Eine antideutsche Erzählung

Nachtflug

Eine antideutsche Fliegergeschichte.

Am meisten freue ich mich immer noch über die Spekulationen in den Zeitungen. »Warum hat der das getan, warum?« fragen sich die Autoren der Artikel tief bestürzt, und dann werde ich vorgestellt. Ich sehe mich in Uniform und in meiner Fliegermontur, ich sehe mich in Zivil mit meiner Mutter und meiner Schwester, ja ich sehe mich sogar im Kindergarten, auf Bildern, von deren Existenz ich bis vor kurzem nichts wusste. Alles wird umgegraben, und wenn die Journalisten nichts mehr zum Umgraben finden, dann lügen sie das Blaue vom Himmel herab, um das Bedürfnis ihrer Leser nach Erklärungen zu befriedigen. Wenn man das ernst nimmt, was die von sich geben, dann leide ich an restlos allen je beschriebenen psychischen Krankheiten, gleichzeitig.
Und natürlich die Vaterlosigkeit, das ist einer ihrer großen Rettungsanker. Die Psychologinnen, die in den Talkshows auftreten, sagen am Anfang immer, dass sie sich nicht an Spekulationen beteiligen wollen. Und dann spekulieren sie los. Wenn sie erst einmal bei der Vaterlosigkeit angekommen sind, ist es gelaufen. Dann gibt es einen Schwenk ins Publikum. Dann werden die verhärteten Gesichter der Zuschauer abgefilmt. Und der eine oder andere gibt »Unmutsäußerungen« von sich. Das ist auch so ein schönes deutsches Wort, das ich schon immer gemocht habe, schon während des Studiums. Wenn diese Zuschauer wüssten, dass ich hier in meiner Zelle in Ramstein Fernsehen habe, wären sie noch empörter. Es ist ja einer von ihnen umgekommen bei meiner Aktion. Ein Unschuldiger. Und ihre schöne Kirche ist nur noch ein Haufen Schutt. Wenn sie die Briefe von ehemaligen Royal-Air-Force-Piloten lesen könnten, die täglich hier eintreffen, würden sie vor Wut wahrscheinlich ersticken. Auf jeden Fall möchten sie, dass ich hart bestraft werde. Von einer harten Strafe ist immer wieder die Rede. Und von deutscher Souveränität. Damit meinen sie, dass sie mich gerne in die Finger bekommen würden, um mich nach deutschem Recht zu züchtigen für das, was ich ihnen angetan habe. Der sächsische Innenminister hat die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert, unter anderem wegen mir. In Kaiserslautern wurde schon mehrfach gegen mich demonstriert. Nicht nur die Neonazis waren dabei, sondern auch die Grünen und die sogenannte Friedensbewegung. Auch sie haben Schilder von Hans Hermann Malinckrodt geschwenkt, dem Mann, den ich umgebracht habe. Dieser Name ist mir zu kompliziert. Ich nenne ihn immer nur »Herman«. Er war nicht mein erster Kollateralschaden, aber wahrscheinlich mein letzter. Hätten die feinen Grünen nur mal selbst etwas gegen die Kirche unternommen. Herman würde jetzt noch leben. Heute steht in der Zeitung, dass sie das Schmuckstück ein zweites Mal wieder aufbauen wollen. Aber es gibt Schwierigkeiten. Die beiden GBU-31 waren mit Uran-Penetratoren ausgerüstet. Das Gelände muss deswegen komplett saniert werden. Zwar sagt das Bundesamt für Strahlenschutz, dass die Radioaktivität vernachlässigbar sei, aber Uran sei nun einmal giftig, und fein in der Luft verteilte Uranstäube könnten in die Lungen der Leute gelangen usw. usf. Noch mehr deutsche Opfer. Ich, der Täter, werde den größten Teil meines restlichen Lebens hinter Gittern verbringen. Hoffentlich nicht in Deutschland. I can’t relax in Germany.
Ja, und warum ich das getan habe? Seit ich davon gehört hatte, dass die Kirche wieder aufgebaut werden sollte, hasste ich die Idee, das Projekt, die Leute, die damit zu tun hatten. Die Bilder aus der DDR beschrieben sie genau in dem Zustand, in dem sie sein sollte: eine Ruine auf einem leblosen Platz. Und in genau diesen Zustand habe ich sie wieder zurückversetzt, ich, der Terrorist. 93 Millionen Euro Schaden und ein Toter. Ich habe mich nicht einmal bei Hermans Familie entschuldigt. Terroristen entschuldigen sich nicht.
