Machtkampf in der chinesischen KP

Roter Politthriller

In China sorgt der Skandal um den gestürzten Parteifunktionär Bo Xilai weiter für Aufregung. Die Parteiführung fürchtet eine Spaltung und geht bereits rigoros gegen Gerüchte über Meinungsverschiedenheiten in ihren Reihen vor.

Erst verlor Bo Xilai alle Ämter, nun verhafteten die Behörden seine Frau Gu Kailai wegen Mordverdachts. In China nimmt die Affäre um den gestürzten Parteivorsitzenden von Chongqing die Züge eines Politthrillers an. Die chinesische Regierung betont, einen politischen Machtkampf innerhalb der Partei gebe es nicht. Angesichts des bevorstehenden Generationenwechsels an der Staats- und Parteispitze im November reagiert sie aber schon auf Gerüchte äußerst gereizt.
Bo galt bis vor kurzem noch als Anwärter auf einen Posten im ständigen Ausschuss des Politbüros der Kommunistischen Partei (KPCh). Die 30 Millionen Einwohner zählende Stadt Chong­qing galt als »rotes« Gegenmodell zum wirtschaftliberalen Süden des Landes (Jungle World 2/2012). Nun soll Bo unter Hausarrest stehen. Bisher verkündete das Parteiorgan, die Volkszeitung, nur, dass Bo gegen die Parteidisziplin verstoßen habe und seine Familie in einen Mordfall verwickelt sei. In China wird offiziell vom »Wang-Lijun-Zwischenfall« gesprochen. Wang Lijun war unter Bo Polizeichef in Chongqing. Er leitete die berühmt-berüchtigten Kampagnen zur Zerschlagung der lokalen Mafia. Nach seiner Degradierung durch den Parteivorsitzenden floh Wang im Februar in das US-Konsulat, angeblich mit Bo belastendem Material. Auf Druck der chinesischen Behörden verließ er das Konsulat allerdings wieder und wurde ausgeliefert. Nun werden Bo selbst Machtmissbrauch und Korruption vorgeworfen.

Eine zentrale Rolle in der dubiosen Geschichte spielt der britische Geschäftsmann Neil Heywood. Der Brite lernte die Familie Bos kennen, als er in Dalian in den neunziger Jahren als Englischlehrer arbeitete. Bo war von 1994 bis 2000 Bürgermeister der ostchinesischen Hafenstadt, die zum Anziehungspunkt für westliche und japanische Investoren wurde. Heywood wurde schließlich der Geschäftspartner von Bos Frau Gu Kailai. Nun heißt es, Heywood soll ihr geholfen haben, Vermögen im Wert von über 100 Millionen US-Dollar ins Ausland zu transferieren. Nach der offiziellen Version kam es zu Streitigkeiten zwischen Heywood und Gu. Der britische Staatsbürger wurde dann im November tot in seinem Hotelzimmer gefunden. Die Polizei in Chongqing gab damals »Alkoholmissbrauch« als Todesursache an. Die Leiche wurde sofort eingeäschert. Nun wird der Fall neu aufgerollt, da Gu unter Verdacht steht, Heywood mit Hilfe eines Mitarbeiters ermordet zu haben.
Die staatliche Nachrichtenagentur Neues China verkündete am 18. April, dass der Sturz von Bo eine Warnung an alle Funktionäre sei, die ihre Macht missbrauchen. Bisher hat die Parteiführung keine offene Kritik an Bos »Chongqing-Modell« geübt. Mit populistischen Kampagnen gegen die Mafia und einer Bewegung zum Singen »roter Lieder« hat sich Bo in ganz China einen Namen gemacht. Die Vorhaben, zwei Millionen subventionierte Sozialwohnungen bauen zu lassen und drei Millionen Bauern Zugang zum städtischen Sozialstaat zu gewähren, waren ­seine Antwort auf die wachsende soziale Ungleichheit. Dass Bo nun selbst Machtmissbrauch vorgeworfen wird, zerstört das Image des »roten« Chongqing. Ihn als antikapitalistischen Altmaoisten darzustellen, war ohnehin eine Finte seiner Gegner. Chongqing ist ein attraktiver Standort für internationale Konzerne und war im vergangenen Jahr mit über 16 Prozent Wirtschaftwachstum die am schnellsten wachsende Stadt Chinas.

