Der Streit um die Lohnuntergrenze

Vorbild ostdeutsche Friseure

Die Bundesregierung streitet sich über die Einführung einer Lohnuntergrenze.

Die Forderung nach verbindlichen Lohnuntergrenzen hatte die CDU schon auf ihrem Parteitag in Leipzig im November vorigen Jahres beschlossen. Nicht zuletzt, um der SPD und der Linkspartei für anstehende Wahlkämpfe das Thema Mindestlohn aus der Hand zu nehmen und die CDU als Wahrerin des sozialen Friedens zu inszenieren. Der Begriff Mindestlohn wurde von der CDU penibel vermieden, um den Wirtschaftsflügel der Union nicht zu reizen, vor allem aber, weil eine Lohnuntergrenze etwas völlig anderes ist als ein gesetzlicher Mindestlohn. Das Konzept der CDU sieht eine paritätisch aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern bestehende Kommission vor, die über die Höhe einer allgemeinverbindlichen Lohnuntergrenze entscheidet. Diese soll allerdings nur in Bereichen ohne tarifvertraglich festgelegte Löhne gelten. Die Mitglieder der Kommission sollen ausschließlich von den Spitzen­organisationen der Tarifparteien vorgeschlagen werden. Die Kommission soll ohne Einwirkung von außen einen Streitschlichtungsmechanismus festlegen, der greift, wenn die nötige einfache Mehrheit nicht zustande kommt. Sollten sich die Partner nicht auf einen Schlichter einigen können, sollen zwei Persönlichkeiten benannt werden, unter denen gelost wird.

Über die konkrete Höhe der Lohnuntergrenze wird nichts gesagt, und das hat einen Grund. Die Forderung der CDU nach verbindlichen Lohnuntergrenzen in nicht tarifvertraglich regulierten Branchen ist auch ein Versuch, dem wachsenden Druck von SPD und DGB-Gewerkschaften für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro zu begegnen, von Teilen der Linkspartei und einem bundesweiten Kampagnenbündnis werden derzeit zehn Euro Mindestlohn gefordert. Man kann davon ausgehen, dass die von den Unionsparteien favorisierten Lohnuntergrenze weit unter einem gesetzlichen Mindestlohn liegen würden. Denn die Arbeitgebervertreter in einer entsprechenden Kommission würden das jeweils bestehende Lohnniveau einer Branche als Ausgangspunkt für moderate Mindestregelungen betrachten. In Bereichen wie dem ostdeutschen Friseurhandwerk, in dem durchschnittlich nur 3,50 Euro Stundenlohn bezahlt werden, dürfte die Lohnuntergrenze nach harten Verhandlungen wohl nicht bei mehr als fünf Euro liegen.
Die Forderung nach einer Lohnuntergrenze war nach dem Beschluss auf dem Parteitag für fast ein halbes Jahr in Vergessenheit geraten. Ein ernsthaftes Anliegen schien sie nicht zu sein. Mittlerweile ist Wahlkampf. Passend dazu haben CDU und CSU kürzlich einen konkretisierten Lohnuntergrenzen-Kompromiss präsentiert. Er soll der CDU in Nordrhein-Westfalen »einen kräftigen Schub« bescheren, wie Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) unumwunden zugab. Die PR-Maschinerie der CDU bemüht sich derzeit eifrig darum, aus diesem Kompromiss eine Kampagne zu machen. Dazu passt, dass auch der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion im Bundestag, Peter Weiß, plötzlich bemerkte, dass 18 Prozent aller Beschäftigten weder tarifgebunden noch tariforientiert entlohnt würden.

Während CDU und CSU versuchen, sich als bessere Sozialdemokraten zu verkaufen, sieht ihr Koalitionspartner FDP die Möglichkeit gekommen, seine Wählerschaft zu mobilisieren, indem er versucht, sich als kompromissloser Gegner jeder Art von Lohnuntergrenzen zu profilieren. Die FDP setzt auf eine bereits in fall der insolventen Drogeriekette Schlecker erprobte Strategie der Unnachgiebigkeit. Für die FDP hat sich der Zynismus gelohnt, mit dem sie Hilfen für die Mitarbeiterinnen von Schlecker ablehnte. Nachdem die Partei über Monate in Umfragen unter der Fünf-Prozent-Hürde lag, stiegen ihre Umfragewerte.
Seit der Mindestlohn als wahlkampftaugliches Thema erkannt wurde, streitet die schwarz-gelbe Koalition. Der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler warnt vor Arbeitspatzabbau und sieht die Tarifautonomie in Gefahr, die FDP droht zum wiederholten Mal mit dem Bruch der Koalition. Der ehemalige nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann bekräftigt hingegen seine Entschlossenheit, die CDU-Variante eines Mindestlohns umzusetzen. Er sei überzeugt, dass die FDP nach der Landtagswahl am 13. Mai anders reden werden, sagte Laumann. Armutslöhne werden mit dieser Mindestlohnvariante nicht bekämpft, und ob der Mindestlohn unter einer CDU-geführten Bundesregierung umgesetzt wird, ist fraglich. Zunächst sorgt die FDP für eine Blockade, sollte es 2013 zu einer Neuauflage der Großen Koalition kommen, dürfte die CDU in den Koalitionsverhandlungen versuchen, mit ihrem Konzept der Lohnuntergrenze die SPD daran zu hindern, einen branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen.

Die gegenwärtige Diskussion ist auch ein Ausdruck der Unfähigkeit der Gewerkschaften, Tarifforderungen in den von prekären Beschäftigungsverhältnissen und Billiglöhnen geprägten Branchen durchzusetzen. Wäre es anders, könnte es sich weder die SPD leisten, das Thema Mindestlohn so zu instrumentalisieren, wie sie es tut, seit sie in der Opposition ist, noch wären CDU und CSU in der Lage, ihre Lohnuntergrenze als Mindestlohn zu verkaufen. Wie wirkungslos Gesetze und Regierungsbeschlüsse sind, wenn die Regierenden nicht durch Arbeitskämpfe unter Druck gesetzt werden, erkennt man auch daran, dass bereits Instrumente existieren, mit denen die Überausbeutung zumindest begrenzt werden könnte. Von Tarifparteien ausgehandelte Mindestlöhne für die gesamte Branche, und damit auch für nicht tarifgebundene Unternehmen, können für verbindlich erklärt werden. Derzeit ist das in elf Branchen der Fall, zum Beispiel bei den Beschäftigten des Baugewerbes, im Pflegebereich und der Gebäudereinigung. Eine weitere bereits bestehende Regelung ist das seit 1952 geltende Mindestarbeitsbedingungsgesetz, das die Möglichkeit vorsieht, für Branchen mit geringer Tarifbindung eine Kommission einzusetzen, die branchenspezifische Mindestlöhne festlegen kann. Dieser Fall ist noch nie eingetreten, weil er voraussetzt, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften sich darüber einig werden, dass in ihrem Bereich unvertretbar niedrige Löhne gezahlt werden. Und so weit ging die früher oft beschworene Sozialpartnerschaft dann doch nicht.