Die Deutschen sind jetzt moralisch so überlegen, das lieben sie. Längst setzen sie den Verlust ihrer feinen Kirche mit 9-11 gleich. Eine kleine radikale Gruppe hat in Kaiserslautern allerdings auch für mich demonstriert. »Antideutsche« nennen sie sich. Für die bin ich ein Held. Sie laufen mit Israel-Fahnen umher und mit Schildern, auf denen steht »Bomber Harris, do it again«. Bei der Demonstration für mich hatten sie auch ein Schild dabei, auf dem ich dargestellt war. Der Anführer dieser Gruppe hat mir einen Brief geschrieben, in dem er mir mitteilt, wie stolz er auf das ist, was ich getan habe. Als wär er’s selbst gewesen. Die »Antideutschen« wollen mir helfen. Sie wollen mich auch finanziell unterstützen, zum Beispiel, was die Anwaltskosten angeht. Sie können zur Hölle fahren, wie die Fernsehzuschauer mit ihren »Unmutsäußerungen« und all die anderen guten Deutschen.
Eigentlich hätte sich alles nicht glücklicher fügen können. Irgendwann war die neue F-24 fertig entwickelt, und irgendwann musste getestet werden, ob das Flugzeug die Waffen auch tragen und zur Anwendung bringen konnte, für die es gebaut worden war. Ich hatte Kampf­erfahrung im Irak, ich hatte von der F-15 bis zur F-35 alles geflogen, und den Harrier, die Phantom, den Tornado und den Eurofighter dazu. Das UK hatte die Entwicklung der F-24 maßgeblich mitbezahlt, meine Laufbahn war tadellos, ich komme gut mit den Amerikanern aus, mein Deutsch ist sehr gut, ich war verfügbar. Also wurde ich ausgewählt, zusammen mit Michael. Wir würden die ersten britischen Piloten sein, die mit der F-24 einen simulierten Kampfeinsatz fliegen würden, scharfe Munition inbegriffen. Das hatte irgendwann kommen müssen, und von meinem und Michaels Standpunkt aus waren wir beide die logische Wahl. Dass die Sache in Deutschland steigen sollte, war auch kein Zufall: Die erste europäische Nato-Staffel, die mit dem neuen Flugzeug ausgerüstet wurde, war nun einmal in Spangdahlem, Rheinland-Pfalz stationiert. Und als wir beide an einem verregneten Tag per Helicopter nach Spangdahlem gebracht wurden, dachte ich auch an nichts anderes als an meinen bevorstehenden Einsatz. Ich würde im Simulator geschult werden, zusammen mit Michael einige Flüge mit der F-24 durchführen und dann nach Coningsby zurückkehren, wo ich hingehöre. Das war der Plan.
Die guten Deutschen. Die als Westdeutsche alles vergaßen. Zum Beispiel, dass hauptsächlich wir Briten sie am Verhungern gehindert haben, nach einem Krieg, den sie selber angezettelt hatten. Die nicht wissen wollten, dass deswegen bei uns bis 1951 das Brot rationiert war. Die uns mit ihren Ammenmärchen von 350 000 Toten in Dresden kamen, die uns kommen wollen mit den Lagern im Burenkrieg, anno 1900, wenn man sie an Auschwitz erinnert, und die uns vorwerfen, die Bahnlinien nach Auschwitz nicht bombardiert zu haben, auf denen sie die Juden ins Gas fuhren, die guten, die brillanten Westdeutschen. Supergut waren aber natürlich auch die Ostdeutschen, denen genau so eine Scheiße im Kopf rumging. Die schon während ihres Sozialismus genau dasselbe wollten wie die Westdeutschen, nämlich Weltgeltung, und die nach ihrem Sozialismus erst recht dasselbe wollten wie die Westdeutschen, nämlich alles zurück. Kriege anzetteln, sie verlieren, und trotzdem alles zurück wollen, das ist so die feine deutsche Art, und für mich war der Wiederaufbau dieser Kirche das beste Symbol dafür. Besser und schöner sollte sie sein als vorher, computergenau den alten Plänen nachgebaut, ein Fest des ewigen deutschen Wieder­habenwollens. Wie hat mich das angekotzt. Ich weiß noch, wann ich auf die Idee kam. Es war nach einem der ersten Briefings. Eigentlich eine langweilige Sache, an der hauptsächlich wir, einige Amerikaner und verschiedene Projektleiter, Ingenieure und Experten teilnahmen, die das Flugzeug mitgeplant und gebaut hatten. Die Amerikaner hatten eine Menge Obstsalat am Revers. Uns wurde erzählt, wie toll dieses Flugzeug war, und welche Fähigkeiten es hatte, und dazu wurde eine Karte von Deutschland mit der Reichweite der F-24 an die Wand projiziert, alles von Spangdahlem aus gesehen. Ich bin mir gar nicht sicher, ob Dresden auf dieser Karte überhaupt eingetragen war. Aber am Abend nach dem Briefing forschte ich im Internet nach. Es war möglich. Theoretisch, rein theoretisch konnte man das machen. Man konnte in Google Earth ein Satellitenfoto der Kirche anschauen. Ich hatte etwas gegen sie einzuwenden, ich konnte etwas gegen sie anbringen, eine Sache namens GBU-31. Ich weiß noch genau, was ich in diesem Moment der Disziplinlosigkeit gedacht habe: »Was für eine bescheuerte Idee. Aber lustig.« Dann ging ich schlafen.