Premierminister Wen Jiabao äußerte auf einer internationalen Pressekonferenz am 14. März indirekte Kritik: Korruption und ungerechte Verteilung könnten nur überwunden werden, wenn sich auch das politische System weiter reformiere. Darunter versteht er die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und Institutionen. Liberale Kritiker warfen Bo vor, während der Kampagne gegen die Mafia rechtsstaatliche Prinzipien verletzt zu haben. Wen warnte, dass sich die Tragödie der »Kulturrevolution« (1966–1976) wiederholen könnte, wenn Chinas drängende Probleme nicht gelöst würden. Meinte er damit, dass ein Machtkampf in der Parteiführung das Land in ein Chaos stürzen könnte, oder dass die Massen gegen korrupte Kader rebellieren und Anarchie verbreiten könnten? In den vergangenen 30 Jahren haben die Reformkräfte gerne die Erinnerung an die Kulturrevolution instrumentalisiert, um Kritiker der Kapitalisierung Chinas mundtot zu machen. Die Äußerung Wens ist besonders interessant, da es angeblich keinen Machtkampf gibt.
Auch die offizielle Zeitung Global Times betonte am 19. April, dass der Sturz Bos keinen Einfluss auf die Gesellschaft habe. Es gebe keinen »Kampf um die Linie«, aber lokale Regierungen hätten nicht das Recht, ihre Methoden der Zentralregierung aufzudrängen. Die KPCh gewährt oft verschiedenen Fraktionen in der Partei Spielräume, in lokalen Modellen ihre Ideen umzusetzen, um eine Spaltung der Partei zu verhindern. Bo scheint mit seiner Werbung für sich und Chongqing zu weit gegangen zu sein. Durch die Flucht Wang Lijuns in das US-Konsulat und den mutmaßlichen Mord an einem britischen Staatsbürger bekam der Fall internationale Dimensionen. Die Parteiführung konnte die Affäre um Bo nicht mehr hinter geschlossenen Türen bereinigen, sondern musste in aller Öffentlichkeit erklären, dass ein Mitglied des Politbüros und seine Frau in einen Korruptions- und Mordfall verwickelt seien. Der Skandal schadet auch dem Ansehen der KPCh.

Die Stimmung in der Parteiführung scheint im Moment enorm angespannt zu sein. Die Polizei verhaftete mehrere Bürger, die im Internet Gerüchte von einem Militärputsch in Peking verbreitet hatten. Am 6. April wurde im Editorial der Armeezeitung Liberation Daily betont, dass die Soldaten unter allen Umständen den Befehlen der Militärkommission des ZK unter Führung von Hu Jintao gehorchen müssen – als sei dies keine Selbstverständlichkeit. In den ersten Aprilwochen wurden über 42 Websites gesperrt und 210 000 Postings von der Internetpolizei gelöscht. Auch linke und altmaoistische Websites wie »Mao Flag« oder »Red China« wurden gesperrt. Den Betreibern der wichtigsten linkspopulistischen Website »Utopia«, die bis zu 500 000 Aufrufe täglich verzeichnet, wurde vorgeworfen, die Verfassung zu verletzen und bösartige Angriffe auf Staatsführer zu verbreiten. Für diese Vergehen kann man in China zu zehn Jahren Haft verurteilt werden. Zeitweilig posteten Hacker auf der gesperrten Seite: »Egal ob ihr uns sperrt, wir unterstützen weiter Bo Xilai.« Viele Unterstützer der Website Utopia sind nicht grundsätzlich gegen die Herrschaft der KPCh, sondern fordern nur eine sozial gerechtere Politik und eine positivere Bewertung Mao Zedongs.
Der Sturz Bos ist die spektakulärste Krise in der KP-Führung seit den Protesten von 1989. Dass Tausende Pekinger Bürger den Platz des Himmlischen Friedens überhaupt für sechs Wochen besetzen konnten, war nur aufgrund der Spaltung der innersten Führung möglich. Sie paralysierte das ganze politische System, bis sich schließlich die Befürworter des Armeeeinsatzes durchsetzten. Vor diesem Hintergrund fürchtet die Führung nichts mehr als eine Spaltung. Mit Bo hat der links­populistische Flügel seine wichtige Galionsfigur verloren. Die KP-Führung hofft, dass sich bis November die Aufregung wieder legt, so dass die neue Führung auf dem 18. Parteitag ohne Zwischenfälle die Macht übernehmen kann. Das könnte gelingen, da anders als bei der Kulturrevolution die Auseinandersetzungen an der Parteispitze noch keinen großen Widerhall in der Gesellschaft gefunden haben.