zehrt, was der Zionismus schuf, blendet jedoch den Antisemitismus ebenso vollständig aus wie die Erfahrung der Shoa: Diese sei vielmehr ein Instrument in den Händen der rechten Propaganda, sagt sie in einem Interview in dem Band »Forget Fear«. Dass es widersinnig ist, einerseits den israelischen »Rechten« die Instrumentalisierung der Shoa zu unterstellen und anderseits die Situation der Araber mit den verfolgten Juden in Europa zu vergleichen, erkennt sie nicht. Bartanas affirmative Orientierung an Leni Riefenstahls Ästhetik ist also keineswegs einfach als faschistische Denunziation der zionistischen Bewegung zu verstehen. Sie imaginiert vielmehr affirmativ einen Kulturzionismus ohne Israel, einen re-europäisierten Zionismus, der den jüdischen Staat nicht braucht. Konsequenterweise wird die israelische Nationalhymne in Bartanas für die Biennale erarbeiteter Performance rückwärts gespielt. Warum aber irgendjemand – außer im Namen der großen Idee – in Polen statt in Israel leben sollte, welche Wünsche sich an ein solches Leben knüpfen ließen und welche Sicherheiten man dafür aufgäbe, solche Fragen erscheinen ihr sekundär. Jobs hat Bartana nicht zu vergeben, und sie selbst erklärt unumwunden, sie würde einen solchen Umzug niemals wagen. Unter dem Bewegunsdiktat der Biennale tritt ihr Projekt nicht als Utopie, sondern als realpolitisches Programm auf, das allerdings die tatsächlichen politischen Kräfteverhältnisse gerade ignoriert. Israels vermeintliches Scheitern als Garant jüdischer Sicherheit erklärt sie damit, dass die »polnischen Führungseliten« ebenso schuldig seien wie die Europäer im Allgemeinen. So lautet eine der Fragen des während der Biennale stattfindenden Kongresses des »Jewish Renaissance Movement«, auf welche Weise Israel »ein Teil des Nahen Ostens« werden könne. Während sich oppositionelle Bewegungen im sogenannten Nahen Osten gerade die Frage stellen, wie sie Teil des Westens werden können, möchte Bartana Israel in den in postkolonialer Manier als »Kulturraum« begrif­fenen Nahen Osten integrieren. Dass dieses Programm auch als Erneuerungsprogramm des »Judentums« verkauft wird, erhellt aus einem Interview mit Žmijewski und dem polnischen Literaturkritiker Igor Stokfiszewski, in dem letzterer selbstbezichtigend klagt: »Wir töten, besetzen und erniedrigen. (…) Wir sind zu stark.« Zu stark sein, brutal und unmenschlich sein, das heißt ein Israeli sein. Ein Jude sein aber bedeute, schwach zu sein, und diese Schwäche, darin sind sich die drei einig, werde heute wieder gebraucht. Für Bartana ist das jüdische Volk durch die Gründung des Staates Israel zunichte gemacht worden, es soll daher in Europa wiedergeboren werden.
Das Programm, das all diese Äußerungen bestimmt, ist die Mystifikation des Kollektivs gegenüber den modernen Nationen, die Ersetzung der politischen Staats- durch die Völkerseelenkunde: Jeder Antisemit dürfte frohlocken bei der These, dass der schwache »Jude« in der nationalstaatlichen Normalität zwangsläufig aggressiv werde. Immerhin gesteht Bartana noch ein, sie selbst habe durchaus Angst vor der internationalen propalästinensischen Bewegung. Žmijewski hingegen ist bereits weiter und wehrt ihre berechtigte Frage »Was wollen die wirklich?« mit der lässigen Aufforderung zur Angstfreiheit ab: »Forget Fear«. Unter dieser Parole wird aus Auschwitz ein Garteneinsatz: Als Erinnerung an Auschwitz pflanzt der polnische Künstler Łukasz Surowiec junge Birken aus Birkenau in Berliner Erde, angeblich sind sie »aus der Asche der Ermordeten« gewachsen. Auch dies ist weder ein ökumenisches Versöhnungsprogramm des Evangelischen Kirchentags noch ein pädagogisches Erlebnisprojekt für Elfjährige, sondern ein Projekt der Berlin Biennale.
Die von Žmijewski ausgerufene Parole vom »künstlerischen Pragmatismus« spielt mit der Ambivalenz des Begriffes des Pragmatischen selbst. Als realpolitische Fähigkeit am Stammtisch gefeiert, um eben gegen die Träumer, Utopisten und Idealisten in Anschlag gebracht zu werden, wird sie von Žmijewski auch dem anwendungsorientierten Künstler empfohlen. Dabei geht es freilich um nichts Profanes wie die Deckung des eigenen Lebensunterhalts durch die künstlerische Arbeit. In »Forget Fear« wird solch profaner Pragmatismus vielmehr negativ als »künstlerische Immunität« gegen den wahren »künstlerischen Pragmatismus« abgegrenzt, der eben im Namen der großen Idee und nicht des eigenen Lebens praktiziert wird. Dabei wird bewusst im Unklaren gelassen, gegenüber wem oder was die Künstler immun seien und wodurch diese Immunität garantiert werde.
In Žmijewskis Kunstverständnis liegt ein Moment, das für die politische Kunst am Anfang des 21. Jahrhundert immer stärker charakteristisch zu werden droht. Žmijewski betreibt eine spezifische Form von Politik in der Kunst, die sich als »politische Kunst im Zeitalter ihrer staatlichen Verwertbarkeit« beschreiben lässt. Das Politische dagegen, zu dem künstlerische Praxis vielleicht im Stande sein mag, müsste darauf zielen, zu reflektieren, wie sich in ihr im spezifischen Fall die gesellschaftliche Konstellation abbildet, der sie unterstellt ist, wie sie ästhetisch produziert und damit politische Gesinnung reproduziert. Wo die Kunst dagegen offen zur politischen Propaganda übergeht, ist sie politisch anzugreifen, wie jede Politik.

Anmerkung:
(1) Dieses Gesetz wurde auf Grundlage eines jordanischen Gesetzes gebilligt, das bis zum Sechs-Tage-Krieg in Kraft gewesen ist. Der Mufti von Jerusalem, Ikrama Sabri, und der palästinensisch islamische Oberste Richter, Scheik Taysir Tamimi, stellten Erlasse aus, die das Töten von Arabern autorisierten, die Grundbesitz an Juden verkaufen.
In der Gruppe Rosa Perutz sind Künstler und Künstlerinnen sowie andere Interessierte organisiert, die sich seit 2009 vor allem kritisch mit dem Nationalismus in der Kunst und mit deren Produktions- und Reproduktions­bedingungen beschäftigen.