In der zweiten Woche, wir waren mitten im Simulatortraining, machten wir einen Ausflug nach Spangdahlem. Die offizielle Begründung für solche Exkursionen ist, dass sie psychologisch förderlich sind, dass sie Lagerkoller und Wagenburgmentalität entgegenwirken können, dass sie ein wenig Tapetenwechsel bieten. Weswegen man uns dann ausgerechnet nach Spangdahlem schleifte und nicht in eine der größeren Städte von Rheinland-Pfalz schickte, ist mir ein Rätsel. Ich bin nicht anfällig für Lagerkoller. Die Airbase in Spangdahlem war nicht Coningsby, bot mir aber Abwechslung genug. Ich bin auch in Coningsby lieber auf dem Flugplatz als daheim, das Militär ist meine Familie, zivile Freunde habe ich ohnehin nicht. Ich habe sie auch noch nie vermisst. Wie dem auch sei, wir machten einen Ausflug nach Spangdahlem. Wir liefen die einzige nennenswerte Straße entlang, die ein bizarres Gemisch aus deutscher und amerikanischer Gemütlichkeit bot, tranken einen Kaffee in einem Diner, sahen uns die Vorgärten an und fühlten uns in all der Trostlosigkeit furchtbar fremd. Eine törichte Alibigeschichte. Die Deutschen hielten Michael und mich für Amerikaner, die Amerikaner wussten, dass wir keine von ihnen waren. Manche grüßten uns, andere zeigten uns die kalte Schulter, die Bedienung in dem Diner war sehr freundlich. Unser Fremdenführer war ein rundlicher USAF-Captain, der schon ewig in der Verwaltung der Air Base arbeitet und außerdem als Sachverständiger für Öffentlichkeitsarbeit doubelt. Er kam auf die Idee, uns die einzige Sehenswürdigkeit des Orts zu zeigen: eine katholische Kapelle aus dem soundsovielten Jahrhundert. Ich wollte nicht schwierig sein, deswegen ging ich mit. Das Kirchlein war arm und klein, die restaurierten Malereien und die »Grablegungsgruppe« wirkten nicht besonders beeindruckend, die Flugblätter am Eingang zur Erklärung der historischen Bedeutung waren kaum lesbar, so oft hatte man Kopien von Kopien der Kopien gezogen. Und dann war da dieser Geruch, den ich an Kirchen noch nie gemocht habe. Von dem ich mir einbilde, dass er in allen Kirchen der Welt gleich ist, egal ob sie nun in England oder in Deutschland stehen, egal welche Sekte verantwortlich zeichnet. Ist es der Weihrauch, sind es die Kerzen, sind es die Gerüche, die viele Menschen in einem Raum nun einmal hinterlassen? Ich weiß es nicht, es ist mir auch gleichgültig. Jedesmal, wenn ich eine Kirche betrete, fühle ich mich danach beschmutzt, als müsste ich duschen, als müsste ich meine Kleider reinigen, genau wegen dieses Geruchs. Ich war nur fünf Minuten in der Spangdahlemer Kapelle, aber danach war meine Laune bei Null. Obwohl ich es zu verbergen versuchte, merkte Michael was. Er fragte mich nach dem Grund. »Ist nicht mein Tag«, war meine Antwort. Ich konnte erst wieder aufatmen, als wir zur Basis zurückkehrten.
Wie gut die F-24 wirklich war, fiel mir besonders im Vergleich zur F-35 auf, die ich immer für eine Fehlkonstruktion gehalten habe. Was ein gutes Flugzeug von einem mittelmäßigen oder gar schlechten unterscheidet, kann man Nichtpiloten nur schwer vermitteln. Vielleicht helfen die Begriffe »Präsenz« und »Reaktionsfreude« weiter. Ein gewisses Gefühl, dass die Maschine da ist, fliegen will. Ich weiß, das klingt nach Mystik, aber zu wissen, dass man sich wegen dieser vibrierenden Präsenz der Maschine auf sie verlassen kann, auf ihre Bereitschaft, das ist eine enorme Erleichterung. Es gibt immer ein Risiko für Piloten, auch ohne Kampfgeschehen. Aber diese Ansprechbarkeit der Maschine, die natürlich auch nichts anderes ist als ein Resultat der Gespräche ihrer Erbauer, mindert das Risiko subjektiv enorm. Es kommt in dieser Hinischt übrigens gar nicht darauf an, wie technisch avanciert ein Flugzeug ist. Ich habe genug verschiedene Typen geflogen, vom Segelflugzeug bis zum Bomber, um das beurteilen zu können. Ich denke, es geht hier um den Unterschied zwischen gutem und schlechtem Design.
Eines hat die Entwicklung der Elektronik allerdings gebracht. Während bis in die späten Achtziger die Piloten von Kampfjets alle drei Sekunden eine Handlung ausführen mussten, um einen Absturz zu verhindern, ist heute der Wert auf 6,5 Sekunden gestiegen. Das macht das Fliegen außerhalb von unmittelbaren Kampfsituationen viel entspannter. Dass die elektronischen Komponenten der F-24 sehr gut aufeinander abgestimmt waren, merkte ich bereits bei den ersten Trainingsflügen. Die F-24 ist das erste Flugzeug, dessen Bordcomputer sinnvoll verbal kommunizieren kann. Zwar irritierte mich beim ersten Flug die seltsam geschlechtslose Stimme etwas, aber später mochte ich sie dann ganz gern. Michael fing bald an, den Bordcomputer seiner F-24 »HAL« zu nennen. Er ist halt ein wenig einfacher gestrickt.
Die GBU-31 ist eine feine Sache. Sie besteht aus einer herkömmlichen Bombe und einem Erweiterungssatz, der sie lenkbar macht. Es ist, als würde man einem dummen Kanister voller Sprengstoff Flügel und ein Nervensystem verpassen, um ihn zu steuern. Wenn man eine normale Bombe abwirft, kann man nur hoffen, dass sie ins Ziel gelangt. Bei der GBU-31 kann man dafür etwas tun.
»Kampfwertsteigerung« – auch das ist so ein schönes deutsches Wort, das mich immer beeindruckt hat. Eine GBU-31 bedeutet eine enorme Kampfwertsteigerung, man kann dann mit der Bombe Sachen machen, die sonst völlig unmöglich wären. Man fliegt sie per GPS ins Ziel. Die Satelliten des GPS-Systems sagen der Bombe nach dem Abwurf immer wieder, wo genau sie ist. Und wenn sie von ihrem Kurs abweicht, korrigiert sie sich anhand der GPS-Daten, bis alles wieder passt. Einen Kreis mit dem Durchmesser von zehn Metern trifft man damit in jedem Fall. Für ein Ziel von der Größe der Frauenkirche reichte das völlig aus.
Manche Gefechtsköpfe für GBU-31-Bomben sind mit Penetratoren aus abgereichertem Uran ausgerüstet. Damit kann man Bunker bekämpfen, die tief vergraben sind und sehr dicke Wände haben. Das Ergebnis sind zerstörte Bunker. In den Kratern könnte man ganze Wohnblocks versenken. Ich wusste das, weil ich mit Bomben dieser Art Ziele im Irak bekämpft habe. Abhängig von der Flughöhe und der gewählten Steuerungsart kann man eine GBU-31 bis zu 24 Kilometer entfernt vom Ziel abwerfen.
Die F-24 findet auch deswegen meinen Beifall, weil sie vier GBU-31 in ihrem schlanken Leib so verpacken kann, dass ihre Radartarnung nicht leidet. Sie erreicht dann natürlich nicht mehr ihre Höchstgeschwindigkeit, und die Reichweite nimmt ab, aber man könnte das Flugzeug in dieser Konfiguration dann immer noch als »Tarnkappen-Jagdbomber« bezeichnen.
Ich sage das niemandem, aber ich hätte einmal gern Astronaut werden wollen. Das ist trivial, das wollen alle Jungs. Meine Mutter wollte es mir ausreden, wegen der Gefahr, dass ich in einer Rakete verbrennen könnte. Sie hatte einst den Apollo-Unfall von Chaffee, White und Grissom 1967 sehr deutlich mitbekommen und war schockiert, als ich, ihr einziges Kind, einen Berufswunsch äußerte, der mich in die Nähe der Verunglückten rückte. Ich musste ihr versprechen, dass ich das nicht weiter verfolgen würde, als Zehnjähriger musste ich ihr das klipp und klar versprechen. Als ich Pilot wurde, wusste sie genau, dass das ein Kompromiss zwischen meinem Wunsch und meinem Versprechen war. Sie sagte dazu nichts, aber sie wusste es, und ich merkte ihr an, dass sie es wusste. In den ersten Jahren äußerte sie immer wieder die Sorge, ich könnte eines Tages verbrennen. Bis ich eines Tages mit ihr darüber sprach. Ich sagte:
»Ja, ich kann verbrennen. Das ist eine tatsächliche Gefahr für Düsenjägerpiloten. Und jetzt möchte ich nie wieder darüber sprechen.«
Das akzeptierte sie.
Man kann mit verschieden Düsenjägern fast bis an die Grenzen des Weltalls vorstoßen. Mit der MIG 25 zum Beispiel, die als Höhenjäger gebaut worden ist. Sie hält immer noch den Höhenrekord von 37 650 Metern. So hoch bin ich nie gekommen. Aber auch in 20 Kilometern Höhe sieht man die Erdkrümmung schon sehr deutlich. Bei Nachtflügen, wenn alles glatt lief, vor allem, wenn die Mission bereits beendet war, da hatte ich über den erleuchteten Städten oder über den Wüsten und Gebirgen manchmal das Gefühl, in einer Raumkapsel zu sitzen und die Erde zu umrunden. Wie Gagarin. So war es auch bei den ersten Nachtflügen mit der F-24, bei denen wir probeweise bis zur Gipfelhöhe der Maschine anstiegen (21 200 Meter). Das ging nur, weil wir da noch unbewaffnet waren. Wie gesagt, man konnte mit der Maschine nahezu sinnvolle Gespräche über alle Aspekte der Mission führen. Dies und die Tatsache, dass man in einer F-24 weniger zu tun hat als in älteren Maschinen, verstärkte den Raumkapsel-Eindruck noch.
Ob man es glaubt oder nicht: Bis zum vierten Flug, der endlich mit voller Bewaffnung stattfand, hatte ich mich noch nicht endgültig entschieden. Mein Plan war bis dahin immer noch ein geistiges Spielzeug, das ich in meinen Tagträumen von der einen Ecke des Zimmers in die andere warf, ohne mich je richtig damit anzufreunden. Von einem festen Entschluss konnte bis zu einem bestimmten Zeitpunkt keine Rede sein. Wir stiegen etwa um 2.15 Uhr auf. Die Nacht war klar, unter den Sternen hatte ich wieder mein Astronautengefühl. Eine simple Mission: Wir sollten ein imaginäres Ziel in der Nähe des Fulda Gaps angreifen (manchmal sind Militärs einfach zu konservativ) und danach zurückkehren, damit die Daten des simulierten Angriffs in unseren Bordcomputern analysiert werden konnten. Nach 21 Minuten hatten wir uns dem Ziel genug genähert, um auf Angriffshöhe zu gehen, und flogen es direkt an. Und ganz kurz bevor der simulierte Bombenabwurf stattfinden sollte, traf ich die Entscheidung. Die F-24 ist eine fabelhafte Sache, wie ich schon gesagt habe, aber sie ist kein Wunderding. Mit den insgesamt vier scharfen GBU-31, die ich an Bord hatte, konnte ich wohl vom Fulda-Gap wieder nach Spangdahlem zurückkehren, aber nicht von Dresden aus. Und weil ich die Maschine sicher wieder nach Spangdahlem zurückfliegen wollte – für eine F-24 könnte man sich zwei Frauenkirchen kaufen – und weil ich auf keinen Fall auf einem deutschen Flugplatz notlanden wollte, musste ich so viel Gewicht wie möglich loswerden. Was lag näher, als bei dem simulierten Angriff die Dinger tatsächlich abzuwerfen? Ich befahl dem Bordcomputer, die Bomben zu sichern und dennoch für einen Abwurf vorzubereiten. Das war ein kritischer Moment. Denn bei allen Simulationen und Testflügen war uns eine Sache nicht wirklich mitgeteilt worden: Wie weit genau ging die Autonomie des Piloten gegenüber dem Bordcomputer eigentlich? Ich hatte gute Gründe anzunehmen, dass der Pilot letztendlich das Sagen hatte; vor allem im militärischen Bereich hat man mit Computern, die zu viel auf zu hohen Ebenen selbst kontrollieren, sehr schlechte Erfahrungen gemacht, so dass bis heute am roten Knopf immer ein Mensch sitzt und entscheidet. Und nachdem meine F-24 gegen den Befehl milde protestiert und darauf hingewiesen hatte, dass sie jede meiner Handlungen speichere, gehorchte sie. Meine Bomben sollten genau den Punkt treffen, der in der Trainingsmission als Ziel vorgesehen war, und mein Computer bestätigte mir, dass alles nach Plan lief. Ich konnte die Trajektorie der Geschosse in meinem Helmvisier bis zum Aufschlag verfolgen. Die Gefechtsköpfe waren, wie schon gesagt, nicht armiert, aber eine der Bomben zündete trotzdem und machte ein tiefes Loch in einen thüringischen Acker. Danach kehrte ich natürlich nicht um wie vorgesehen – der Computer warnte mich vorschriftsmäßig –, sondern änderte meinen Kurs von Richtung Ost-Nordost auf Ost. Fünf Sekunden später meldete sich Michael. Ich konnte ihn so deutlich hören, als sitze er neben mir.
»Paveway1 an Paveway2. Alles klar bei dir? Wenn ich das richtig interpretiere, dann hast du gerade zwei deiner GBU-31 abgeworfen und folgst jetzt einem geänderten Kurs Richtung Ost. Gibt’s da irgendwas, das ich wissen sollte?«
Ich antwortete nicht. Michael versuchte es noch mehrmals, aber ich antwortete trotzdem nicht. Zwei Minuten später, beeindruckend schnell, wie ich fand, meldete sich jemand anders.
»Hier Colonel Peter Browne, Wing Commander 52 Fighter Wing, Spangdahlem Airbase. Wenn das ein Scherz sein soll, Squadron Leader Ingram, dann ist er Ihnen gelungen. Wir lachen hier alle Tränen. Ich befehle Ihnen, sofort umzukehren. Flight Lieutenant Hurst wird sie hierher zurückgeleiten, und Sie werden genau das tun, was er Ihnen sagt. Wir sehen uns vor dem Kriegsgericht. Haben Sie mich verstanden?«
Auch meinem temporären amerikanischen Vorgesetzten antwortete ich nicht. Er hätte mich nur in ein Gespräch verwickeln wollen, um Informationen über meine Pläne aus mir herauszuholen, oder um mir weiter zu drohen. Aber all seine Drohungen waren leer, und das wusste er. Ich war jetzt zwei Tonnen leichter als Michael, das machte mich schneller und wendiger als er, und außerdem war ich der bessere Pilot. In jeder Sekunde fiel er weiter hinter mich zurück, sein Treibstoffvorrat schmolz nur so dahin, und die Chancen standen gut, dass er einen Abschussbefehl ohnehin nicht ohne Weiteres befolgen würde. Ich wappnete mich für den Fall, dass ich mich in dieser Einschätzung irrte. Ich irrte mich nicht, 10 Minuten vor Dresden war ich außer Michaels Reichweite. Ich kappte die Funkverbindungen nach außen völlig. Fünf Minuten später tauchten zwei Punkte auf meinem Schirm auf, deren Kurs den meinen schnitt. Sie schwenkten nicht auf einen typischen Abfangkurs ein, aber das konnte eine Finte sein. Ich bat meine F-24 um eine Einschätzung, und sie antwortete, dass das höchstwahrscheinlich zwei deutsche Jäger während einer Nachtübung seien. Entweder die veralteten Tornados, oder neuere und viel gefährlichere Eurofighter. Für MIGs würde ich unsichtbar sein, bei Eurofightern war ich mir da nicht so sicher.
»Wollen Sie die gegnerischen Ziele bekämpfen?« fragte mich der Computer mit seiner unaufgeregten androgynen Stimme.
»Nein«, sagte ich.
»Gut. Aber ich muss Sie darauf hinweisen, dass unter den derzeitigen Bedingungen in 3 Minuten und 11 Sekunden eine Rückkehr nach Spangdahlem ausgeschlossen sein wird.«
»Kein Problem«, entgegnete ich, »wir werden bald noch zwei Tonnen leichter sein.«
Die beiden deutschen Jäger verschwanden wieder von meinem Helmdisplay, sie hatten mich offenbar nicht einmal bemerkt.
Der Bordcomputer machte alles richtig. Er hatte natürlich die aktuellen Satellitenkarten aller deutschen Städte geladen, und der rote Punkt auf der Karte von Dresden pulsierte genau dort, wo ich das wollte. In flimmerndem Orange stand »Frauenk.« darüber, und: N51° 3' 8.939" E13° 44' 34.706". Meine Chancen standen gut. Ich bezweifelte, dass man auch nur daran gedacht hatte, das GPS-System wegen mir lahmzulegen. Das war technisch möglich, aber hochgradig unwahrscheinlich. GPS war so wichtig für die Welt geworden, dass man es nicht einfach willentlich zum Erliegen brachte, und außerdem ging das gar nicht so schnell.
Man kann argumentieren, dass im Kalten Krieg bei einem ernsthaften Raketenangriff in viel kürzerer Zeit über den nuklearen Gegenschlag entschieden worden wäre, aber das gehörte zum Design des Abschreckungssystems. Der Fall, den ich gerade im Begriff war vorzuführen, gehörte definitiv nicht dazu. Der Computer ließ die Bomben prüfen, ob ihre GPS-Verbindung stand. Sie meldeten zurück, dass alles in Ordnung war. Ich näherte mich schnell dem optimalen Wurfpunkt. Ich war relativ sicher, dass meine Bomben nicht in einen Dresdner Wohnblock einschlagen würden. Der Computer zählte den Countdown herunter, und im entscheidenden Moment sagte ich: »Abwurf«.
Ich hatte nicht ganz die Maximaldistanz von 24 Kilometern gewählt, dafür flog ich zu tief. Ich legte den Rest der Strecke in weniger als 30 Sekunden zurück. Die Bomben brauchten ein paar Sekunden länger, sie flogen ja ohne Antrieb. Es ist ein seltsamer Gedanke, dass Herman tot war, als ich auslöste. Er hatte da noch eine halbe Minute zu leben, aber er war tot.
Ich wendete über den östlichen Vorstädten Dresdens. Der Computer bestätigte, dass ich mein Ziel getroffen haben musste, auch schon rein visuell konnte ich trotz meiner Geschwindigkeit erkennen, dass dort, wo die Frauenkirche gewesen war, ein Brand wütete. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass Herman kurz vor dem Einschlag meiner Bomben auf dem Nachhauseweg gewesen war. Beim Versuch, sein Auto aufzusperren, das in der Nähe der Frauenkirche geparkt war, schlugen die Bomben ein, und er war zu nahe dran. Was würde ein deutsches Gericht daraus machen, wenn es mich in die Finger bekäme? Mord, ohne Frage. Ich habe mich erkundigt. Nach deutschem Recht ist ein Mörder, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.
Als Dresden schon wieder hinter mir lag, meldete ich mich bei der Airbase zurück. Ich sagte, ich hätte gerade die Dresdener Frauenkirche zerstört und wolle nun unverzüglich nach Spangdahlem zurückkehren, mein Treibstoff reiche dafür gerade noch aus. Es dauerte eine Weile, bis eine Antwort kam.
»Sie Riesenarschloch«, sagte Browne ruhig. »Im Moment sind neun Maschinen in der Luft, die Sie alle auf dem Schirm haben. Wenn Sie noch irgendwelche Zicken machen, zum Beispiel ihren Kurs ändern, oder Ihr Zielerfassungsradar einschalten, lasse ich Sie vom Himmel holen. Beim Fulda-Gap warten zwei unserer eigenen Maschinen auf Sie. Die Piloten haben Befehl, Sie ohne Vorwarnung abzuschießen, falls Sie noch ein krummes Ding drehen wollen. Over and out.«
Ich konnte ja verstehen, dass er wütend war. Bald sah ich die elf Punkte auf meinem Helmdisplay. Ich traf die beiden Kameraden am Fulda Gap und flog mit ihnen nach Hause. Kurz vor der Ankunft in Spangdahlem ging mir der Sprit aus. Ich sagte meinem Geleitschutz davon nichts, um ihn nicht zu einer dummen Reaktion zu provozieren. Ich landete das Flugzeug trocken auf dem Rollfeld. Die Militärpolizei holte mich ab.
Dann wurde ich nach Ramstein gebracht, und der Tanz begann. Ein Verhör nach dem anderen. Trotz meiner langjährigen militärischen Karriere hatte ich gar nicht gewusst, wie viele Geheimdienste es gab, die ein Interesse an meiner Tat und meinen Motiven haben konnten. Und alles immer dreifach: amerikanisch, britisch, deutsch. Gaben sich gegenseitig die Klinke in die Hand. Sie wollten wissen, mit wem ich zusammengearbeitet hatte (Michael wurde für ein paar Tage auch inhaftiert). Was war das für eine Frage? Letztlich hatte ich mit der gesamten Royal Air Force und der United States Air Force zusammengearbeitet, um die Kirche zu bombardieren. Man unterstellte mir, ich hätte im Irak Kontakt zur al-Quaida aufgenommen. Ich lachte. Jedes einzelne meiner Besitzstücke wurde vor mir ausgebreitet. Man versuchte Verbindungen herzustellen, man wollte sehen, wie ich reagierte, wenn man ein Foto meiner Mutter auf den Tisch legte und mir die Frage stellte: »Was würde wohl ihre Mutter dazu sagen?« Die Ermittler lasen in meinem Kram wie Schamanen in den Innereien von Schlachttieren. Und sie fanden genauso wenig über die Vergangenheit heraus, wie die Schamanen über die Zukunft. Anderes war weniger lustig. Man wandte bei mir die Alice-in-Wonderland-Strategie an und stellte mir bizarrste Behauptungen auf: Ich hätte die deutsche Kanzlerin ermorden wollen, ich sei gar nicht die Person, für die ich mich selber hielte, sondern ein hirngewaschener, vor Jahrzehnten gepflanzter Schläfer, ich hätte gar nicht die Kirche zerstört, sondern eine Dresdener Jugendherberge. Man zeigte mir sogar Fotos von den jugendlichen Leichen meiner Opfer. Ich musste mich an Schulungen erinnern, die ich als Pilot erhalten hatte, um solchen Verhörtricks den größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen. Diese Schulungen waren Teil eines Antifoltertrainings während meiner Pilotenausbildung gewesen und nützten mir jetzt sehr. So sehr, dass die Spinner nach ein paar Tagen ihre kleinen Manipulationen aufgaben. Danach arbeiteten sich wieder die Vertreter anderer Dienste an mir ab. Ihnen folgten die Psychiater, die feststellen sollten, ob ich nicht vielleicht wirklich verrückt war. Dann wollte man sogar einigen Journalisten gestatten, mich zu interviewen. Das lehnte ich ab. Als einer es trotzdem versuchte, drehte ich ihm den Rücken zu und sprach kein Wort. Allen anderen gab ich auf die Frage, warum ich die Kirche bombardiert hatte, immer dieselbe Antwort: dass sie als Ruine am meisten Sinn macht.
Jetzt lassen sie mich die meiste Zeit in Ruhe. Sie sind wohl zu der Überzeugung gekommen, dass sie mich für einen geistig gesunden, politisch unbeeinflussten Einzeltäter halten müssen. Ich warte jetzt auf meine Prozesse, die militär- und den strafrechtlichen. Da ich immer gespart habe, kann ich mir jetzt, nachdem mir das gestattet wurde, einen guten zivilen Anwalt leisten. Ich bekomme viele positive Zuschriften von Veteranen des Zweiten Weltkriegs, sogar aus Russland, und auch Deutsche beglückwünschen mich für meine Tat. Allerdings bekomme ich von Deutschen hauptsächlich Hasspost. Ich habe nichts anderes erwartet. Ich sehe viel fern. Meistens Spielfilme oder Dokumentationen zur Zeitgeschichte.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Marcus Hammerschmitt: Nachtflug. Erzählungen. Shayol-Verlag, Berlin 2012, 254 Seiten, 17,90 Euro. Das Buch ­erscheint dieser Tage.